Der Storykiller

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«He, Henry!», rief er dem Fotografen entnervt zu, der weiter vorne bei einer extrem abschüssigen Stelle im Gras lag, vorsichtig seine Kamera in die Tiefe hielt und pausenlos abdrückte. «Hast du etwas gefunden?»

«Non!», schrie Henry, der sich aufrappelte und zu Alex kam.

«Wir machen hier eh nur Drecksarbeit!», sagte Alex.

«Warum?»

«Die Story hat Sandra.»

Alex erzählte ihm von der Mitteilung.

Erneut piepste sein Handy. Diesmal hatte Sandra das Hundefoto geschickt.

«Das ist Rolf», sagte Alex und zeigte Henry das MMS mit dem Foto von Jaspers Hund.

«Toll», sagte dieser. «Ein grauer Schäfer in grauen Steinen. Da suchen wir uns ja dämlich. Vergiss den Köter. Ich mach jetzt noch ein weiteres Übersichtsbild, dann schicken wir das Ganze und hauen ab.»

«Ich frage erst Renner.»

«Wozu? Da ist nichts zu finden.» Alex’ gereizte Stimmung hatte sich auf Henry übertragen, dieser heizte sie zusätzlich an. «Was suchen wir hier eigentlich? Blut? Hautfetzen? Kleiderreste? Ist doch Schwachsinn!» Er machte eine Pause. Dann fuhr er noch erregter fort: «Und selbst wenn wir so etwas finden, dann drucken sie die Fotos davon eh nicht ab. Der Renner soll endlich mit seinem Scheiss-Boulevard aufhören.»

Alex’ Handy klingelte. Es war Renner. Aber Alex konnte kein Wort verstehen, die Verbindung brach nach wenigen Sekunden ab. Alex blickte auf das Display seines Handys und sah, dass er keinen oder, je nachdem, wo er gerade stand, nur einen ganz schwachen Empfang hatte.

«Auch das noch», sagte er, «für Kurzmitteilungen reicht das Signal offenbar, aber telefonieren kannst du vergessen. Demnach sind die, die Jasper entdeckt haben, auch weiter runter oder rauf, um zu telefonieren. Was meinst du, Henry, gehen wir ein Stück Richtung Faulhorn zurück?»

«Wir gehen zurück», antwortete Henry. «Wir sind hier sowieso fertig.»

Nach wenigen Minuten sah Alex, dass sein Handy wieder Empfang hatte. Er rief sofort Renner an.

«Na, Kleiner? Seid ihr abgestürzt? Oder geniesst ihr die Sonne und die gute Bergluft?»

Alex wusste, dass Renner scherzte und bloss hören wollte, ob er und Henry etwas Neues zu berichten hätten. Alex erzählte, dass sie zwar keine Spuren gefunden, aber die Unfallstelle mit grossem Aufwand von allen Seiten fotografiert hätten.

«Sehr gut, ihr zwei Bergler», sagte Renner. «Schreib alles auf und sende es mir gleich. Dann geht ihr hinunter ins Tal. Melde dich vorher aber nochmals.»

Alex suchte sich bei einem Felsen einen Schattenplatz, klappte auf seinem Handy die Tastatur auf und begann, in der Textdatei seine Infos niederzuschreiben. Er tippte mit den beiden Daumen. Er war recht schnell. Auf die Formulierungen achtete er nicht besonders, da er davon ausging, dass sein Text mit den Infos der anderen Reporter zusammengebaut wurde. Dies mochte Alex zwar nicht besonders. Aber ihm war auch klar, dass seine Recherchen nicht genügend Material für einen guten Artikel hergaben.

Henry Tussot lud seine Fotos von der Kamera auf den Laptop, prüfte jedes Bild, schmiss die meisten in den virtuellen Papierkorb. Zuletzt waren nur noch sechs seiner 154 Fotos übrig: Hüttenwart Balmer am Tisch, an dem Jasper mit den noch immer unbekannten drei Begleitern zu Mittag gegessen hatte, ein Close-up, auf dem nur Balmers Kopf zu sehen war, dann ein Bild vom Faulhorn als Totale, ein Foto der Unfallstelle, ein Blick in die Tiefe und ein Übersichtsbild von der anderen Seite des Tobels. Henry schloss das Modem an den Laptop an, stellte die Verbindung zum Internet her und begann zu senden.

Dies dauerte.

Alex tippte. Henry fummelte an seiner Kamera-Ausrüstung herum. Plötzlich hörten sie einen Helikopter. Das Rattern wurde schnell lauter, und schon tauchte der Heli hinter dem Berggrat auf, flog tief über sie hinweg und schwenkte Richtung Tal ab.

«Sieh dir das an, Alex, das glaube ich ja nicht!», rief Henry.

Aber Alex schaute nicht einmal auf, zu sehr war er in seine Arbeit vertieft. «Henry, hast du etwas zu trinken dabei?», fragte er dann.

Henry wunderte sich zwar etwas, aber Schreiberlinge waren für ihn eh seltsame Wesen.

«Nein, leider nicht. Habe selbst furchtbar Durst. Aber sag mal, hast du den Helikopter nicht bemerkt?»

«Doch», sagte Alex, starrte aber weiter auf den Mini-Bildschirm des Handys und tippte weiter.

«In dieser Maschine sass Jonas Haberer!»

Nun blickte Alex auf: «Spinnst du?»

«Natürlich war das Haberer!»

«Unser Politik-Chef?»

«Ja, klar. Habe doch seine Fett-Frisur gesehen!»

«Unmöglich. Du konntest doch nicht sehen, wer in diesem Helikopter sass.»

«Ich bin Fotograf. Ich sehe so was!», sagte Henry bestimmt. «Ruf Renner an.»

«Keine Zeit», sagte Alex und tippte mit seinen Daumen weiter.

Henry zückte sein Handy und rief Bildchef Sébastien Constantin an.

«Seid ihr jetzt völlig übergeschnappt?», schimpfte Henry. «Schickt uns tatsächlich noch den Haberer hier hinauf, natürlich im Helikopter. Und wir beiden Arschlöcher machen hier diesen Quatsch, ich habe die Nase voll, Séb …»

«Beruhige dich, Henry», sagte Séb. «Wo soll Haberer sein?»

Henry machte noch einmal seinem Ärger Luft und betonte immer wieder, dass er endgültig genug habe.

Séb ging gar nicht darauf ein: «Haberer war sicher nicht dort. Die dünne Bergluft tut deinem Gehirn nicht gut. Henry, wir warten gespannt auf deine Bilder.»

«Die laufen gerade durch.»

Henry klickte sich weg, nörgelte noch etwas herum, schaute dann gelangweilt in seinen Computer und beobachtete, wie der Balken, der den Anteil gesendeter Foto-Dateien anzeigte, immer dunkler wurde.

Alex beendete seinen Text und schickte ihn via Internet an News-Chef Peter Renner. Als auch Henry mit der Übertragung fertig war, packten die beiden ihre elektronischen Utensilien zusammen und berieten, wie sie am schnellsten vom Berg ins Tal kämen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder sie marschierten abwärts zur Schynige Platte und tuckerten mit der steilen Zahnradbahn nach Wilderswil. Alex hätte von dort mit dem Zug via Interlaken nach Bern fahren können, Henry hingegen hätte erst mit dem Zug nach Grindelwald zurückfahren müssen, um dort sein Auto zu holen. Die zweite Möglichkeit war, bis zur Abzweigung zum Faulhorn zurückzusteigen, um zur Bergstation der Firstbahn zu gelangen, im Prinzip also den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, ohne den Abstecher zum Faulhorn hinauf. Alex und Henry entschieden sich für diese Variante. Eigentlich hatte Henry alleine entschieden und Alex genötigt, mit ihm zu kommen. Denn er war überzeugt, so am schnellsten zu seinem Auto zu gelangen. Und Alex musste mit ihm mitkommen, weil Henry Angst davor hatte, «in dieser Todeszone der Alpen jämmerlich zu krepieren», wie er sagte.

Obwohl der Weg steil bergauf führte und sie schon eine anstrengende Tour hinter sich hatten, schlugen sie wiederum ein forsches Tempo an. Alex ging im Kopf noch einmal seinen Text durch. Da fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hatte. Er blieb stehen, kramte sein Handy hervor und tippte eine SMS an Peter Renner.

«Hey, Alex, was machst du jetzt schon wieder?», fragte Henry leicht genervt. Er wollte so schnell wie möglich zurück nach Bern.

«Habe in meinem Text zwei Dinge vergessen.»

«Was denn?»

«Findest du nicht auch, dieser Bergweg ist ziemlich sicher?»

«Doch, eigentlich schon. Jasper war ja besser ausgerüstet als wir.»

«Eben.»

«Und was ist das Zweite, das du vergessen hast?»

«Die drei Schüsse.»

«Drei? Ich habe nur zwei gehört», sagte Henry.

«Spielt ja keine Rolle. Zwei oder drei.»

Als sie die Schüsse gehört hatten, hatten sie kurz darüber gesprochen. Henry hatte gefragt, ob Jagdsaison sei. Alex, der in den Walliser Bergen aufgewachsen war und sich einigermassen in der Jagd auskannte, klärte Stadtmensch Henry auf, dass zu dieser Zeit nicht gejagt werden dürfe. Aber vielleicht war es ja eine ausserordentliche Jagd, vielleicht musste der Wildhüter ein schwer verletztes Tier töten, oder es trieb sich sogar ein Wolf herum oder ein Bär, oder es hatte eine ganz andere Bewandtnis, vielleicht war sogar das Schweizer Militär irgendwo bei einer Übung. Jedenfalls kümmerten sie sich nicht weiter darum, einen Zusammenhang mit dem Unglück Jasper hielten sie für ausgeschlossen.

Deshalb waren sie auch nicht mehr sicher, ob es zwei oder drei Schüsse gewesen waren. Alex hatte während seines Journalistikstudiums ein Praktikum bei der Presseabteilung der Zürcher Kantonspolizei absolviert. Dort hatte er gelernt, dass Zeugenaussagen immer mit grösster Vorsicht zu verwenden seien. Der Mensch hört oder sieht etwas, kann dies aber in den meisten Fällen nicht wirklich sachlich wiedergeben, da er das Gesehene oder Gehörte automatisch interpretiert.

Alex schickte die SMS ab. Eine Minute später klingelte sein Handy.

«Was ist das mit diesen Schüssen?», fragte Peter Renner aufgeregt.

«Nichts Besonderes», antwortete Alex. «Ich dachte, ich melde es dir einfach der Vollständigkeit halber.»

«Wann habt ihr diese Schüsse gehört?»

«Das muss um die Mittagszeit herum gewesen sein.»

«Nein, es war viel später», sagte Henry zu Alex.

Auch das hatte Alex in seiner Zeit bei der Polizei gelernt: Zeitangaben von Zeugen konnten extrem divergieren.

«Hey, Kleiner, da hat jemand Jaspers Hund gejagt», sagte Renner ziemlich laut. So laut, dass es sogar Henry hören konnte. Er verdrehte die Augen.

«Und warum sollte jemand auf Jaspers Hund schiessen?», fragte Alex.

«Das weiss ich auch noch nicht», antwortete Renner. «Aber wir werden es herausfinden.»

 

«Aber wie wollen wir das denn anstellen, hier oben …»

«Hey, Alex!», rief Henry dazwischen. «Sag dem Renner, dass wir Haberer gesehen haben!»

«Was sagt Henry?», fragte Renner, der den Zwischenruf des Fotografen gut gehört hatte. «Haberer ist auch da oben?»

«Ja… also nein…, vielleicht», versuchte Alex zu erklären. «Henry will Haberer in einem Helikopter gesehen haben.»

«Und du?», fragte Renner.

«Ich war am Schreiben und habe nichts gesehen.»

«Na ja», sagte Renner. «Ihr zwei bleibt auf alle Fälle dort oben und sucht den Hund. Das ist sowieso eine gute Idee. Falls der Hund nicht auftaucht, können wir morgen eine Umfrage bei Wanderern machen. Du weisst ja, wir lancieren morgen in der Zeitung die Suche nach dem Hund.»

«Wir sollen hier oben bleiben?», fragte Alex nochmals nach.

Nun war es um Henry geschehen: «Kommt nicht in Frage! Himmelarsch! Der Renner hat eine Macke! Ohne mich. Ich haue ab. Ich habe noch andere Termine. Ehrlich, diese Scheisse könnt ihr alleine machen!»

«Ist Henry gerade am Ausflippen?», fragte Renner belustigt.

«Ja, so etwas in der Art», sagte Alex.

«Soll sich mal wieder einkriegen, ihr bleibt dort oben. Basta. Geht zurück zum Faulhorn, macht euch einen netten Abend. Ich rufe gleich Hüttenwart Balmer an. Er hat sicher noch irgendwo zwei Betten für euch. Also bis später.»

Henry war bereits losmarschiert.

«Henry», rief Alex. «Jetzt bleib mal cool.»

«Nein.» Er streckte Alex die Fototasche hin. «Da, nimm meinen Fotoapparat. Mach den Quatsch alleine.»

Später rief Henry Tussot seinen Chef Sébastien Constantin an. Der liess ebenso wenig mit sich diskutieren wie Peter Renner. Séb machte Henry klar, dass diese Story mit grösster Priorität behandelt würde. Da fügte sich Henry und trottete mit Alex Richtung Faulhorn.

Alex gefiel die Sache. Er fühlte sich als Reporter. Das war das, was er schon immer werden wollte.

Was ihm weniger gefiel, war die SMS seiner Freundin Mara: «Lieber Alexander, Du hast mir am Wochenende gefehlt. Deshalb bin ich auf dem Weg zum Bahnhof in Brig. Werde Dich besuchen. Wann hast Du Feierabend?»

Mara war eine der wenigen, die sich auch in SMS-Texten an die Rechtschreibung hielten. Dies hing nicht nur mit ihrer Arbeit als Lehrerin zusammen, Mara wehrte sich grundsätzlich gegen eine Verluderung der Sprache. Deshalb nannte sie Alex auch immer bei seinem vollen Namen Alexander. Mara pflegte zudem ihren Dialekt, aus ähnlichen Gründen. Die meisten Oberwalliser sprachen zwar noch Walliserdeutsch, trotzdem wurde es langsam verwässert. Auch Alex, der lange in Zürich und nun in Bern lebte, sprach nicht mehr ein lupenreines Walliserdeutsch.

Wohl oder übel musste Alex nun Mara mitteilen, dass er nicht nach Hause komme. Natürlich würde sie das verstehen, es war ja nicht das erste Mal, dass er sie wegen «Aktuell» vertrösten musste. Trotzdem war beiden längst klar, dass ihre Beziehung seit seinem Engagement bei «Aktuell» in eine kritische Phase geraten war. Denn seit er hin und wieder auch am Wochenende arbeiten musste, war die gemeinsame Zeit noch rarer geworden. Er hatte Mara zwar einmal den Vorschlag gemacht, sie solle doch in Bern einen Job annehmen, war aber nicht unglücklich, dass sie dies ablehnte. Wahrscheinlich, so vermutete Alex, hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, er würde bald ins Wallis zurückkehren und bei der dortigen Lokalzeitung einsteigen. Der Chefredakteur des «Walliser Echos» war mit Maras Familie befreundet. Für Alex wäre damit der Weg für eine schöne Journalistenkarriere im Wallis geebnet. Alex sagte es Mara zwar nicht direkt, doch für ihn war dies keine Option. Er wollte höher hinaus. Für ein nationales Blatt schreiben. Wie jetzt für «Aktuell». Vielleicht würde er sogar mal den Sprung zu einer Zeitung in Deutschland schaffen.

Er schrieb Mara, dass er auf dem Faulhorn bleiben müsse.

Mara simste zurück, dass dies zwar schade, aber in Ordnung sei. Sie würde ihn vermissen, wünsche ihm aber viel Erfolg für die Story.

Alex schrieb: «vermisse dich auch sehr».

Aber das tat er nicht.

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

Die Pool-Party in der Lemmovski-Villa endete mit Tränen.

Als Emma Lemmovski vor einer halben Stunde von ihrem Besuch bei der «Aktuell»-Redaktion in Bern zurückgekommen war, hatte sie sich kurz am Schwimmbecken gezeigt. Die Stimmung war zu diesem Zeitpunkt fröhlich und ausgelassen. Weder ihre Söhne noch die fünf anderen Kinder nahmen gross Notiz von ihr. Sie spielten eine Art Wasserball, jedenfalls balgten sich sämtliche Kids um den Ball, rissen und zerrten daran, tauchten ab und wieder auf. Da Emma sah, dass alles in Ordnung war und Jana, ihr Kindermädchen, die Lage beobachtete, zog sie sich in ihr Büro zurück. Sie war nicht der Typ Mutter, der sich ins Spiel der Kinder einmischte.

In ihrem Büro checkte sie die Mails, beantwortete sie und zappte danach auf die «Aktuell-Online»-Page.

Aufgemacht war natürlich die Jasper-Story.

Titel: «Jaspers Tod noch immer ein Rätsel»

Emma Lemmovski wurde ein wenig unruhig, weil sie wieder wilde Spekulationen befürchtete. Doch der Artikel war neutral gefasst. Ein Polizeisprecher wurde zitiert. Die genaue Unfallursache sei zwar nach wie vor nicht geklärt, aber nach dem Stand der Ermittlungen müsse man davon ausgehen, dass Jasper sehr unglücklich gestolpert oder ausgerutscht sei und dann das Gleichgewicht verloren habe. Fremdeinwirkung könne praktisch ausgeschlossen werden. Ob Jasper ein gesundheitliches Problem gehabt habe, könne noch nicht gesagt werden.

Danach folgte eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Aufgemacht war der Text mit Fotos der Unglücksstelle von oben, die offenbar ein Agenturfotograf aus einem Helikopter geschossen hatte.

Ein zweites Foto zeigte Alfred Jasper. Emma Lemmovski klickte darauf und wurde zu einer Diashow geführt, die 15 Bilder aus Jaspers Leben zeigte.

Neben dem Hauptartikel war ein zweiter Bericht.

Titel: «Wege sind sehr sicher»

Text: «‹Aktuell›-Reporter schritten den Weg, den Alfred Jasper am Sonntag wohl zuletzt gegangen war, heute ab. Sie konnten sich davon überzeugen, dass die Bergwege zwar schmal und steil, aber in bestem Zustand sind. ‹Es müssen wirklich sehr unglückliche Zufälle zusammengekommen sein, die zu diesem schrecklichen Sturz geführt haben›, berichtet Reporter Alexander Gaster exklusiv von der Unfallstelle. ‹Die Wanderung ist als schwierig gekennzeichnet, doch Jasper war gut ausgerüstet und ein sehr erfahrener Berggänger.›»

Emma Lemmovski fand diesen Text in Ordnung, obwohl er für sie rein sprachlich keine Meisterleistung darstellte. Aber mit den Online-Texten war sie nachsichtig, diese mussten vor allem schnell aufgeschaltet werden.

Bebildert war dieser Artikel mit den Fotos von Henry Tussot. Auch das betrachtete Verlegerin Emma Lemmovski als gelungen.

Weniger Freude hatte sie an einer Box beziehungsweise einem Link, der zu einem kurzen Film führte.

Titel: «So volksnah war Alfred ‹Fredu› Jasper»

Der Clip zeigte Alfred Jasper ausgelassen in einer Gartenwirtschaft, wie er ein Bier trank und mit anderen Gästen schwatzte und lachte. Das Filmchen war offenbar ein Ausschnitt aus einem längeren Fernsehfilm, der gedreht worden war, als Alfred Jasper zum Nationalratspräsidenten gewählt wurde. Das war vor fünf Jahren gewesen, Emma erinnerte sich daran. Denn sie und ihr Ehemann David waren damals zur Feier in Jaspers Wohnort Bönigen eingeladen. Jasper war, wie in der Schweiz üblich, nur ein Jahr lang Präsident. Ein fleissiger Web-Redakteur hatte wohl diesen TV-Beitrag ausgegraben, eine Sequenz ausgeschnitten und ins Netz gehängt.

Na ja, dachte Emma, Online-Journalismus.

Ein weiterer Artikel befasste sich mit Jaspers politischem Schaffen. Dieser Text stammte nicht von Politik-Chef Haberer, sondern war ein Bericht der Schweizerischen Depeschenagentur, was Emma erstaunte, aber nicht weiter beschäftigte. Dann kam ihr in den Sinn, dass Haberer schon an der Morgenkonferenz nicht anwesend gewesen war. Dies war zwar nicht aussergewöhnlich, sie nahm sich trotzdem vor, sich später bei Chefredakteur Muller über Haberer zu erkundigen.

Zum Schluss wollte sie noch die Schlagzeilen der anderen Themen lesen, doch plötzlich schrien die Kinder.

Sie rannte sofort zum Pool.

Kein Kind war mehr im Wasser. Mehrere weinten, die andern plapperten durcheinander. Jana versuchte, die Kinderschar zu beruhigen.

Als Jana Emma erblickte, rief sie: «Im Wasser liegt eine tote Ratte!»

Tatsächlich, Emma sah sie nun auch. Das Tier lag mitten im Becken auf dem Grund.

«Geh mit den Kindern ins Haus», sagte Emma zu Jana. «Sie sollen sich abtrocknen und anziehen. Danach kannst du ihnen Tee oder Schokolade geben.»

Die Kinder folgten Jana und beruhigten sich.

Emma Lemmovski zog ihre Schuhe, den Hosenanzug und die Bluse aus. Nur mit ihrem weissen BH mit Blumenmuster und dem dazu passenden String bekleidet, stieg sie in den Pool, tauchte unter und kletterte wenige Sekunden später aus dem Becken. In der rechten Hand hielt sie die Ratte am Schwanz. Jemand hatte dem Tier eine Schnur um den Hals gebunden und einen kleinen Stein daran befestigt. Mit schnellen Schritten lief Emma zu den Blumen- und Gemüsebeeten, warf die Ratte auf den Kompost, holte sich danach ihre Kleider und verschwand im Haus.

Im Bad schnappte sie sich ein Frotteetuch, wickelte es um ihre Taille und ging in die grosse Küche, wo die Kinder Tee und Schokolade tranken und Feingebäck verschlangen.

«Hi Kids!», rief Emma. Aus ihren Haaren tropfte das Wasser und klatschte auf den weissen Küchenboden. «Na, habt ihr den Schock verkraftet?»

«Das war nicht so schlimm!», rief Emmas Sohn Marcel.

«Ist die Ratte tot?», fragte ihr jüngerer Bub Rudolf.

«Ja, keine Angst, die kommt nicht wieder», sagte Emma.

Die anderen Kinder schwiegen, sie schauten Emma bloss an.

«Nun, was wisst ihr denn über die Ratte?», fragte Emma. «Habt ihr gesehen, wie sie ins Schwimmbad gefallen ist?»

«Nein», riefen alle.

Bis auf Marcel, den Emma im Auge behielt.

«Tja, die hatte wohl auch heiss, konnte aber nicht schwimmen», sagte Emma. Die Kinder lachten.

Bis auf Marcel.

Um 16.45 Uhr schickte Emma Lemmovski die Nachbarskinder nach Hause. Marcel und Rudolf mussten auf ihre Zimmer gehen, um die Hausaufgaben zu machen.

Emma Lemmovski wechselte die Unterwäsche, zog Jeans und ein T-Shirt an und rief danach von der Küche aus die «Aktuell»-Redaktion an. Da Chefredakteur Muller nach zweimal Klingeln nicht abnahm, was Emma fürchterlich nervte, wählte sie die Nummer des stellvertretenden Chefredakteurs Christian Reich. Dieser nahm sofort ab.

«Ja, Frau Lemmovski?»

«Ist der Artikel über Jasper schon fertig?», fragte Emma.

«Nein, das dürfte schon 19 Uhr werden.»

«Gut. Mailen Sie ihn mir bitte.»

«Natürlich.»

«Und sagen Sie Renner nichts davon.»

«Natürlich.»

«Ist Haberer mittlerweile aufgekreuzt?»

«Nein. Soll ich ihm etwas ausrichten?»

«Nein, danke.»

Wenig später klopfte Emma an die Türe ihres Sohnes Marcel.

«Geht es mit den Aufgaben?»

«Ja, schon fertig, waren ganz einfach», sagte Marcel triumphierend.

«Ist schon merkwürdig, Marcel. Heute morgen bei meinem Training im Wasser lag noch keine Ratte im Pool.»

«Die ist wohl reingefallen, als du weg warst», argumentierte Marcel.

«Einfach so reingefallen?»

«Hast du vorhin selbst gesagt.»

«Ja, vor deinen Freunden.»

«Na, und jetzt?»

«An ihrem Bauch war ein Stein festgebunden.»

«Wäh!», machte Marcel nur.

«Wenn du die Ratte nicht da reingeschmissen hast, um die anderen zu erschrecken, dann müssen wir der Sache nachgehen.»

«Ich habe sie aber nicht reingeschmissen.»

«Bist du dir da ganz sicher?»

«Ja, ganz.»

Emma nahm ihren Sohn in die Arme. Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Punkt 17 Uhr versammelten sich die Abteilungsleiter der «Aktuell»-Redaktion im Konferenzzimmer. Mit dabei war auch Sandra Bosone. Sie war von News-Chef Peter Renner aufgeboten worden, weil sie nach der Sitzung die verschiedenen Recherchen von Alex Gaster und Flo Arber sowie ihre eigenen Erkundigungen nach den Vorgaben der Chefredaktion zu einem süffigen Artikel zusammenbauen sollte.

 

Geleitet wurde das Meeting von Christian Reich, dem stellvertretenden Chefredakteur.

«Don Muller hat eine Verlagsverpflichtung», sagte Reich und kam dann gleich zur Sache. «Die morgige Ausgabe haben wir schon im Verlauf der letzten Stunden recht gut planen können. Gibt es noch News?»

«Es gab einige Reaktionen auf Sandras Spendengeschichte in der heutigen Ausgabe», meldete Peter Renner. «Aber nichts Berauschendes. Das übliche Blabla einiger Politiker und Experten. Ich schlage vor, wir machen daraus eine etwas längere Kurznachricht.»

«Einverstanden. News aus den anderen Abteilungen?»

Die angesprochenen Redakteure schüttelten den Kopf.

«Kommen wir also zu Jasper.»

Bildchef Sébastien Constantin drückte einige Knöpfe. Das Licht ging langsam aus, von der Decke schwebte der riesige Bildschirm, worauf in kurzen Abständen die Fotos von Henry Tussot erschienen. Danach das Bild von Jaspers Hund Rolf.

«Jö», machte Unterhaltungschefin Jeannette Kohli, hielt aber sofort die Hand vor den Mund.

Schliesslich zeigte Sébastien Constantin noch die Agenturfotos aus dem Helikopter. Danach drückte er wieder die Knöpfe, das Licht ging an, und der Bildschirm wurde an die Decke gezogen.

«Wir haben also keine aktuellen Fotos der Familie?», fragte Christian Reich.

«Nein», antwortete Renner knapp.

«Warum nicht?»

«Weil die Familie nicht wollte.»

«Ach ja?» Dies klang ziemlich vorwurfsvoll, was Sandra fürchterlich nervte.

«Wir haben Zitate des Sohnes und die Story mit Jaspers Hund», sagte Renner ruhig.

«War denn jemand bei Jaspers?», insistierte Reich.

«Nein. Wir konnten nur telefonieren.»

«So», sagte Reich. Dann holte er Luft und fügte süffisant hinzu: «Wir haben es also gar nicht versucht, bei Jaspers ein Interview und ein paar Fotos zu machen?»

Sandra kochte vor Wut. Doch Renners Blick sagte ihr: Halt die Schnauze, Mädchen!

«Doch, am Telefon», sagte Renner. «Es lag nicht mehr drin. Die Hunde-Story ist prima, herzerweichend, aber nicht reisserisch. Wir helfen Jaspers, in der Tragödie ihren Liebling zu finden.»

Renners Coolness war nur gespielt. Er hasste dieses Getue. Reich führte sich auf, als sei er die Lemmovski höchstpersönlich, fand Renner. Liegt wohl daran, dass beide Deutsche sind, sagte er sich. Aber er würde sich nicht provozieren lassen. Er war zu lange Journalist und wusste genau, woher der Wind wehte. Chefredakteur Muller war wegbefördert worden, das war für Renner klar. Die Lemmovski wollte mehr Kontrolle und mehr Einfluss aufs Blatt nehmen. Also schob sie Muller, mit dem sie sowieso nie richtig warm geworden war, nach oben, damit sie ihren Liebling Reich besser steuern konnte. So hatte sie ohne Aufruhr alles viel besser im Griff. Vor allem hatte sie ihn, Renner, besser im Griff. Aber da würde sie sich noch täuschen. Noch halb in Gedanken versunken, hörte Renner plötzlich ganz erstaunt, wie Reich sagte: «Gut, Peter, das ist eigentlich wahr. Also los, machen wir das Layout.»

Falsche Ratte, dachte Renner.

Wieder drückte der Bildchef einige Tasten, das Licht ging erneut aus, und auf dem hinuntergefahrenen Bildschirm erschien die Titelseite des «Aktuell».

Das grosse Foto stammte von Henry und zeigte die Unfallstelle. Ins Bild montiert waren ein roter Pfeil, der auf den Ort von Jaspers Sturz zeigte, und ein kleines Foto von Jasper. Darunter, freigestellt, Hund Rolf. Titel und Texte waren noch mit Blindtext aufgefüllt, also mit zusammenhangslosen Wörtern und Buchstaben.

«Das ist meine Idee für die Geschichte», sagte Chefgrafiker Alphonse Crevoisier. «Mit diesem Layout erzählen wir im Prinzip die ganze Story, wie sie mir Renner vor dem Meeting geschildert hat.»

«Nein, nein, nein», mischte sich Reich sofort ein. «Die Hundestory bringen wir auf Seite 3.»

Grafiker Alphonse schnitt den Hund raus und ordnete die anderen Bilder neu.

«Viel besser», sagte Reich.

«Nun, ich finde, die Seite ist sehr fad», gab Alphonse zu bedenken. «Ohne Hund ist das alles sehr düster.»

«Ist ja eine düstere Geschichte.»

«Aber wir wollen die Leser nicht erschrecken.»

«Wir machen das so», beendete Reich die Diskussion.

Er blickte zu Renner: «Schreibst du die Story?»

«Nein, Sandra.»

«Okay, dann sind wir mal gespannt.»

«Wie meinen Sie das?», fragte Sandra, die sich gleich wieder aufregte.

«Wie ich es sagte, Frau Bosone.»

Er betonte ihren Nachnamen. Damit signalisierte er, dass er mit ihr nicht per Du war und dass dies wohl noch länger so bleiben würde. Unter den Journalisten war eigentlich das Du üblich. Ausser bei Nachwuchskräften, diese wurden von den Chefs lange gesiezt. Das hatte Tradition und stammte aus der Zeit, als «Aktuell» noch eine Kaufzeitung war und sich die damaligen Chefredakteure gerne mit den Machern sogenannter Qualitätszeitungen wie der Neuen Zürcher Zeitung verglichen. News-Chef Renner und Unterhaltungschefin Jeannette Kohli hielten nichts davon und stellten sich immer gleich mit Vornamen vor.

Der stellvertretende Chefredakteur Reich hatte ausserdem die Angewohnheit, dass er seine Artikel mit «Dr. Christian Reich» unter- oder überschrieb. Worin er den Doktor gemacht hatte, wusste niemand und interessierte auch niemanden. Die meisten Redakteure hielten es für altmodisch und peinlich.

Plötzlich platzte Jonas Haberer mit einem lauten «Sorry» in den Raum. Er stapfte in seinen Cowboystiefeln, die ziemlich staubig waren, durch das ganze Konferenzzimmer. Klack – klack – klack. Dann liess er seinen schweren Körper in einen Stuhl fallen und strich sich die Haare, die noch ungepflegter waren als sonst, aus dem Gesicht.

«Ich bin zu spät. Aber ich habe News!»

«Toll, was für welche?», fragte Reich.

Sandra kam es so vor, als sei Reich beim Auftritt des Politik-Chefs ein gutes Stück kleiner geworden. Kotzbrocken gegen Wichtigtuer, dachte sie und blickte zu Peter Renner, der immer noch wie in Gips gegossen dasass, nun aber lächelte.

Haberer kramte aus seiner Westentasche ein gefaltetes Papier hervor und warf es auf den Tisch.

«Da ist der Knaller», sagte Haberer mit klangvoller Stimme. Und zu Renner meinte er: «Sorry, Peter, ich konnte dich nicht mehr vorinformieren. Habe den Wisch soeben von meinem Informanten gemailt bekommen.»

«Wir planen gerade die Jasper-Story», sagte Reich. «Wenn du also eine Story hast, die wir nicht auf morgen verschieben können, muss sie schon umwerfend sein. Denn die Jasper-Story ist wirklich …»

«Das hat mit Jasper nichts zu tun», warf Haberer ein. «Das ist besser! Und schieben kann man diesen Brüller auf keinen Fall, denn andere Journalisten sind ebenfalls daran. Aber ich habe sie natürlich als Erster.»

Sandra konnte sich nicht vorstellen, was am heutigen Tag die Jasper-Story noch toppen könnte. Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihren Aufmacher. Falls Haberer tatsächlich einen Knaller hatte, wäre sie mit ihrem Jasper-Artikel weg von Seite 1.

«Ist das die Sache, die du mal kürzlich erwähnt hast?», fragte Peter Renner. «Hast du sie jetzt hart?»

«Nein, das ist eine andere. Aber diese hier ist knallhart!», prahlte Haberer.

«Na, dann schiess endlich los.» Reich versuchte, Haberers Show ein bisschen zu beschleunigen.

«Okay», setzte Haberer an. «Stellt euch vor, unsere Armee, das Fundament unserer Demokratie, anerkannt vom Volk und von der ganzen Welt, diese Armee also, die uns durch den 2. Weltkrieg, durch den Kalten Krieg …»

«Mach einen Punkt», unterbrach Unterhaltungschefin Jeannette Kohli den Politik-Chef. «Dein Pathos ist völlig daneben. Die Armee steckt seit Jahren in der Krise und sucht nach irgendwelchen Feinden und Aufgaben. Und auch das Volk ist gespalten und steht überhaupt nicht dahin …»

«Kommt zur Sache», mahnte Reich noch einmal.

«Gut», sagte Haberer, lehnte sich zurück und schrieb mit der rechten Hand grosse Buchstaben in die Luft.

«Die Schlagzeile lautet», sagte er endlich, «Armee plant, sich selbst abzuschaffen!»

BERGHOTEL FAULHORN

Auf 2681 Metern über Meer herrschte reger Betrieb. Zwar waren die Asiaten und die anderen Tagestouristen längst gegangen, doch nun bevölkerten Wanderer, Bergsteiger, Mountainbiker und Gleitschirmflieger das Faulhorn. Sie waren heraufgekommen, um hier oben zu übernachten. Sie kamen im Berghotel an, deponierten in einem separaten Raum ihre Sportgeräte – Walking-Stöcke, Rucksäcke, Bikes, Gleitschirme –, zogen die Schuhe aus und schlüpften in Hüttenfinken. Danach gingen sie ins Massenlager oder tranken auf der Terrasse einen Tee, manche auch ein Bier oder einen Weisswein.