Der Storykiller

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Don Muller hüstelte. Dann sagte er: «Guten Morgen. Wir begrüssen Emma Lemmovski, die uns eine Mitteilung zu machen hat.»

«Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, bei euch zu sein.»

Mit diesen Worten begann sie immer. Das habe sie wohl in einem Managerkurs gelernt, pflegte Renner jeweils etwas abschätzig zu bemerken, wenn er unter Kollegen über die Verlegerin sprach. Obwohl sie als Journalistin und Redaktionsleiterin in Deutschland gearbeitet hatte, hielt Renner nicht allzu viel von ihrem Können.

«Ich möchte Ihnen allen zur heutigen Ausgabe gratulieren», fuhr sie fort. «Vor allem natürlich Peter Renner.»

Renners runder Leib zuckte. Doch Renner versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Nach der Moralpredigt vom Morgen war Lemmovskis Lob äusserst seltsam. Nun wird wohl noch was kommen, dachte er und starrte weiter ins Leere.

«Einige Fakten mehr würden der Story guttun», sagte Emma Lemmovski. «Also beissen Sie sich rein. Aber das machen Sie sowieso.» Sie lächelte Renner an und ergänzte: «Sie haben nicht umsonst den Spitznamen Zecke.»

Lautes Gelächter im Raum.

Renner war baff. Er schaute verlegen zu Emma Lemmovski, die ihn mit ihren grünblauen Augen anfunkelte und ihm nun auch noch zuzwinkerte.

Nachdem das Gelächter verstummt war, herrschte einige Sekunden Stille. Sandra Bosone hatte gerade wieder die Wasserflasche am Mund und musste schlucken, was ziemlich deutlich zu vernehmen war. Renner bemerkte, dass Don Muller, der vis-à-vis von ihm sass, mit den Beinen wedelte, es sah aus wie ein Vogel, der kurz vor dem Abflug seine Flügel auf Touren bringt. Das machte Muller immer, wenn er nervös war.

«Nun, warum ich hier bin», setzte Emma Lemmovski an. «Wir werden in der Geschäftsleitung der ‹Aktuell Media AG› eine Änderung vornehmen. Ich trete per sofort als Geschäftsführerin zurück und konzentriere mich auf die Arbeit als Verlegerin und Verwaltungsratspräsidentin. Die Geschäftsleitung wird Don Muller übernehmen. Herr Muller bleibt aber Chefredakteur. In der Redaktion bleibt so weit alles beim alten, ausser dass die Herren Reich und Renner wegen der Doppelbelastung von Herrn Muller zusätzliche Aufgaben übernehmen werden. Dies betrifft vor allem unseren stellvertretenden Chefredakteur Reich.»

Darauf folgte ein etwas länglicher Vortrag über die Wichtigkeit der Verlegerin in einer immer hektischeren Zeit.

Die ersten Journalisten wurden unruhig.

«Lassen Sie mich noch eines deutlich machen», sagte Emma Lemmovski nun in einem resoluten Ton. «Die Geschäftsführer anderer Verlage sind mittlerweile reine Manager, die keinen Unterschied machen, ob sie Zeitungen oder Schrauben verkaufen. Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass wir einen erfahrenen und erfolgreichen Journalisten als CEO haben. Damit setzen wir ein Zeichen, dass bei ‹Aktuell› der Journalismus im Vordergrund steht, nicht der Gewinn.»

Ältere Redakteure begannen zu klatschen. Sofort applaudierten die Kulturjournalisten mit. Die Abteilungsleiter ebenso, bis auf Renner. Dieser sass nach wie vor da und starrte. Die jüngeren Redakteure klatschten halbherzig, die Online-Journalisten gar nicht. Sie schauten sich bloss gelangweilt um. Oder starrten auf Assistentin Cordula Hahne, die dies sichtlich genoss und dauernd lächelte.

Muller wedelte weiter mit seinen Beinen.

«Vielen Dank, Frau Lemmovski. Wir fahren dann fort mit unserer Sitzung», sagte Chefredakteur Muller schliesslich. Emma Lemmovski lehnte sich zurück, löste die Klammer aus ihren Haaren, strich die Haare glatt und setzte die Klammer wieder ein.

Die Morgensitzung war die einzige Redaktionskonferenz, an der alle, die gerade Dienst hatten und im Büro waren, teilnahmen. Die anderen Konferenzen wurden ausschliesslich von den Abteilungsleitern bestritten. Die Morgensitzungen waren für die Blattkritik und die Planung des Tages gedacht. Blattkritik fand aber nur selten statt. Chefredakteur Muller fand meistens alles «super». Renner nannte dies «Die Superlüge». Wer nichts kritisierte, musste auch nichts verbessern. Vor allem, wenn er selbst nicht wusste wie.

Muller erteilte das Wort Renner, der die aktuellen Nachrichten-Stories vorzuschlagen hatte.

«Wie Frau Lemmovski richtig sagte, werden wir die Jasper-Story weiterziehen. Alex Gaster ist dort, wo der Unfall geschah, und wird …»

«Alex Gaster?», fragte Emma Lemmovski.

«Unser ehemaliger Praktikant», erklärte Renner.

«Sie schicken einen Ex-Praktikanten an diese Story?»

«Er ist seit drei Monaten fest bei uns als Reporter angestellt. Zudem werden noch weitere Leute auf diesen Fall angesetzt.»

Emma Lemmovski sagte nichts mehr.

Auch Muller sagte nichts. Er schwieg auch, als die Leiterinnen und Leiter der Wirtschafts-, der Sport-, der Unterhaltungs- und der Kulturredaktion ihre Geschichten und Themen anboten. Der einzige Ton, den er hervorbrachte, war ein unartikuliertes «Ähä» und hin und wieder ein leises «Super». Renner stellte aber fest, dass er aufgehört hatte, mit den Beinen zu wedeln. Also war alles so weit wieder in Ordnung.

Assistentin Cordula lächelte nicht mehr, denn sie war damit beschäftigt, für Muller alles aufzuschreiben.

Nach der Sitzung ging Peter Renner sofort in seinen Newsroom, hob die Telefonumleitung ins Sekretariat wieder auf und rief Politik-Chef Jonas Haberer an. Dieser war aber nicht erreichbar.

Per Mail beorderte er Sandra Bosone und Flo Arber, einen weiteren jungen Reporter, zu sich.

«Also», sagte Renner. «Sandra, du kümmerst dich um Jaspers Privatleben, versuchst, seine Frau zu interviewen, seinen Sohn, das ganze Umfeld. Flo, du recherchierst bei der Polizei, klapperst seine Wirtschaftsbeziehungen ab.»

Die beiden nickten.

Beim Hinausgehen drehte sich Sandra um: «Weisst du, was der Wechsel in der Chefredaktion bedeutet?»

«Nein, keine Ahnung», sagte Renner und blickte angestrengt auf einen seiner Monitore.

Peter Renner wusste es tatsächlich nicht. Aber er ahnte es. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

FAULHORN, WESTFLANKE

Alex und Henry waren kurz nach Mittag bereits auf dem Abstieg vom Faulhorn. Sie hatten den steilen Pfad über den Grat gewählt, der zwar kürzer war als der gut ausgebaute Weg im Südhang. Doch der Pfad, wie der gesamte Abstieg vom Faulhorn über die Männdlenen-Hütte zur Schynige Platte, der mit rund 3 Stunden angegeben wurde, war als Bergweg mit weiss-rot-weissen Pinselstrichen an Felsblöcken markiert und nur für geübte Wanderer mit guter Ausrüstung gedacht. Viele Stellen waren schmal und gefährlich, gegen Norden fiel das Gelände teilweise fast senkrecht in die Tiefe ab. Eine Tafel beim Berghotel wies speziell darauf hin. Doch Alex und Henry hatten sie ignoriert, obwohl beide keine geeigneten Schuhe trugen.

Schon nach wenigen Metern stöhnte Henry das erste Mal auf. Kurz darauf ein zweites Mal. Dann stolperte er, konnte sich gerade noch auffangen und fluchte auf Französisch über diesen Weg, über Renner und über seinen Chef Constantin. Alex blieb ruhig und nahm ihm die schwere Fototasche ab.

Als sie das erste Stück geschafft hatten, setzten sie sich auf einen Stein. Henry keuchte laut. Irgendwo in der Ferne rotierte wieder ein Helikopter. Das Geratter wurde lauter, dann wieder leiser. Henry zeigte Richtung Himmel, verwarf die Hände und verfluchte Renner und Constantin erneut.

Nachdem er sich etwas erholt hatte, nahm er seine Tasche, kontrollierte den Fotoapparat und schaute sich die Bilder an, die er auf dem Faulhorn geschossen hatte.

«Dieses Foto ist prima», sagte er und streckte Alex den Apparat hin. «Der Hüttenwart am Tisch, wo dieser Kasper …»

«Jasper», korrigierte Alex. «Der Mann heisst oder hiess Jasper.»

«Von mir aus. Jedenfalls ein gutes Foto.»

«Ja, ist wirklich gut. Aber das Interview brachte nichts.»

«Ach, das ist doch egal, Hauptsache ein gutes Bild.»

«Aber was soll ich schreiben?»

«Na eben, dass dieser Kasper oder Jasper da oben eine Wurst gemampft hat, bevor er in den Tod gestürzt ist.»

«Das hat schon Renner geschrieben. Steht alles heute in unserem Blatt.»

«Ach so», meinte Henry, stand auf und machte noch einige Bilder vom Faulhorn. Auch Alex stand auf. «Bist du wieder fit?», fragte er.

«Ja, logisch!»

Da der Weg nun weniger steil war, kamen sie rascher vorwärts.

Alex Gaster hatte mit den Fotografen noch seine liebe Mühe. Er konnte nicht verstehen, dass sich die meisten nicht wirklich für die Stories interessierten. Hauptsache Bilder, Bilder, Bilder. Dass es dazu immer noch einen Text brauchte, war den Fotoreportern ziemlich egal. Wenn sie ihr Bild hatten, wollten sie möglichst schnell einen Abgang machen und es in die Redaktion schicken.

Oft kam es zwar nicht vor, dass Alex zusammen mit einem Fotografen unterwegs war. Alle «Aktuell»-Reporter waren ausser mit einem Hightech-Telefon und einem Tonaufnahmegerät, dessen Qualität für Radiosendungen geeignet war, zusätzlich mit einer Kamera ausgerüstet. Mit dieser Kamera konnten sie fotografieren, aber auch Videoclips drehen. So lieferten die «Aktuell»-Redakteure nicht nur für die Zeitung Material, sondern auch fürs Internet.

Alex hatte zwar keine Probleme mit dem Job als «All-in-one»-Reporter. Schliesslich hatte er während des Studiums auch bei Radio und Fernsehen Praktika absolviert. Doch Schreiben und Fotografieren hatte ihm immer am besten gefallen. Deshalb war für ihn bald einmal klar gewesen, dass er für ein Printmedium arbeiten wollte. Dass er fürs Web auch Video- und Audioclips liefern musste, sah er als zusätzlichen Ansporn an, der durchaus seinen Reiz hatte.

Videoclips zu drehen, war ausserdem etwas, was ihn mit seiner Freundin Mara verband. Diese hatte als Snowboarderin zwar die grosse Karriere verpasst, doch als Clip-Produzentin von spektakulären Jumps und waghalsigen Abfahrten hatte sie es geschafft, sich in der Szene einen Namen zu machen und etwas zu ihrem Lehrerinnen-Job hinzuzuverdienen. Alex hatte sie immer darin unterstützt und oft begleitet. Einmal war ihm, als er noch Student gewesen war, bei einem solchen Snowboard-Shooting sogar ein so gutes Pic geglückt, dass er es tatsächlich «Aktuell» hatte verkaufen können. Er hatte 100 Franken kassiert, sich damit Champagner und Fingerfood-Delikatessen gekauft und sich mit Mara einen schönen, prickelnden Abend gemacht.

 

Fotos waren bei «Aktuell» tatsächlich sehr wichtig. Deshalb herrschte unter den professionellen Fotografen, die alle als Freiberufler arbeiteten, ein grosser Konkurrenzkampf. Wer sich nicht voll einsetzte und rund um die Uhr zur Verfügung stand, hatte keine Chance. Viele «Aktuell»-Bilder waren auch schon mit Fotopreisen bedacht worden, was die Fotografen zusätzlich anspornte.

«Sag mal, Alex», sagte Henry später, «was ist eigentlich aus Jaspers Hund geworden?»

«Jaspers Hund?»

«Ja, der Hüttenwart erzählte doch, dass Jasper seinem Hund den letzten Wurstzipfel verfüttert hat.»

Alex Gaster blieb stehen und schaute Henry verwundert an.

«Was ist, Alex? Habe ich was Dummes gefragt?»

«Nein, ganz und gar nicht», antwortete Alex und merkte, dass er sich in Henry getäuscht hatte. Er selbst hatte der Hundegeschichte des Hüttenwarts keine Beachtung geschenkt.

«Was ist aus dem Hund geworden?», wiederholte Alex nochmals Henrys Frage. «Das ist sogar eine verdammt gute Frage. Wenn, wie Renner mutmasst, Jaspers Begleiterin nicht seine Ehefrau war, dann hätte der Hund beim Unfall bei Jasper sein müssen.»

«Siehst du, Alex, das sage ich ja.»

«Vorausgesetzt, dass es tatsächlich Jaspers Hund war», schränkte Alex sofort ein.

«Mensch, Alex, klar war es Jaspers Hund.»

«Warum weisst du das?»

«Weil es der Hüttenwart gesagt hat.»

«Nein, das hat er nicht gesagt.»

«Doch.»

«Das habe ich nicht gehört.»

«Als ich nach dem Interview und dem Foto-Shooting dem Typen da oben in der Küche die Fotos auf dem Kamerabildschirm gezeigt habe, sagte er zu mir, ich sei gleich frech wie Jaspers Hund, der auch immer zu ihm in die Küche gekommen sei, wenn Jasper mit ihm auf dem Faulhorn gewesen sei. Also kannte er Jaspers Hund.»

«Warum sagst du mir das erst jetzt?», schrie Alex und griff sofort zu seinem Handy. Er rief Renner an und fragte ihn, ob Hüttenwart Balmer ihm am Sonntag nichts von Jaspers Hund erzählt habe.

«Nein», antwortete Renner. «Ich klär das sofort ab und schicke dir eine Mitteilung. Sehr gut, Alex.»

Alex erwähnte nicht, dass ihn eigentlich Henry auf die Spur gebrachte hatte. Wenn es denn eine Spur war. Aber immerhin: Er hatte eine News. Der Ausflug war zumindest nicht ganz vergebens.

«Ich brauche endlich einen verdammten Aufmacher», murmelte Alex wenig später, als sie wieder unterwegs waren.

«Was hast du gesagt?», fragte Henry.

«Ach nichts.»

Dann piepste Alex’ Handy. Renner hatte die Koordinaten der Unfallstelle geschickt. Alex übertrug sie ins GPS-Programm, Sekunden später erschien auf dem kleinen Bildschirm die Karte.

«Hey, Henry, ich denke, wir sind gleich da.»

«Endlich», sagte Henry Tussot, «ich breche gleich zusammen!» Denn neben seiner Fotoausrüstung hatte er auch noch seinen Laptop dabei, da er die Bilder sofort schicken musste und nicht erst, wenn sie wieder unten im Tal waren.

Plötzlich hörten sie wieder einen Helikopter.

Dann Schüsse.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Sandra Bosone kam nicht darum herum. Renner hatte schon dreimal nach dem Stand ihrer Recherche gefragt. In der letzten Mail hatte er noch die Hunde-News von Alex durchgegeben mit dem Hinweis, sie solle Frau Jasper danach fragen und sie bitten, ein Foto des Tieres zu senden. Nun musste sie die Witwe anrufen.

Sie hasste solche Telefonate. Angehörige eines Toten zu interviewen, machte niemand gern. Ältere Kollegen, die längst die Abteilung gewechselt hatten, im Politik- oder Wirtschaftsressort arbeiteten oder als Produzenten, brüsteten sich gern damit, wie sie früher als «Witwenschüttler» Trauernde zum Reden gebracht hatten. Einfach ein paar Blumen kaufen, zu den Angehörigen fahren und an der Türe sein aufrichtiges Beileid kundtun. Dies habe immer funktioniert, erzählten sie grossartig.

Natürlich wussten alle, dass dies nicht so einfach war. Einfach kurz von Bern ins Oberland düsen, nach Bönigen bei Interlaken, wo die Jaspers wohnten, an der Haustüre klingeln und dann eine Absage erhalten – das lag zeitlich nicht drin. Sie waren zwar eine personell gutdotierte Redaktion, aber auch sie mussten wie alle anderen Zeitungen sparen. Also musste das «Witwenschütteln» erst mal am Telefon beginnen. Später, wenn die Jasper mitmachen würde, könnte man immer noch einen Fotografen vorbeischicken, um zu einem Herzschmerz-Bild zu kommen.

Sandra Bosone las noch einmal die Artikel über die Familie Jasper durch, die bisher erschienen waren. Es war eine recht umfangreiche Dokumentation, die sie von der Schweizerischen Mediendatenbank im Web heruntergeladen hatte.

Sandra wurde nervös. Sie hasste das wirklich. Als sie mit dem Publizistikstudium begonnen hatte, hatte sie sich geschworen, so etwas nie zu tun. Sie fand es unmoralisch, mies, billig. Sie könnte Renner ja sagen, dass sie das nicht machen wolle. Nicht machen würde. Aus ethischen Gründen. Dann würde jemand anderes anrufen und möglicherweise Erfolg haben. Es war schliesslich so einfach, wie die gestandenen Reporter immer zu prahlen pflegten.

Früher war es vielleicht einfach, sagte sich Sandra. Da konnten Reporter tricksen, sich als Sanitäter oder sonstige Wohltäter ausgeben, da war bei Unglücken und Verbrechen die Polizei noch nicht so darauf bedacht, Journalisten fernzuhalten. Es gab auch weniger von diesen blutrünstigen Fotografen, Kameraleuten und Reportern. Heute wurden die Opfer sofort abgeschirmt und psychologisch betreut. Bei grossen Unglücken wie Eisenbahnunfällen oder Felsstürzen standen mittlerweile ganze Heerscharen von Psychologen auf dem Platz. Journalisten hatten gar keine Chance mehr, an Opfer oder Angehörige heranzukommen.

Aber dieses Philosophieren brachte Sandra Bosone nicht weiter.

Sie nahm einen grossen Schluck Wasser aus der Flasche, atmete tief durch und ergriff den Telefonhörer. Das Display des Telefons zeigte 13.53 Uhr. Sie wählte Jaspers Privatnummer.

Es klingelte dreimal.

«Ja, bitte, wer ist da?», sagte ein Mann mit einer ziemlich hohen Stimme.

«Ich bin Sandra Bosone vom ‹Aktuell›. Mit wem spreche ich, wenn ich fragen darf?»

Sandra gab sich betont freundlich und einfühlsam. Einige Kollegen im Grossraumbüro schauten bereits zu ihr hinüber, da Reporter solch übermässige Freundlichkeit nur bei ganz schwierigen Telefonaten an den Tag legten. Normalerweise war der Interview-Ton der Journalisten sehr sachlich, damit sie sich später nicht vom Befragten vorwerfen lassen mussten, sie hätten sich eingeschleimt.

«Ich bin Leon Jasper, der Sohn des verstorbenen Alfred Jasper.» Leon Jasper klang seltsam, fand Sandra. Sie kannte zwar den melodiösen Dialekt der Berner Oberländer, doch weil Leon Jasper eine so hohe Stimme hatte, tönten seine Worte mehr wie Gesang.

«Mein herzliches Beileid.»

«Danke. Wir stehen für Interviews nicht zur Verfügung. Ich bitte Sie, sich mit der Partei meines Vaters in Verbindung zu setzen.»

Damit hatte Sandra gerechnet: «Wir wollten nur unsere aufrichtige Anteilnahme ausdrücken und fragen, wie die Familie mit diesem Schicksalsschlag umgeht.»

Sandra wusste genau, dass ihre Reporterkolleginnen und -kollegen ihr zuhörten und nun wohl Grimassen machten. Heuchelei gehörte manchmal zum Job. Und um damit klarzukommen, nahmen sich die Journalisten gegenseitig hoch und äfften einander nach.

Leon Jasper sagte nichts.

«Hallo?», sagte Sandra leise.

«Wir sind erschüttert und sehr traurig», antwortete Leon Jasper.

Sandras Herz klopfte heftig. Na bitte, dachte sie, ein Quote, ein Zitat, vielleicht sogar die Seite-1-Schlagzeile!

«Ihre Mutter war ja beim Unglück …»

«Nein, sie war nicht dabei», unterbrach Leon Jasper sie bestimmt, eine Melodie war trotz seines Dialekts kaum mehr zu erkennen. «Sie haben dies ja bereits geschrieben und meinem Vater Unterstellungen gemacht. Ich bitte Sie, uns nun in Ruhe zu lassen.»

«Natürlich», sagte Sandra und machte das Gegenteil, denn immerhin hatte sie gerade die Bestätigung aus ihm herausgekitzelt, dass Alfred Jasper nicht mit seiner Frau auf der Wanderung gewesen war. Also würde sie vielleicht noch mehr aus ihm herauskriegen, wenn sie das Gespräch in die Länge ziehen konnte.

«Sie verstehen sicher», fuhr sie fort, «dass wir einen solch beliebten Politiker, wie Ihr Vater es war, in gebührender Weise ehren möchten und deshalb …»

«Ja, dafür danken wir Ihnen auch», unterbrach Leon Jasper sie erneut. «Nun möchte ich Sie …»

«Ist Herr Jaspers Hund eigentlich wieder aufgetaucht?», fragte Sandra forsch. Denn sie spürte, dass Leon Jasper demnächst auflegen würde.

«Was wissen Sie über Rolf?», fragte Leon Jasper schnell.

Sandra war perplex. Sie hatte diese Frage nicht erwartet und war zudem über den Namen erstaunt. Rolf. Hiess Jaspers Hund Rolf? Sie musste nachfragen.

«Ah, der Hund heisst Rolf?»

«Ja, er war mit meinem Vater auf der Tour und ist verschwunden», erzählte Leon Jasper nun wieder im Singsang seines Dialekts. «Vielleicht ist er so verstört, dass er sich irgendwo verkrochen hat oder herumirrt.»

Nun hatte sie ihn, da war sich Sandra sicher.

«Wir können ihn suchen», sagte sie.

«Wie denn?», fragte Leon Jasper überrascht.

«Wir schreiben morgen in der Zeitung, dass alle Wanderer nach Rolf Ausschau halten sollen. Am besten würden Sie uns ein Foto von Rolf mailen.»

Sandra hörte, wie Leon Jasper die Sprechmuschel des Telefons mit der Hand abdeckte und jemanden im Hintergrund nach dessen Meinung fragte.

«Ja, das können wir machen», sagte Leon Jasper nach einer Weile.

Sandra gab ihre Mail-Adresse an, bedankte sich und wünschte ihm und der ganzen Familie Jasper viel Kraft.

«Wir melden uns sofort, wenn wir eine Spur von Rolf haben», sagte Sandra. «Am besten geben Sie mir Ihre Handynummer.» Leon Jasper gab die Nummer an und verabschiedete sich.

Sandra legte den Hörer auf, juckte von ihrem Stuhl und schrie durchs ganze Büro: «Wie geil ist das denn?!»

Sie wollte gleich zu Peter Renner, um ihn über den Erfolg ihrer Recherche zu orientieren.

Doch kurz vor dem Newsroom stellte sich ihr Janine Hurst, eine etwas ältere Redakteurin aus der Unterhaltungsabteilung mit kurzen, graumelierten Haaren, in den Weg.

«Tick dich wieder ein, Mädchen», sagte sie und nahm ihre Brille ab. «Ist ja echt peinlich, wie du dich aufführst.»

Sandra kümmerte sich nicht darum. Alte Schnepfe, dachte sie nur. Sie liess Janine Hurst einfach stehen.

Beim Vorbeigehen bemerkte sie, dass Janine Hurst Tränen in den Augen hatte.

HOLIDAY INN HOTEL, BERLIN, CITY-WEST

«Finden Sie nicht, wir hätten die Herren aufklären müssen?», fragte Susanne Tosh ihren Chef.

«Worüber denn?», fragte David Lemmovski zurück.

«Na, über die weiteren Zwecke dieses Zentrums.» Tatsächlich wusste Susanne Tosh selbst nicht viel über die weiteren Zwecke von David Lemmovskis «Zentrum für Völker und Religionen, Wirtschaft und Wissenschaft», das er am Vormittag vor der europäischen Delegation im Berliner Konferenzzentrum grossspurig angekündigt hatte. Sie hätte selbst gerne mehr darüber erfahren, am liebsten sämtliche Details. Aber darüber waren weder sie noch David Lemmovskis zweiter persönlicher Mitarbeiter, Gunther Friesen, informiert. Susanne Tosh wusste nur, dass das Schweizer Aussenministerium involviert war. Und dies fand sie gar nicht gut. Sie hatte David Lemmovski schon mehrfach geraten, nicht mit Politikern oder Regierungsbeamten zu wirtschaften.

«Sehen Sie», sagte David Lemmovski, «das ist es, was ich so an Ihnen mag. Sie sind meine rechte Hand, aber Sie trauen mir nicht.»

«Das stimmt nicht.»

«Oh doch, aber ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Lassen wir ein wenig Zeit verstreichen. Die Herren Wissenschafter und Politiker werden die Details früh genug erfahren.»

 

«Warum sagen Sie, ich würde Ihnen nicht trauen?», insistierte Susanne. Immerhin trug sie den Titel «Persönliche Mitarbeiterin» und «Leiterin Aussenbeziehungen» der «Lemmovski Group» und fand diese Aussage ihres Chefs ziemlich daneben. Für sie war es ein typischer Männersatz einer Frau gegenüber. Und dies hasste sie.

«Das war ja nicht ganz ernst gemeint», rechtfertigte sich David Lemmovski. «Ich entschuldige mich für den saloppen Ausdruck. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich Ihnen für Ihre kritische Einstellung mir gegenüber dankbar bin.»

«Okay, Sie Macho.» Susanne Tosh lächelte und kniff ihn kurz in den Arm.

Dann besprachen sie zusammen weitere Dossiers. Lemmovski und sein Team hatten noch ein wenig Zeit bis zu ihrem Flug nach Zürich. Vom Hotel aus benötigten sie mit dem Shuttle-Bus nur wenige Minuten zum Berliner Flughafen Tegel. Die Nähe zum Flugplatz war auch der Grund, weshalb sich David Lemmovski in diesem Hotel eingemietet hatte, das weder vom Bau noch von der Lage oder vom Namen her etwas Prunkvolles darstellte. Hier konnte er die Zeit bei seinen Aufenthalten in der deutschen Hauptstadt am besten nutzen. Für Lemmovski war Berlin ganz klar die europäische Hauptstadt, sämtliche internationalen Kontakte pflegte er hier. Er wohnte immer in der gleichen Suite, sie war das ganze Jahr hindurch für ihn bereit, für seine beiden Mitarbeiter Susanne Tosh und Gunther Friesen waren zwei gewöhnliche Zimmer reserviert. Am Berliner Lemmovski-Geschäftssitz war er sehr selten, da dieser in einem modernen Gewerbe- und Industriepark ausserhalb Berlins lag. Wie alle Lemmovski-Niederlassungen. Selbst die «Aktuell»-Redaktion lag nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie der Schweizer Hauptstadt, in einem Betonbau aus den 70er-Jahren im Wankdorf-Quartier. Dafür war die Autobahn nahe, was für die Reporter ein Vorteil war. Büros gehörten nicht in eine Innenstadt, fand David Lemmovski. Dort sollte man wohnen und Gäste empfangen. Wie heute in Berlin. Für solch wichtige Meetings liess er immer feudale Konferenzsäle mieten, inklusive Catering-Service. So konnte er stundenlange Mittagessen, für ihn eine reine Zeitverschwendung, umgehen.

Kurz vor 15 Uhr mahnte Susanne Tosh zum Aufbruch.

«Wann sind wir wieder in Berlin?», fragte sie noch.

«Ich denke Donnerstag. Bis Freitagmittag, so wie heute.»

«Gut. Gunther Friesen und ich werden bis dann die eben besprochenen Geschäfte vorantreiben, damit wir die Papiere am Freitag unterzeichnen können. Möchten Sie am Donnerstagabend einen Gast empfangen?»

«Vielleicht. Ich lass es Sie wissen. Wo ist eigentlich Gunther?»

«Er wartet am Terminal. Gunther hat die Gäste beim Essen betreut und sie dann zu den Limousinen begleitet.»

«Sehr gut, wie immer», sagte David Lemmovski. «Sie und Gunther sind einfach die Besten.»

Eine Stunde später rollte die Maschine mit David Lemmovski und seinen beiden persönlichen Mitarbeitern an Bord zur Startbahn. David hatte sich vorgenommen, einige Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. Doch nun schwirrte ihm das Gespräch mit Susanne Tosh im Kopf herum. Er hatte bis anhin nur die eiskalte Geschäftsfrau und mit Doktortitel ausgestattete Mitarbeiterin in ihr gesehen, das Karriereweib. Eigentlich wusste er gar nichts über sie, er hatte sich noch nie Gedanken gemacht, was Susanne Tosh in ihrer Freizeit machte. Ob sie eine Familie hatte? Wohl kaum. Sie arbeitete ja immer. Einen Mann? Einen Freund? Hatte sie etwa was mit Gunther?

Ach, was kümmert mich das alles, dachte er, Susanne ist eh nicht mein Typ. Zu rundlich. Wir Lemmovskis stehen auf grossgewachsene, schlanke Blondinen. Wie Emma. Hoffentlich halten sich meine Jungs an diese Tradition.

Bei diesem Gedanken lächelte er verschmitzt.

Er war stolz auf seine beiden Söhne Marcel und Rudolf.

Wenn alles nach Plan lief, würden sie ein tolles Erbe antreten können. Die «Lemmovski Group» für Marcel. Die zur Gruppe gehörende «Aktuell Media AG» für Rudolf.

Er selbst wäre dann längst in einer ganz anderen Position.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

«Renner, haben Sie keine Mittagspause gemacht?», fragte Emma Lemmovski.

«Nein, mache ich nie», erwiderte der Nachrichtenchef.

«Ist ungesund.»

«Wir brauchen doch exklusive Stories.» Renner schaute auf seine Monitore.

«Genau. Aber nicht so blutrünstige wie heute über Jasper.»

Renner wandte sich seiner Chefin zu: «Warum haben Sie denn die Story an der Sitzung nicht zerrissen, sondern gelobt?»

«Ich sagte Ihnen ja, dass wir das unter uns regeln.»

«Was heisst das?»

«Ich kann und will nicht auf Sie verzichten, Renner. Wir brauchen Schlagzeilen, Auflage und massenhaft Leute, die unsere Online-Ausgabe nutzen und unseren Mobile-Service abonnieren. Das bringt uns Werbeeinnahmen. Aber reissen Sie sich zusammen und schiessen nicht wieder übers Ziel hinaus, sonst …» Emma hielt inne.

«Sonst?», fragte Renner.

«Nichts.»

«Nichts? Natürlich.» Renner starrte wieder auf die Monitore. «Wie Sie ja an der Sitzung gesagt haben», sagte er in einem monotonen Ton, «wollen wir nicht unbedingt Gewinn machen, sondern wir kreieren täglich eine seriöse, intellektuelle, hintergründige, relevante, interessante, kulturelle Zeitung für …»

«Es reicht, Peter. Ich muss jetzt gehen. Wenn irgendetwas ist …» – Emma Lemmovski trat dicht an Renner heran, neigte sich etwas zu ihm hinunter und legte die rechte Hand auf seine Schulter – «… dann rufen Sie mich an.»

«Dann rufe ich Sie an. Nicht den Chefredakteur, sondern Sie.»

Emma Lemmovski lächelte ihn an und sagte schliesslich: «Genau.»

BERGWEG FAULHORN – SCHYNIGE PLATTE, PUNKT 2546

Alex war stinksauer. Oder eifersüchtig. Oder irgendwas dazwischen.

Er stand mit Fotograf Henry Tussot bei einer Weggabelung, die auf einer Tafel als Punkt 2546 bezeichnet war. Das hiess, sie waren auf einer kleinen Ebene, die 2546 Meter über Meer lag. Hier bog ein Weg Richtung Iseltwald ab, einer kleinen Ortschaft am Brienzersee. Ganz in der Nähe des Punktes 2546 war Alfred Jasper zu Tode gestürzt.

Das GPS-Programm auf dem Handy von Alex hatte sie zuvor tatsächlich an eine Stelle geführt, wo der Weg über einen Grat verlief und eine beinahe senkrecht abfallende Felsrinne durchquerte. Allerdings war der Wanderweg gut ausgebaut. Henry hatte die Stelle fotografiert und auch einige eindrückliche Bilder vom steilen Abhang gemacht. Spuren auf dem Wanderweg oder an den Felsen hatten sie jedoch keine gefunden.

Danach waren sie bis zur Männdlenen-Hütte abgestiegen und hatten sich dort bei der Hüttenwartin erkundigt, ob sie irgendetwas zum Unfall sagen könne. Doch sie wusste nicht mehr als Fritz Balmer vom Faulhorn. Alex fragte sie, wie man zur Stelle gelange, an der Jasper liegengeblieben war. Doch die Hüttenwartin riet ihm ab, der Abstieg ins Tobel sei viel zu gefährlich. Alex und Henry gingen dann auf dem Bergweg noch ein Stück weiter und erreichten auf der gegenüberliegenden Seite der Absturzstelle einen Ort, von dem aus man die Rinne, die Jasper hinuntergestürzt war, gut sehen konnte. Henry montierte sein 400-mm-Objektiv und drückte mehrmals auf den Auslöser. Die Grafiker könnten ja mit einem roten Pfeil die Stelle von Jaspers Sturz markieren, meinte Henry.

Dann stiegen sie wieder hinauf über die Männdlenen-Hütte bis zum Punkt 2546.

Obwohl die Nachmittagssonne brannte, gönnten sie sich keine Pause. Es war schon kurz vor 15 Uhr. Eigentlich müssten sie bereits Text und Fotos übermitteln. Doch irgendwelche Spuren hatten sie noch immer keine gefunden.

Aber nicht deswegen war Alex schlecht drauf. Sondern wegen der SMS von Sandra Bosone, die er soeben erhalten hatte.

«hi du», hatte sie getippt. «jasper war nicht mit frau unterwegs. aber mit hund, der heisst rolf. ist verschwunden. wir suchen ihn via zeitung, familie hat grad foto geschickt. also halt die augen offen, vielleicht findest du ihn ja, wär cool. k sandra.»

Das «k» stand für Kuss. Jede SMS oder jede Mail, die sich die beiden schrieben, war mit einem «k» versehen. Zwar hatten sie sich noch nie geküsst, doch das war nur eine Frage der Zeit. Davon waren zumindest die Redaktionskollegen überzeugt. Noch mehr die Kolleginnen. Denn obwohl Alex und Sandra liiert waren, knisterte es zwischen den beiden.