Alpsegen

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7

Selma trat in die Nacht hinaus und schloss leise die Hüttentüre. «Andres, bist du draussen?»

Sie erhielt keine Antwort. Sie ging einige Schritte, blieb stehen und schaute zum Himmel hinauf. Millionen von Sternen funkelten, die Milchstrasse war deutlich zu erkennen.

Selma ging zu ihrem Rucksack, der immer noch vor der Hütte stand, und holte die grosse Kamera und das Stativ. Dann positionierte sie sich rund fünfzig Meter vor der Hütte, montierte die Kamera auf dem Stativ und wählte im Sucher den Bildausschnitt. Die Hütte mit dem hell erleuchteten Küchenfenster, dahinter der Bergkamm und über allem der glasklare Sternenhimmel. Selma drückte immer wieder auf den Auslöser und veränderte dabei Blende und Belichtungszeit. So sollte ein perfektes Bild gelingen.

Selma war ganz in ihre Arbeit vertieft, als plötzlich hechelnd der schwarze Hund angerannt kam und voller Freude wedelte.

«Hei, hei, du Streuner, ganz allein unterwegs?»

«Nein», hörte Selma eine Männerstimme sagen.

«Andres?»

Plötzlich stand er vor ihr.

«Andres, da bist du ja! Warst du spazieren?»

«Ich heisse Res. Andres gibt es nicht mehr.»

«Verstehe. Res. Ich werde mich daran gewöhnen müssen. Für mich warst du halt der Andres, damals.»

«Damals ist lange her, Selma. Sehr, sehr lange.»

Selma fuhr sich mit den Händen durch die Haare: «Wie geht es dir?»

«Gut.»

Die Reporterin machte noch einige Aufnahmen, packte dann das Stativ mitsamt Kamera und sagte: «Setzen wir uns kurz vor die Hütte?»

Res antwortete nicht. Selma ging zum Haus, stellte die Kamera ab und setzte sich auf die Bank. Sofort stupste der schwarze Hund Selmas Hand und blickte sie treuherzig an. Selma streichelte ihn. «Wie heisst du denn, mein Lieber?»

«Kobi», sagte Res.

«Du hast einen wirklich tollen Hund», sagte Selma und lächelte Res an.

«Es ist nicht mein Hund. Es ist unser Hund.» Res setzte sich nun ebenfalls auf die Bank, allerdings mit grossem Abstand zu Selma.

«Kobi, du bist ein süsser Hund», sagte Selma und knuddelte ihn. Als sie ihn losliess, stupste er sie gleich wieder. Selma vergrub ihre Hände im schwarzen Fell des Hundes und massierte seinen Nacken. Manchmal blitzten ihre beiden silbernen Ringe hervor. Jener am linken kleinen Finger etwas heller als der geflochtene Ring an ihrem rechten Ringfinger, da er mit feinen Diamanten besetzt war. Kobi schien die Massage zu geniessen und schloss die Augen.

«Weisst du, Res, mir sind so viele Erlebnisse in den Sinn gekommen, als ich heute angereist bin», sagte Selma nach einer Weile. «All die Wanderungen! Aber vor allem die tollen Skitage mit deiner Mutter. Wann kommt Edith auf den Berg?»

Selma erhielt keine Antwort. Res starrte geradeaus in die Nacht. Die Stille empfand Selma als äusserst beklemmend. Zum Glück war Kobi da, den Selma massieren und streicheln konnte.

Nach einigen Minuten nahm die Reporterin erneut einen Anlauf, um ein Gespräch in Gang zu bringen: «Es ist wirklich Zufall, dass ich diesen Auftrag erhalten habe. Als ich dann sah, dass die Alp, auf der ich die Reportage machen sollte, von einer Familie Kohler bewirtschaftet wird, dachte ich schon, dass es möglicherweise ihr seid. Jedenfalls freue ich mich sehr, euch alle wieder zu sehen.»

Res antwortete auch jetzt nicht. Reglos starrte er in die Nacht.

Hatte sie etwas Falsches gesagt oder gefragt? Was war mit Res passiert? Sie hatte ihn gesprächiger in Erinnerung. Scheu war er allerdings schon damals, aber nur am Anfang. «Wie sind eigentlich all die Tiere auf die Alp gekommen?», wollte Selma wissen und hoffte, mit dieser sachlichen Frage Res’ Schüchternheit zu überwinden.

«Alpaufzug», antwortete Res. «Zu Fuss. Nur die Ferkel haben wir in Kisten mit der Transportbahn und dem Schilter hinaufgefahren.»

Ob das wirklich eine gute Idee war mit dem Alpabzug, auf den Selma sich schon gefreut hatte. Er erschien ihr gerade äusserst anstrengend. Aber sie war mittlerweile auch müde.

Plötzlich wurde die Hüttentüre aufgerissen.

«Da seid ihr ja!», rief Martina und setzte sich mit einem Seufzer zwischen Selma und Res. Kobi ging nun zu ihr und holte von Martina seine Streicheleinheiten ab.

«Jetzt bin ich auch endlich fertig. Der Tag war lang. Runter nach Gstaad, einkaufen, zur Kräuteralp, dann zurück, hochsteigen und noch alles zu uns schleppen.»

«Hättest ja den Schilter benutzen können», warf Res mürrisch ein.

«Mit diesem klapprigen Trecker fahre ich nicht. Da schlepp ich lieber.»

«Konnte dir leider nicht helfen», sagte Selma. «Ich war selbst schwer beladen.»

«Ich bin ja stark», lachte Martina und spannte ihre Oberarmmuskeln an. Dann schmiegte sie sich an Selma: «Finde es total schön, dass du hier bist.» Sie löste sich von Selma und wandte sich Res zu: «Das wird sicher eine tolle Geschichte, nicht wahr?» Sie tätschelte sanft seinen Oberschenkel.

«Wir brauchen das Geld», murrte Res.

«Geld?», fragte Martina erstaunt.

«Ja, Geld. Die Versicherung, für die wir dieses Kasperlitheater machen, bezahlt uns ein gutes Honorar und gewährt uns sogar einen Prämienrabatt.»

«Ach, komm, Res, das macht doch Spass! Wir sind schliesslich ein Spitzenteam. Jetzt werden wir Stars.»

Res stand auf und verzog sich wortlos in die Hütte.

Martina seufzte erneut. Dieses Mal sehr viel tiefer. «Ich muss ins Bett, Selma. Kommst du auch? Hast du unser Zimmer schon gefunden?»

«Nein, ich kam noch nicht dazu.»

«Na komm, dann helfe ich dir, dein Zeugs hochtragen. Zeige dir auch gleich das Badezimmer. Und die Toilette ist neben dem Schweinestall. Hast du sicher schon gefunden …»

«Ja, gut. Danke. Ich komme gleich», sagte Selma.

«Wir haben ein reines Mädchenzimmer, da können wir noch ein bisschen quatschen, wie früher in den Klassenlagern.» Martina lächelte. Ihre blauen Augen funkelten. Sie stand auf, schickte Kobi in die Hütte, packte Selmas Sachen und stapfte mit ihnen die Aussentreppe in den oberen Stock hinauf.

Selma blieb noch einen Moment sitzen, stand dann auf und machte ein paar Schritte. Sie dachte an Haberers Worte: «Heile Welt. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang. Kühe. Käse. Naturverbundene, schöne Menschen. Und fröhlich müssen sie sein.»

«Fröhlich», sinnierte Selma leise. «Wenn hier oben bloss alle so fröhlich wären wie Martina.»

8

Aus dem geplanten Mädchengespräch wurde nichts. Als Selma mit ihrer Handy-Taschenlampe ins Zimmer schlich, schlief Martina bereits tief und fest. Selma nahm ihre beiden Ringe von den Fingern und verstaute sie in einer kleinen Schachtel in ihrem Handtaschenrucksack. Dann zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus, zitterte vor Kälte und huschte unter die rot-weiss karierte Decke. Das Bett knarrte. Es war zu schmal. Und vor allem zu kurz. Zumindest für Selma. Entweder schauten die Füsse unten heraus, oder sie berührte mit dem Kopf die Wand. Selma entschied sich für die dritte Variante, drehte sich auf die Seite und winkelte ihre langen Beine an. Sie hörte Martinas ruhigen Atem und schlief ebenfalls bald ein.

Sie erwachte, weil die Ferkel quietschten. Selma setzte sich auf, neigte sich zum Fenster vor, schob den zur Bettdecke passenden rot-weissen Vorhang etwas zur Seite und linste hinaus. Sie konnte gut die Weiden, die Hochebene, ja sogar die Berge erkennen. Offenbar war der Mond aufgegangen. Sie überlegte kurz, ob sie nochmals zum Fotografieren hinausgehen sollte. Doch sie verwarf den Gedanken, da sie viel zu müde war. Die Ferkel beruhigten sich. Selma suchte mit ihren Augen angestrengt die nähere Umgebung ab. War vielleicht ein Fuchs oder gar ein Wolf oder sonst ein Tier unterwegs, das die Ferkel aufgeschreckt hatte? Oder war es ganz normal, dass junge Schweine mitten in der Nacht quiekten? Jedenfalls konnte sie weder ein Tier erkennen, das herumschlich, noch einen Menschen. Einen Menschen? Ein etwas bedrohlicher Gedanke. Andererseits: Was sollte ein Mensch hier oben mitten in der Nacht schon wollen?

Selma legte sich wieder hin und zog die Decke zurecht. Sie schloss die Augen.

Dann hörte sie ein seltsames Knarren. Ein Klopfen. Wieder ein Knarren. Schritte.

Selma schreckte auf. Horchte ganz genau. Doch nun war alles wieder still, Selma vernahm nur Martinas Atem. Holz verzieht sich und knarrt deshalb, sagte sie sich und kuschelte sich wieder ein. Zudem kenne ich die Geräusche hier oben auf der Alp noch nicht. Sie sind neu. Zu Hause in Basel gibt es ja auch immer wieder seltsame Geräusche und Schritte. Aus dem geheimnisvollen zweiten Stock.

Doch es half alles nichts. Selma konnte nicht einschlafen. Nach einiger Zeit schaute sie auf ihr Handy. Es war kurz nach zwei Uhr. Das Smartphone zeigte auch an, dass der Akku bald leer sein würde. Ich muss es am Morgen aufladen, nahm sie sich vor. Allerdings fragte sie sich, wo. Hatte die Hütte überhaupt Strom? Muss sie haben, schliesslich hatte in der Küche Licht gebrannt. Und die Melkmaschine … ach ja, der Generator hinten in der Scheune, fiel Selma ein. Der Generator und das kaputte Abgasrohr! Also gab es sicher irgendwo eine Steckdose. Und wenn nicht, wäre das auch nicht schlimm. Wobei die Akkus der Kamera auch Strom … Langsam verloren sich Selmas Gedanken.

Als sie erneut erwachte, blickte sie in ein lächelndes Gesicht und grosse blaue Augen.

«Guten Morgen, Selma», flüsterte Martina. «Gut geschlafen?»

«Hei», brachte Selma knapp hervor.

«Es geht los. Kommst du mit? Wir treiben die Kühe von der Weide in den Stall.»

Selma war plötzlich hellwach: «Klar, gib mir fünf Minuten. Und vielleicht einen Kaffee.»

«Kaffee gibt es später. Dann aber mit frischer Milch.»

 

«Na dann.» Selma wuschelte ihre Haare, strich sie glatt und band sie mit einem Haargummi streng zusammen.

Es kam selten vor, dass Selma schon frühmorgens schwitzte. Sie ging die Tage gerne langsam an, brauchte jeweils viel Zeit, um sich und ihre Gedanken zu ordnen. Und ihre Haare. Sie hatte einen Haartick, das war ihr bewusst. Zum Glück hatte Lea ihren Salon gleich in Selmas Haus «Zem Syydebändel».

Selma brauchte vor allem Kaffee. Am liebsten einen mittelstarken Filterkaffee mit viel Milch. In dieser Hinsicht war sie ganz schwedisch aufgewachsen und erzogen worden. Die damals sündhaft teure Espressomaschine war ausschliesslich dem Vater vorbehalten gewesen.

Doch nun rannte Selma ohne Kaffee bergauf und bergab. Sie fotografierte, wie Martina, Res, Stefan und Hund Kobi die Kühe zusammentrieben. Das Licht der Morgendämmerung war einzigartig, zudem stand der halbvolle Mond über der Bergsilhouette. Immer wieder stellte Selma die Kamera auf Videofunktion und machte einige Filmaufnahmen. Es war wunderschön. Fast kitschig. Genauso hatte sich Selma das vorgestellt.

Manchmal hörte sie den Pfiff eines Murmeltieres. Dann blieb sie stehen, schaute um sich und hoffte, dass sie das Murmeltier fotografieren könne. Doch meistens sah sie es nicht. Oder es war viel zu weit entfernt. Plötzlich entdeckte die Reporterin beim Niesehorn Gämsen. Aber auch sie waren viel zu weit weg, um ein gutes Foto machen zu können. Selma freute sich trotzdem über das Schauspiel in der Bergwelt. Und hatte Lust, sich der Kunst der Tierfotografie zu widmen, sich stunden- oder tagelang in einem Versteck auf die Lauer zu legen.

Kühe zu fotografieren war wesentlich einfacher. Gemächlich trotteten sie in den Stall und gingen zielstrebig zu ihren Plätzen, über denen kleine Tafeln mit ihren Namen hingen. Papa Kohler musste die Tiere nur noch mit den Stricken anbinden.

«Finden die Kühe ihren Platz immer allein?», fragte Selma, die in die viel zu grossen Stiefel stieg, die ihr Martina gegeben hatte. Auch der blaue Overall war ihr einiges zu gross.

Der Alte antwortete nicht.

Als die fünfundzwanzig Kühe im Stall angebunden waren, begannen die Kohler-Männer mit dem Melken. Selma fotografierte. Oder versuchte es. Die Männer drehten sich immer von ihr weg. Und wenn sie fragte, ob sie kurz zu ihr schauen könnten, verzogen sie keine Miene.

Die Männer schleppten die Kannen in die Hütte und leerten die Milch ins Käsekessi. Martina feuerte an. Selma machte viele Aufnahmen. Und im Gegensatz zu den Männern posierte Martina gerne vor der Kamera. Selma musste sie eher bremsen.

«Res!», meinte Martina, als dieser gerade seine Milch ins Kessi leerte. «Du musst lächeln.» Sie packte ihn am Arm und posierte mit ihm für Selma. Das waren zwar keine Szenen, die Selma für ihre Reportage brauchte, aber vielleicht halfen sie ja, das Eis zu brechen. Als Selma sah, dass Res Martina etwas ins Ohr flüsterte, wandte sie sich ab. Allerdings bemerkte sie im Augenwinkel, wie Martina Res über den Rücken strich, ihre Hand über seine Hüfte gleiten liess, ihm schliesslich an den Po fasste und so tat, als rücke sie ihm den einbeinigen Melkstuhl zurecht.

9

Nach dem Melken gab es endlich Kaffee. Es gab sogar ein richtiges Frühstück. Natürlich war es Martina, die alles vorbereitet hatte.

Der Kaffee schmeckte gut. Es war zwar kein Filterkaffee, sondern Pulverkaffee mit Zichorie. Aber das war für Selma in Ordnung. Sie kannte die Mischung Kaffee und Zichorie von ihrer Mutter.

Die Männer assen Brot, Butter, Konfitüre, Honig. Und natürlich Käse. Selma kostete ein Stück. Es schmeckte würzig herb. Sie glaubte tatsächlich, die Kräuter, die ihr Martina beim Aufstieg zu riechen gegeben hatte, herauszuschmecken. Martina erklärte stolz, dass das ihr Bergkäse vom letzten Jahr sei. Sie selbst ass keinen, sondern löffelte ein Müsli mit frischer Milch.

«Rösti …», fragte Selma zögerlich, «… also Rösti gibt es heute auch nicht mehr zum Frühstück, oder?» Sie lächelte etwas verlegen und fügte hinzu: «Ist so eine dämliche Klischeefrage einer Stadttussi, was?»

Dass sie von den Männern keine Antwort erhielt, wunderte Selma mittlerweile nicht mehr. Dass allerdings auch Martina schwieg, erstaunte sie. Irgendetwas schien sie plötzlich zu beschäftigen. Selma versuchte ebenfalls ein Müsli zu essen. Aber die Flocken blieben ihr im Hals stecken. Die bedrückende Stimmung machte ihr zu schaffen. Dabei wäre doch alles so schön hier oben in den Bergen. Gerade schienen die ersten Sonnenstrahlen durchs Küchenfenster.

Selma goss sich einen zweiten Kaffee ein. «Ich habe noch so eine Tussi-Frage», sagte sie. «Gibt es hier irgendwo eine Steckdose?»

Die drei Männer starrten sie an. «Für einen Fön?», fragte Stefan.

Selma lachte. Dann sagte sie: «Nein, für das Handy. Und allenfalls für die Akkus meiner Kameras.»

«Ja», murrte Res. «Aber nur wenn der Generator läuft.»

Die Männer frühstückten weiter. Selma umklammerte die heisse Kaffeetasse. Sie fühlte sich unwohl.

«Ich zeige dir die Steckdosen später», sagte nun Martina. «Aber jetzt muss ich käsen.» Sie stand auf, zwirbelte ihre langen Haare zu einem Dutt zusammen, zog einen weissen Gummischurz an und ging in die Käseküche. Auch die Männer standen auf und verschwanden. Selma begann, die Teller und Tassen abzuwaschen und die Nahrungsmittel zu versorgen. Schnell stellte sie fest, dass alles seine Ordnung hatte, dass die Kästchen sauber waren und dass selbst die offene Biskuitpackung, die am Vortag aufgerissen auf dem Tisch gelegen hatte, mit einer Alufolie und einem Gummi sorgfältig verschlossen aufbewahrt wurde. Offenbar war Martina die einzige, die aufräumte und putzte. Das Chaos in der Küche hatten die Männer angerichtet, während Martina zum Einkauf ins Dorf gefahren war.

Die Milch im Käsekessi dampfte. Martina rührte und überprüfte immer wieder die Temperatur mit einem Thermometer.

«Hei», sagte Selma. «Das Käsen musste du mir dann genau erklären. Vor allem muss ich fotografieren. Aber heute gehe ich erst einmal raus, das Licht ist gerade so wunderschön. Wer weiss, wie lange das Wetter hält?»

Martina lächelte sie nur kurz an.

Selma trat ins Freie. Hund Kobi kam sofort auf sie zugerannt. Die Reporterin begrüsste ihn wohl zum zehnten Mal an diesem Morgen. Er hatte ein feuchtes Fell. Er hatte sich sicher im nassen Gras gewälzt. Der Tau glitzerte magisch. Selma rannte ins Mädchenzimmer und holte ihre Drohne. Da der Akku des Handys noch nicht ganz leer war, verband sie die Drohne mit ihrem Smartphone und machte damit Luftaufnahmen. Selma war begeistert.

Auf dem kleinen Bildschirm entdeckte sie plötzlich Stefan. Er war hinter der Hütte und hackte Holz. Und Res kam immer wieder mit der Schubkarre aus dem Stall und fuhr zum Misthaufen.

Selma liess die Drohne landen, packte alles zusammen und schlenderte zum Stall. Res schob gerade wieder eine volle Mistkarre hinaus.

«Hei, Res!», sagte Selma energisch und stellte sich ihm in den Weg. «Was ist los mit euch?»

«Ich muss arbeiten.»

«Ach, Res. Irgendwas stimmt doch nicht. Papa Noldi redet nicht mit mir, Stefan wirkte richtig geschockt, als er mich sah. Und du murrst mich nur an. Früher hast du so viel gelacht …»

«Das war früher, Selma», sagte Res und stellte die Schubkarre ab. «Das war früher.»

«Ist etwas mit eurer Mama? Ist sie krank?»

Res schwieg lange, blickte zum Boden. Schliesslich sagte er leise: «Sie ist tot.»

Selma sah, wie Tränen in seine Augen schossen. Res packte die Karre und stiess sie auf den Misthaufen hinauf. Er warf sie um, fluchte, zerrte sie vom Haufen herunter und wollte zurück in den Stall.

Selma packte Res’ Arm: «Warum redest du nicht darüber?»

Res riss sich los: «Damit du es in die Zeitung schreibst? Nein, danke!»

«Res! Ich bin hier, um eine schöne Reportage zu machen. Rede mit mir, so wie früher, da haben wir auch über alles …»

«Noch einmal: Das war früher.»

Selma packte Res erneut am Arm: «Res, bitte, lass uns quatschen. So geht das nicht. Denk auch mal an Martina, sie ist eine so fröhliche Frau. Aber eure trübe Stimmung …»

«Was ist mit Martina?», fragte Res. Er schaute Selma in die Augen. Jetzt erkannte Selma wieder die schönen, grünen Augen.

«Martina ackert wie eine Verrückte.»

«Wir arbeiten hier alle wie die Verrückten. Und wozu? Das macht doch alles keinen Sinn mehr.» Res wandte sich ab und blickte nun gegen die Sonne. Selma liess seinen Arm los.

Res räusperte sich. «Machen wir nach dem Mittagessen einen Spaziergang?», fragte er schliesslich.

10

«Elin, ach, gut bist du da!» Charlotte Legrand-Hedlund setzte sich in ihrem abgewetzten Biedermeiersofa auf und stützte das linke Bein auf dem Stubentisch auf.

«Hei, Mama, wie geht es dir?» Elin legte die Tasche ab, umarmte ihre Mutter und schaute sich die Schürfung am Knie an. Zumindest versuchte sie es. Auf der Wunde war zwar kein Pflaster mehr, aber Charlotte hatte schwarze Nylonstrumpfhosen angezogen, die blickdicht waren.

«Wie soll es mir schon gehen? Mein Knie ist geschwollen.»

«Ja», bestätigte Elin und drückte sanft darauf. Charlotte reagierte sofort mit einem entsetzten «Mon dieu!»

«Mama, so schlimm kann es nicht sein. Wo ist überhaupt das Pflaster? Selma hat dir sicher ein Pflaster auf die Wunde geklebt.»

«Ich habe es weggerissen. Man konnte es durch die Strumpfhosen sehen.»

Elin verdrehte die Augen. Wie konnte man in diesem Alter noch so eitel sein, fragte sich Elin, unterliess es aber, eine Bemerkung zu machen. Stattdessen lächelte sie Charlotte an: «Magst du einen Kaffee?»

«Das wäre sehr nett, Liebes. Ich kam nicht dazu. Nachdem ich mich angezogen hatte, war ich so erschöpft, dass ich es gerade noch bis zum Sofa geschafft habe. Der Weg in die Küche war mir zu weit. Zum Glück hast du einen Hausschlüssel, ich hätte nicht mehr aufstehen und die Türe öffnen können.»

«Drama-Queen!», sagte Elin und marschierte lachend in die Küche. Sie schüttete Kaffee und einen Löffel Zichorie in den Filter und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Nachdem das Wasser durchgelaufen war, goss sie die Brühe in eine grosse Tasse und gab reichlich kalte Milch dazu. Für sich selbst machte sie in der kleinen Espressomaschine einen deutlich stärkeren Kaffee.

«Danke, Elin», sagte Charlotte und nahm einen Schluck Milchkaffee. «Die Lebensgeister kehren zurück.»

«Dass du dieses fade Zeug immer noch geniessen kannst», stellte Elin verständnislos fest.

«Selmeli trinkt diesen Kaffee auch.»

«Aber ohne Zichorie.»

«Früher musste man sparen. Und ich mag den Kaffee so. Er ist nicht so stark. Dafür kann ich mehr davon trinken.»

«Schwedisch halt, Mama Charlotte Svea.» Elin betonte Charlottes Zweitnamen Svea laut und deutlich.

Charlotte lächelte: «Immerhin hat sich mein Vater bei meinem zweiten Namen durchsetzen können. Ansonsten war er ein richtiger Schwede. Zurückhaltend bis in den Tod. Nie hat er mit seinen Forschungserfolgen geprahlt, sondern immer sein Team und seine Vorgesetzten in den Vordergrund gerückt. Ach, ja, der gute alte Hjalmar …» Charlotte Svea schaute andächtig nach oben, runzelte aber plötzlich die Stirn: «Die Stuckaturen sind etwas matt geworden.»

«Wir sollten sie streichen lassen.»

«Aber, aber, die kann man reinigen. Selmeli behauptet, wir müssten nicht nur die Wände und die Decken streichen, sondern das ganze Haus sanieren. Sie will mich irgendwann ins Altersheim …»

«Das ist doch gar kein Thema, Mama», intervenierte Elin sofort. «Es gibt heute viele Möglichkeiten, damit man bis ins hohe Alter zufrieden zu Hause leben kann.»

Charlotte ging nicht darauf ein, sondern stellte trocken fest: «Das Haus zu renovieren, kostet eine Stange Geld.»

«Mama, wir könnten ja mal langsam …» Elin zögerte, wagte einen zaghaften Blick nach oben.

«Du meinst, wir könnten die Wohnung im zweiten Stock vermieten? Elin! Da sind euer Grossvater und euer Vater … na du weisst, schon.»

«Ja, sie sind gestorben. Aber das ist jetzt ein paar Tage her. Wäre es nicht an der Zeit …»

«Nein», räsonierte Charlotte.

«Okay, okay», meinte Elin nur und vergass das schwierige Thema «Zweiter Stock» gleich wieder. Es hatte sich an Charlottes Einstellung nichts geändert. Wahrscheinlich würde sich auch nie etwas daran ändern.

«Was macht deine Karriere, Liebes?», fragte Charlotte jetzt etwas schnippisch.

«Mama, ich habe zwei Buben! Und du bist auch nicht die Grossmutter, die tagelang Kinder hüten …»

 

«Sören und Sven müssen doch nicht mehr gehütet werden», meinte Charlotte. «Ich unternehme aber gerne etwas mit ihnen.»

«Natürlich, Mama. Ich will ja nur sagen, dass ich halt gerne zu Hause bin und meine Söhne selbst erziehen möchte. Eric und ich können es uns leisten. Mein Mann verdient genug. Zudem arbeite ich noch einige Stunden pro Woche in dieser Apotheke.»

«Einige Stunden!», sagte Charlotte vorwurfsvoll und trank ihren Kaffee aus. «In Schweden arbeiten alle Frauen. Und du mit deinem Studium, mit deinem Talent. Du wärst eine erfolgreiche Forscherin geworden genau wie dein Grossvater. Du hättest auch eine Bankkarriere machen können wie dein Vater.»

«Ich wollte aber Wissenschaftlerin werden.»

«Eben. Und jetzt bist du …»

«Ach, Mama», unterbrach Elin, «du machst es einem nicht einfach.» Es lag ihr auf der Zunge, zu erwähnen, dass Charlotte zwar Kunstgeschichte studiert und gut dreissig Jahre lang in diversen Funktionen im Basler Kunstmuseum gearbeitet, aber für ihre Familie ebenfalls auf die Karriere verzichtet hatte. Doch Elin liess es bleiben, sie hatte keine Lust, jetzt auf dieses Thema einzugehen. Deshalb erhob sie sich mit Schwung von ihrem Stuhl: «Na los, gehen wir!»

«Ach, ich weiss nicht.»

«Keine Widerrede. Wir haben es so abgemacht. Ein paar Tage wohnst du jetzt bei uns.»

«In Riehen. In dieser protzigen Villa.»

«Mama! Es ist keine protzige Villa. Es ist ein ganz normales Haus. Ich packe dir einige Sachen zusammen.»

«Sollten wir nicht erst Selmeli anrufen?»

«Ich werde mit meiner Schwester reden, versprochen.»

Elin ging ins Schlafzimmer ihrer Mutter und öffnete den grossen, antiken Schrank aus verschiedenfarbigem Nussbaumholz. Er war neben dem Biedermeiersofa das andere erdrückend wirkende Möbelstück in Charlottes Wohnung. Die Blusen, Kleider und die vielen Jupes in allen möglichen Farben und Längen – Elin fand einige definitiv zu kurz – hingen millimetergenau ausgerichtet an der Stange. Auch die Unterwäsche lag sorgfältig zusammengefaltet aufeinander.

«Wo sind deine Trainerhosen?», rief Elin ins Wohnzimmer.

«Trainerhosen? Ich habe keine Trainerhosen.»

Elin ging zurück ins Wohnzimmer: «Mama, Selma und ich haben dir doch Trainerhosen gekauft. Und weite, legere Freizeithosen.»

«So etwas ziehe ich nicht an. Du kannst aber Jeans einpacken.»

«Deine Jeans sind alle zu eng. Dein Knie ist geschwollen. Im Übrigen: Bist du für so enganliegende Hosen nicht langsam zu …» Elin zögerte.

«Zu alt? Ich bitte dich. Meine langen Beine sind bald das letzte Attraktive an mir.»

«Wir nehmen die Trainerhosen trotzdem mit. Wo sind sie?»

«Ganz unten in der Kommode.»

Elin ging ins Schlafzimmer zurück, kniete sich vor dem Möbel hin und öffnete die Schublade. Die weiten Trainer-, Freizeit- und Cargohosen waren ungebraucht, sogar die Etiketten hingen noch daran. Elin nahm alle Hosen heraus und stellte fest, dass ihre Mutter wirklich kein einziges Paar je getragen hatte. Sie schüttelte leicht den Kopf und murmelte: «Mama, Mama.» Als sie weiter nach hinten griff, stiess sie auf einen eckigen Gegenstand. Sie holte ihn hervor. Es war eine Schatulle mit goldverzierten Rändern. Sie sah ziemlich alt aus. Was war das für eine Schatulle? Elin hatte sie noch nie gesehen. Sie hätte schwören können, dass sie jeden Gegenstand, den ihre Mutter in ihrer Wohnung aufbewahrte, kannte. Schliesslich half sie zusammen mit ihrer Schwester regelmässig beim Putzen und Aufräumen. Aber diese Schatulle hatte sie wirklich noch nie gesehen. Hatte ihre Mutter ein Geheimnis? Noch ein Geheimnis? Es reichte doch, dass der ominöse zweite Stock ein solch grosses Geheimnis war.

Elin schüttelte die Schatulle vorsichtig. Im Inneren schepperte etwas. Lag vielleicht Schmuck darin? Eine Kette oder eine Uhr? Dafür gab es doch den Wandtresor hinter dem Bild von König Gustav IV Adolf. Oder das Schliessfach auf der Bank.

Elin war unsicher. Sollte sie Charlotte fragen? Oder die Schatulle einfach zurücklegen und vergessen? Oder …?

Vorsichtig öffnete Elin die Schatulle und untersuchte deren Inhalt. Es lief ihr plötzlich kalt den Rücken hinunter. Ja, sie musste dringend mit Selma reden.

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