Der Storykiller

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Alex und Henry fielen allein schon deshalb auf, weil sie nicht wie Bergsportler gekleidet waren. Alex trug Jeans, statt einer Windjacke oder einem Pullover hatte er nur eine schwarze Jeansjacke dabei, die er sich wegen der Hitze um die Hüften gebunden hatte. Er hatte nicht mit einem längeren Aufenthalt in den Bergen gerechnet und sich deshalb am Morgen für ein Outfit entschieden, in dem er durchaus zu einem Interview im Büro hätte erscheinen können. Henry trug Marken-Jeans und ein weisses Hemd. Die Bügelfalten waren zwar noch erkennbar, das Hemd jedoch war zerknittert und durchgeschwitzt. Jacke hatte er keine dabei, denn das edle Veston hatte er im Auto gelassen. Henry hatte eine kurze Nacht hinter sich, da er an einer Party für die «Aktuell»-Unterhaltungsabteilung einige Prominente hatte fotografieren müssen. Weil er im Laufe des Abends ziemlich viel getrunken hatte, schlief er einige Stunden im Auto. Danach wollte er nach Hause, aber sein Chef Sébastien Constantin hatte ihn vorher geweckt und mit dem Ausflug in die Berge überrascht.

Die beiden Reporter fielen aber vor allem auf, weil Henry einen Wutanfall bekam, als Berghotelwirt und Hüttenwart Balmer ihnen nun mitteilte, dass es erstens keine Einzelzimmer gebe und zweitens die wenigen Zwei- und Dreibettzimmer bereits belegt seien.

«Das heisst, wir sollen im Massenlager bei diesen stinkenden Bergfuzzis pennen?», schnaubte Henry.

«Tut mir leid, ich habe es Peter gesagt, als er mich vorhin angerufen hat», sagte Balmer.

«Was, der Renner, der hat das gewusst? Und wir Idioten kraxeln da hinauf? Und jetzt müssen wir alles wieder hinunter, und bis wir an der Bergstation sind, fährt diese Scheissbahn nicht mehr.»

«Genau, die macht Schluss», sagte Balmer. «Es ist bald 18 Uhr.»

«Das darf nicht wahr sein!»

«Wir sind in den Bergen, nicht in Zürich.»

«Diese Scheisse, oh Mann, ich reiss dem Renner den Kopf ab.»

Henry liess seine Fototasche und seinen Rucksack mit dem Laptop einfach stehen und ging hinaus.

Alex wollte sich bei Balmer entschuldigen.

«Vergiss es, dein Fotograf ist eben ein Stadtmensch», sagte Balmer. «Also willkommen, ich bin Fritz. Kenne Peter Renner von früher.» Er lachte kurz, fuhr mit der Hand erst über seinen dunklen Dreitagebart, danach durch die halblangen, schwarzen, gelockten Haare. Dann sagte er: «Damals war er noch Sportreporter und ich ein irrer Skifahrer.»

«Oh, hoffentlich erfolgreich», sagte Alex.

«Ja, im Training und bei den Zwischenzeiten der Rennen. Dann bin ich dummer Hund meistens entweder an einem Tor vorbeigerast, oder ich habe mich mit einem Salto mortale von der Piste verabschiedet. Na ja, irgendwann hatte ich die Verletzungen satt, übernahm das Sportgeschäft meiner Eltern, verdiente ganz gut und kaufte dann dieses Berghaus.»

«Tja, und Renner ist News-Chef bei ‹Aktuell› geworden.»

Ja, ja, der Peter, auch ein verrückter Kerl. Hatten es immer lustig. Ich trank abends eben gerne ein, zwei, drei Biere. Die anderen Jungtalente gingen ins Krafttraining oder ins Bett. Ich machte Party. Oft sogar mit Peter.»

Fritz Balmer steckte seine grossen Hände in die Taschen seiner beigen Cargo-Hose und schwieg einen Moment.

Er träumt wohl von alten Zeiten, dachte Alex.

Dann sagte Balmer: «Renner erzählte mir, ihr sucht Jaspers Hund.»

«Ja, aber ich weiss nicht, wie wir das anstellen sollen.»

«Wir gehen morgen in aller Frühe los. Ich komme mit euch. Im Herbst gehe ich jeweils auf die Jagd, ich kenne hier oben jeden Winkel. Den finden wir schon.»

«Super. Hast du heute die Schüsse auch gehört?»

«Nein, ich war im Keller und habe Leitungen repariert. Aber ein Wanderer hat mich schon danach gefragt.»

«Was könnten diese Schüsse bedeuten, ist das normal?»

«Nein, ich wundere mich auch.»

«Na ja …»

«Du meinst doch nicht, Jaspers Hund wurde erschossen?», fragte Balmer.

«Renner denkt das wohl.»

«Dann sollten wir das auch denken.»

Alex packte Henrys Sachen und ging auf die Terrasse. Dort sass Henry an einem Tisch und strahlte über das ganze Gesicht.

«Was ist denn mit dir los?», fragte Alex. «Nicht mehr sauer?»

«Oh, nein, alles bestens», meinte Henry und grinste.

«Und warum dieser Sinneswandel?»

«Das wirst du gleich sehen.»

Eine halbe Minute später kam eine junge Frau aus der Küche, auf dem Serviertablett balancierte sie eine Flasche Bier und ein Glas. Mit jedem Schritt, den die junge Frau näher kam, verstand Alex den Grund für Henrys Strahlen besser. Die Frau war sehr hübsch, gross, ungeschminkt, hatte dunkle Locken und leuchtend blaue Augen.

«Danke, Tina», sagte Henry. «Das ist Alex, unser Starreporter.»

«Hi, freut mich. Was möchtest du?»

«Dasselbe», sagte Alex und fühlte sich gerade so, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Mädchen geredet.

«Guck dir das an», flüsterte Henry zu Alex, als Tina zurück ins Haus ging. «Dieser knackige Po, Alex, ich verliebe mich gerade.»

«Du spinnst total», sagte Alex. «Ein hübsches Mädchen, und du bist hin und weg.»

«Puuuuh», machte Henry nur.

«Kennst du sie denn?»

«Non, gerade erst kennengelernt! Die ist tausendmal hübscher als Cordula.»

«Cordula Hahne? Unsere Assistentin?»

«Klar. Cordula ist verdammt sexy, okay, da kommt man schon mal auf gewisse Gedanken. Schliesslich habe ich sie einmal im Studio fotografiert.»

«Bitte, was?», sagte Alex. Er konnte es kaum glauben.

«Natürlich, Alex.» Henry lachte und fügte dann hinzu: «Im Bikini vor einem Truck. Sieht scharf aus, die Kleine.»

«Gibt es ja nicht.»

Da piepste Alex’ Handy. Sandra hatte ihm eine SMS geschickt: «hi du, habe unseren artikel geschrieben. kein hit. aber renner findet ihn gut. schade hatte ich nicht mehr platz. aber morgen schlagen wir richtig zu, wenn du den hund findest. dann schreiben wir zusammen, ok? k sandra».

Alex kapierte nicht ganz, was Sandra meinte. Zu wenig Platz, zu wenig Text? Bei einem Aufmacher?

Er simste ihr zurück, bei ihm sei alles bestens, ausser dass Henry ein wenig schwierig tue. Auf Sandras Probleme mit der Textlänge ging er nicht ein, da Tina soeben mit seinem Bier kam.

«Was macht ihr zwei eigentlich hier oben?», fragte sie Alex, nachdem sie eingeschenkt hatte.

«Diesen toten Politiker abfeiern», sagte Henry schnell. Er liess Alex gar nicht zu Wort kommen.

«Was heisst denn das, ‹abfeiern›?», fragte Tina.

«Henry meint, dass wir versuchen, Alfred Jaspers letzte Stunden zu rekonstruieren und dass wir ausserdem seinen Hund suchen», erklärte Alex.

«Rolf?»

«Ja. Du kennst Jaspers Hund?»

«Klar. Jasper war oft hier oben. Dann spielte Rolf immer mit meiner Anouschka.»

«Das ist dein …»

«Mein Hund, also Hündin. Die streift wohl gerade durch ihr Revier.»

«Ach so», sagte Alex. «Die läuft auch einfach so weg, wie Rolf?»

«Nein. Die kommt immer brav zurück. Ich denke, Rolf hat einen Schock. Aber er kommt sicher zurück. Und wenn ihn jemand findet, weiss man schnell, zu wem er gehört. Rolf trägt ein Halsband mit einer kleinen Tasche, in der eine Plakette mit der Adresse seines Herrchens drinsteckt.»

«Praktisch.»

«Ein Hund mit Tasche», mischte sich Henry nun wieder ins Gespräch ein. «Das hab ich noch nie gesehen. Muss ich fotografieren.»

«War so eine Idee von Jasper», erzählte Tina weiter. «In der Tasche verstaute Jasper auch seinen Haus- und seinen Autoschlüssel und Kleingeld und was weiss ich noch alles für Kleinkram.»

«Hammer», sagte Henry. «Wär mal eine lustige Tierreportage! Hunde als Lastesel ihrer Meister.»

Tina wurde von anderen Gästen gerufen.

«Ist sie nicht eine Göttin?», sagte Henry, kurz nachdem Tina gegangen war.

Weil Alex nicht antwortete, fragte ihn Henry, ob er sich auch gerade verliebt habe.

«Was? Nein. Aber …» Alex stockte.

«Ja, was denn?»

«Ein verschwundener Hund mit Tasche.»

«Und?»

«Was ist in der Tasche?»

«Na, hast ja gehört, so Kleinkram eben.»

«Kleinkram? Okay. Dann noch diese Schüsse.»

«Alex, was ist los, drehen deine Hormone im roten Bereich?»

«Wetten, dass Rolf tot und sein Halsband weg ist?!»

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

Um 19.14 Uhr piepste Emma Lemmovskis Handy und zeigte ihr an, dass sie von der Redaktion eine Mail erhalten hatte. Emma war gerade frisch geduscht und kämmte ihre langen, blonden Haare. In ihrem Ankleideraum streifte sie sich ein enges, ärmelloses T-Shirt über und schlüpfte in einen kurzen Jeansrock. Barfuss ging sie in ihr Büro.

In der Mail informierte sie der stellvertretende Chefredakteur Christian Reich über den neuen Aufmacher, die Exklusivgeschichte von Jonas Haberer über die Abschaffung der Armee und über weitere wichtige Artikel der morgigen Ausgabe. Er hatte Sandra Bosones Beitrag über Jasper als Attachement angehängt. Emma las den Text genau durch.

Sie las ihn ein zweites und ein drittes Mal.

«Das ist verdammt gut», sagte sie schliesslich laut vor sich hin. «Diese Sandra kann tatsächlich etwas. Renner hat schon einen Riecher für Jungtalente.»

Sie mailte Reich, dass sie mit dem Artikel einverstanden sei. Sie schrieb explizit «einverstanden». Beliebte Journalisten-Wörter wie «super», «top» oder «mega» mied Emma Lemmovski. Sie war der Ansicht, ein Lob sollte nur dann ausgesprochen werden, wenn wirklich etwas Ausserordentliches geleistet worden war. Die inflationäre Lobhudelei war ihr zuwider. Sie fügte ausserdem hinzu, dass sie sich sehr über Haberers Primeur freue.

 

Eine zweite Mail schrieb sie an Renner: «Geht doch, Zecke. Grüsse.»

Dann zappte sie auf die «Aktuell-Online»-Page. Dort hatten die Journalisten die Jasper-Story mittlerweile nach unten verschoben und den Nachzug auf Sandra Bosones Artikel in der heutigen «Aktuell»-Ausgabe über die Spendenaffäre im Hilfswerk «Sonnenaufgang» aufgemacht.

Titel: «Empörung über Spendenskandal – Massnahmen gefordert»

Im Text kamen dann etliche Politiker von rechts bis links zu Wort, die sich zu den veruntreuten Spendengeldern äusserten und schärfere Kontrollen durch staatliche Instanzen forderten. Emma Lemmovski war äusserst zufrieden. Was sie immer verlangte, wurde tatsächlich umgesetzt: Themen, die in der Zeitung angerissen wurden, sollten wenn immer möglich in der Online-Ausgabe aufgegriffen und weitergezogen werden.

Ein Zwischentitel ärgerte sie allerdings: «Sonnenuntergang bei ‹Sonnenaufgang›?»

Na ja, dachte sie, ein solcher Titel über ein Hilfswerk mit dem Namen «Sonnenaufgang», das möglicherweise bald schliessen muss, liegt natürlich auf der Hand. Trotzdem hielt Emma Lemmovski solche Wortspiele weder für originell noch für journalistisch korrekt, sie fand sie einfach nur blöd.

Sie fuhr den Computer herunter und ging zu ihren Söhnen in den Garten. Die beiden hatten bereits zu Abend gegessen, TV geschaut und spielten nun noch eine Runde Tischtennis.

Jana, die sowohl Kindermädchen als auch Hausangestellte war, bereitete in der Küche das Essen für die Eltern Lemmovski zu. Da David Lemmovski meistens erst um 20 Uhr nach Hause kam, war es bei der Familie üblich, dass die Kinder nicht mit den Eltern, sondern mit Jana das Abendbrot einnahmen.

«Hallo zusammen, ich bin da», rief David Lemmovski, als er von der Tiefgarage ins Haus hinaufkam.

Die Kinder unterbrachen sofort den Match und begrüssten ihren Vater. Der 10jährige Rudolf erzählte aufgeregt von der toten Ratte im Pool, sein zwei Jahre älterer Bruder ergänzte, dass die Mama das Tier heldenhaft aus dem Wasser geholt habe.

David Lemmovski schaute seine Frau Emma fragend an, gab ihr einen flüchtigen Kuss und rannte danach mit den Kindern in den Garten.

Emma ging in die Küche zu Jana, half ihr beim Anrichten – es gab kleine Steaks und Salat –, rief ihre drei Männer ins Haus und stieg in der Garderobe beim Entree in weisse Riemchensandalen mit hohen Bleistiftabsätzen.

Marcel und Rudolf sagten «Gute Nacht» und wurden danach von Jana in ihre Zimmer begleitet. David Lemmovski öffnete eine Flasche Wein.

«Was erwartet mich, wenn ich morgen ‹Aktuell› lese?», fragte er.

Emma erzählte von den Ereignissen des Tages. Sie informierte ihn auch darüber, dass sie Chefredakteur Don Muller zum CEO ernannt habe.

«Hoppla, du gibst aber Gas», sagte David.

«Ich musste handeln, Muller ist einfach zu weich. Die Jasper-Story in der heutigen Ausgabe hätte so nicht erscheinen dürfen. Zecke Renner hat viel zu dick aufgetragen mit seinen Mutmassungen. Mittlerweile schmilzt seine ganze aufgeblasene Vielleicht-ist-da-ein-Skandal-versteckt-Story zu einem tragischen, aber simplen Unfall zusammen. Nicht zum ersten Mal.»

«Ich wette mit dir, Renner findet garantiert noch Fleisch am Knochen. Und du hast recht, Muller ist wirklich nicht der ideale Chefredakteur. Tut mir leid, da habe ich mich getäuscht.»

Muller war noch von David Lemmovski zum Chef gemacht worden. Vor fünf Jahren. Damals war David «Aktuell»-Verleger, erst kurz darauf übergab er diesen Job seiner Frau.

«Warum hast du ihn nicht gleich entlassen?», fragte er.

«Ich finde, er repräsentiert das Blatt gegen aussen gut. Deshalb hat er nun den idealen Posten. Als Geschäftsführer und Chefredakteur kann er mit den Werbemenschen ausgehen und wichtig herumlabern, und im Büro wird er sich mit Zahlen herumschlagen müssen.»

«Oh, er wird also das machen, was du so hasst. Superidee.»

«Genau.»

«Und du bist nun die heimliche Chefredakteurin, lässt den Reich spurten und prügelst deinen lieben Renner?»

«Nicht prügeln, David, nein, was denkst du denn, ich werde die Zecke, sagen wir mal, ein bisschen besser begleiten, als dies Muller gemacht hat. Und der Reich steht sowieso auf mich.»

Das Fleisch schmeckte sehr gut, der Salat war für die Gesundheit und die schlanke Linie, der Wein für die gepflegte Stimmung. Emma und David Lemmovski genossen das abendliche Beisammensein, allzu oft kamen sie nicht dazu.

«Was war denn das mit dieser Ratte?», fragte David später.

Emma erklärte ihm die Umstände. Und vor allem ihre Sorge.

«Du meinst doch nicht, dass ein Fremder auf das Grundstück eindrang und diese Ratte im Pool versenkte?»

«Doch, genau das.»

«Ach, ein Bubenstreich.»

«Nein.»

«Emma, du übertreibst. Da will uns jemand belästigen, uns Angst einjagen?»

«Könnte doch sein.»

«Und warum? Weil wir reich sind?»

«Vielleicht.»

«Weil wir erfolgreich sind?»

«Gut möglich.»

«Wegen der Zeitung?»

«Nein, das glaube ich nicht. Einfach ein Neider, ein Irrer?»

David stand auf, stellte sich hinter ihren Stuhl, bückte sich und umarmte sie.

Anders als für ihn war Reichtum für Emma etwas Neues. Sie war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ihr Vater hatte am Fliessband in einem Autowerk gearbeitet, die Mutter als Kassiererin in einem Supermarkt etwas dazuverdient.

Verzicht kannte David Lemmovski nicht. Geld war in seiner Familie nie ein Thema gewesen, es war einfach da.

«Weisst du was, Emma», sagte er und drückte seine Frau nun ein wenig fester. «Kommt es noch einmal zu einem solchen Vorfall, engagieren wir einen Wachmann oder installieren eine neue Alarmanlage. Was meinst du?»

«Ja, vielleicht hast du recht, vielleicht übertreibe ich wirklich. Ich will einfach nicht, dass etwas passiert.»

«Es wird nichts passieren.»

Emma löste sich aus Davids Umarmung, stand auf und küsste ihn. Sie schlang ihr rechtes Bein um seine Beine, küsste ihn weiter, wurde dabei immer fordernder und griff dann mit der linken Hand plötzlich an seinen Po. Davids Hände glitten unter ihren Jeansrock, und als er spürte, dass sie nichts darunter trug, löste er sich schnell von seiner Frau, schloss die Türen zum Esszimmer, streifte die Kleider ab und packte Emma an den Hüften. Fest und gierig, erregt und liebevoll.

Dienstag, 25. August

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Punkt 00.00 Uhr zog Bruce Steinmann den Regler für das Mikrophon nach oben.

«Es ist Mitternacht. Willkommen beim Talk-Radio. Diese Nacht für euch dabei: Bruce Steinmann am Mikrophon und Sandro Gomez im Web.»

Bruce Steinmann drückte einen kleinen Knopf, das «Aktuell-Webradio»-Signet ertönte, danach der Jingle für das «Talk-Radio».

«Bis um fünf Uhr morgens sind wir wieder für euch da, also ruft uns an oder chattet mit uns im Web.»

Er gab die Telefonnummer durch, die Webadresse, dann drückte er erneut einen Knopf, und nun ertönte das erste Musikstück. Bruce, ein dicklicher, 25jähriger Ex-Philosophie-, Ex-Soziologie- und Ex-Medizin-Student, streifte den Kopfhörer von den Ohren, stand auf und bewegte sich zum Rhythmus der Musik. Dazu schüttete er einen Energy-Drink in sich hinein.

«Aktuell-Webradio» lief über «Aktuell-Online» und war ein 24-Stunden-Radio übers Internet. Allerdings wurde von 5 Uhr morgens bis um Mitternacht lediglich Nonstop-Musik aus den Sparten Pop und Rock gesendet. Moderiert wurde nur in der Nacht, meistens von Bruce Steinmann, der mit Hörerinnen und Hörern über alle möglichen Themen diskutierte.

Die Idee zu diesem Talk-Radio stammte von David Lemmovski höchstpersönlich. Er hatte sich immer darüber geärgert, dass in der Schweiz die öffentlich-rechtlichen wie auch die meisten privaten Radiosender spätestens um Mitternacht ihre Moderatoren nach Hause schickten und die Zuhörer einem Computerprogramm anvertrauten. David Lemmovski war der Ansicht, dass gerade in der Nacht viele Leute ein moderiertes Programm wünschten, ja, er war sogar davon überzeugt, dass es für einen Radiosender Pflicht war, in der Nacht seine Hörer zu begleiten und zu betreuen. Viele Menschen konnten dank seines Talk-Radios ihre Probleme mit anderen Zuhörern besprechen, Aufmunterung bekommen oder sich einfach mal mit jemandem freuen.

Einsame Menschen seien dank Talk-Radios weniger einsam – dies war David Lemmovskis Vision, und er sah es auch durchaus als eine Mission.

Da sein Talk-Radio aber nur übers Internet zu hören war, hielten sich die Einschaltquoten in Grenzen. Bei den Schweizer Behörden eine UKW-Frequenz beantragen, um so in den hart umkämpften Radiomarkt einzusteigen, wollte er aber nicht. Seine «Aktuell Media AG» war auf Print und Internet spezialisiert, erfolgreich und bedeutend. Mit Radio- oder Fernsehabenteuern wollte sich David Lemmovski nicht die Finger verbrennen. Denn die «Aktuell Media AG» kämpfte genauso wie alle anderen Verlage mit den Finanzen, hatte aber den grossen Vorteil, in der «Lemmovski Group» eingebettet zu sein.

Bereits während des ersten Musikstücks blinkten im kleinen Talk-Radio-Studio sämtliche Telefonleitungen. Bruce Steinmann stoppte seine Tanzeinlage, liess sich auf den Moderatorenstuhl plumpsen und führte mit einem Hörer ein kurzes Vorgespräch, danach ging er on air.

Der Hörer nannte sich Pesche und erzählte, dass ihn vor wenigen Stunden seine Frau verlassen habe, weil er zu viel mit seinen Kumpels vom Dartclub unterwegs sei.

Im Chat von «Aktuell-Online» trafen sogleich die ersten Meinungen von anderen Zuhörern ein. Sandro Gomez, der den Chat beobachtete, filterte die beleidigenden und unflätigen Sätze heraus und stellte den Rest online.

«der typ muss sich nicht wundern», schrieb eine gisela87, «wenn mein freund jeden tag saufen geht werfe ich ihn auch aus der hütte».

«typisch frau», schrieb darauf ein ninothegreat, «musst deinem freund abends eben etwas bieten, hehe».

Solche Dinge liess der 23jährige, kleine, drahtige Sandro Gomez durchgehen. Anders als am Tag wurden die engen Regeln im «Aktuell-Online»-Chat nachts grosszügig ausgelegt. Gomez hatte auch gar nicht die Zeit für eine lupenreine Prüfung der Beiträge, denn als Produzent des Nacht-Talks sass er ebenfalls im Studio und führte während der Live-Schaltungen die Vorgespräche mit Anrufern, die mit Moderator Bruce Steinmann reden wollten.

Die zwei Nacht-Talker kamen nun richtig auf Touren. Für die anderen Journalisten der «Aktuell»-Redaktion ging der Stress langsam zu Ende. Die Online-Redakteure und die Mobile-Journalisten, die die Handys der User mit News fütterten, und selbst die «Social-Reporters», die die «Aktuell»-Accounts in Networks wie Facebook und Twitter unterhielten, hatten um 24 Uhr Schluss gemacht. Die Reporter der Print-Ausgabe waren schon lange gegangen, selbst die Sportredakteure, die jeweils auf die aktuellen Resultate warten mussten, hatten mittlerweile Feierabend. Nur in der Produktionsabteilung herrschte noch Betrieb. Hier wurden die letzten Texte, Titel und Bildlegenden der neuen «Aktuell»-Ausgabe korrigiert und Fotos für den Druck abgestimmt. Schliesslich gab Produktions-Chef Bernd Teger das «Gut zum Druck». Nun konnten in der Lemmoprint AG, ebenfalls ein Betrieb der «Lemmovski Group», die Maschinen anlaufen.

Um 00.40 Uhr löschte Bernd Tegel in der Produktionsabteilung das Licht, winkte den Nacht-Talkern Bruce Steinmann und Sandro Gomez kurz zu und machte beim Hinausgehen wie immer einen Umweg über den Newsroom.

Dort sass neben Steinmann und Gomez noch einer, der Nachtdienst schob. Georg Becher hatte seinen Dienst um 20 Uhr vom Abendredakteur übernommen. Bis Mitternacht war er vorwiegend mit Gegenlesen der letzten Texte beschäftigt, die die Reporter geschrieben hatten. Daneben hatte er die diversen Nachrichtenkanäle und Mails im Auge behalten und einige Kurz-Nachrichten getippt. Seit Mitternacht musste er nicht nur die eingehenden Nachrichten und Mails für die einzelnen Redaktions-Abteilungen verteilen und sortieren, er war nun auch für das Internet zuständig. Er fütterte laufend die «Aktuell-Online»-und die «Aktuell-Mobile»-Ausgaben mit neuen Nachrichten. Und auch hier galt, wie beim «Aktuell»-Chat, eine freizügigere Auslegung des «Aktuell»-Konzepts: Georg Becher durfte Meldungen aufschalten, die weder eine News hatten noch irgendeine Relevanz, also Schräges und Kurioses aus aller Welt.

«Ciao, Georg», sagte Bernd Tegel, «wir sind fertig.»

 

«Prima», antwortete Georg Becher. «Die Aufmacher-Story wird morgen sicher für Wirbel sorgen.»

«Denke ich auch. Hoffentlich stimmt alles, was Haberer geschrieben hat.»

«Ich hoffe es für Renner. Sonst muss er es wieder ausbaden», sagte darauf Georg Becher.

«Tja, der Jonas Haberer kann sowieso machen, was er will. Wir werden ja sehen.»

«Zum Glück habe ich das alles hinter mir. Also, Bernd, schlaf gut.»

Georg Becher war mit seinen 61 Jahren der älteste Journalist der «Aktuell»-Redaktion. Von den jungen Journalisten wurde er nur «Knacker» genannt. Nicht, weil sie ihn nicht mochten, sondern weil er in ihren Augen einfach uralt war.

Becher war vor drei Jahren bei «Aktuell» gelandet. Zuvor war er bei allen möglichen Zeitungen und Zeitschriften als Reporter tätig gewesen. Doch irgendwann musste er einsehen, dass er mit den jungen Journalisten nicht mehr mithalten konnte. Die Branche war ihm zu schnell, zu hektisch geworden, mit dem immer grösseren Medien-Hype konnte er nichts mehr anfangen. Er fand, dass alles aufgebauscht und übertrieben dargestellt werde, zu viele Journalisten rissen sich um News. News, die notabene oft sehr dürftig und wenig gehaltvoll waren.

Doch Georg Becher hatte mit diesem Job einen Weg gefunden, um in Würde auf die Pension zuzusteuern. Viele seiner gleichaltrigen Kollegen, die es wie er nie zu einem Chefposten gebracht oder dies auch nicht angestrebt hatten, konnten das nicht von sich behaupten. Entweder hockten sie frustriert in einer Redaktion und mussten um ihre Stelle fürchten, oder sie kreierten in einem Pressebüro wenig erfolgreiche Werbetexte oder schrieben über lokale Sportereignisse und Dorfskandale. Andere waren zu Alkoholikern geworden oder hielten sich mit Medikamenten am Leben. Denn altgediente Redakteure waren in der Branche nicht mehr gefragt. Sie kosteten viel, und man brauchte sie nicht. Dank Internet und ausgefeilten Recherche-Programmen konnten auch unerfahrene Journalisten Hintergrundwissen erlangen, ohne jemanden fragen zu müssen.

Georg Becher war zufrieden mit seinem Job. Und er war froh, dass an der Nachrichtenfront nachts nur wenig los war.

Dies war auch in dieser Nacht so.

Bis 02.23 Uhr.

Dann erklang das Alarmsignal des Mailprogramms.

Der Alarm wurde durch eine Mail von Sandro Gomez ausgelöst.

«ey, knacker, kannst du zu uns rüberkommen?», schrieb Gomez. «ein irrer ruft dauernd im talk an und schreibt wirres zeugs für den chat.»

Georg Becher blieb zunächst ganz ruhig.

«Ist ja nichts Neues», schrieb er an Gomez zurück, «Irre sind euer Los.»

«komm bitte», kam nur wenige Sekunden später von Gomez zurück, «der kerl behauptet, er habe gesehen, wie alfred jasper umgebracht worden sei».

Georg Becher spürte das Adrenalin, den Kick, die Journalisten-Droge, es war wie früher, er wurde gebraucht, und es war eine unglaubliche Story im Gang, vielleicht auch nicht, aber es war etwas los, es passierte etwas.

Georg Becher, der Knacker, spurtete ins Night-Talk-Studio.

BERGHOTEL FAULHORN

Alexander Gaster erwachte vom Donnergrollen. Dann erleuchteten Blitze das Massenlager. Er sah, dass Henry Tussot tief und fest schlief. Auch die anderen Gäste lagen ruhig in ihren Betten. Einer schnarchte, aber einigermassen diskret.

Alex kramte sein Handy hervor und drückte eine Taste. Das Display leuchtete auf, und Alex sah, dass es 03.27 Uhr war. Viel zu früh. Sie hatten mit Fritz Balmer machen, um 5 Uhr aufzustehen, damit sie um 6 Uhr aufbrechen und sich auf die Suche nach Jaspers Hund machen konnten.

Alex hoffte, dass bis dann das Gewitter vorbei wäre.

Fritz Balmer hatte ihm und Henry passendere Kleider bereitgelegt. Und vor allem richtige Bergschuhe. Balmer hatte einige Paare in einer Kammer, die er für verlorene und vergessene Gegenstände reserviert hatte. Schuhe würden tatsächlich nicht selten liegengelassen, hatte Balmer erzählt. Viele Bergwanderer benutzten zum Abstieg lieber ihre für die Hütte mitgebrachten Turnschuhe und vergässen dann die Bergschuhe einfach. Walking-Stöcke wurden am meisten stehengelassen, davon hatte Balmer schon eine ganze Sammlung. Aber auch ein Gleitschirm war schon liegengeblieben.

Drei, vier Blitze. Sekunden später der Donner.

Verdammt nah, dieses Gewitter, dachte Alex. Nun begann es zu regnen.

Alex war zwar ein Naturbursche. Trotzdem oder gerade deswegen hatte er grossen Respekt vor den Naturgewalten. Seit dem Unglück seiner Mutter noch mehr. Er hatte die Lawine gesehen. Er hatte miterlebt, wie seine Mutter von den Schneemassen mitgerissen worden war. Er hatte ihren Schrei gehört, dann das Tosen und Toben. Und danach nichts mehr. Stunden später war seine Mutter von Lawinenhunden gefunden worden. Zu spät. Sie war tot.

Drei, vier, fünf Blitze. Donnergrollen. Prasselnder Regen.

Alex war nun hellwach. Er holte die Foto- und Videokamera und das Tonaufnahmegerät aus seiner Tasche, packte seine Hose und schlich sich aus dem Massenlager. Leise schloss er die Türe und schlüpfte in seine Schuhe, die er vor dem Schlafraum deponiert hatte. Er ging hinunter in den Esssaal, öffnete ein Fenster, stellte das Tonaufnahmegerät auf den Sims und liess es laufen. Nun brachte er an einem anderen Fenster die Kamera in Stellung. Alex schaltete das Gerät auf den Videomodus. Er wartete einige Sekunden, dann drückte er auf «Aufnahme» und hoffte, dass die Blitze nicht lange auf sich warten liessen. Das war tatsächlich so, bloss war Alex am falschen Ort. Er schloss das Fenster und schaute nach, ob die Türe zum Gartenrestaurant offen war. Sie war offen. Also ging er hinaus, blieb unter dem kleinen Vordach stehen und zielte mit der Kamera in die Nacht hinaus.

Zwei, drei Blitze, Donner.

Perfekt. Alex hatte im Display der Kamera gesehen, dass er die Blitze voll getroffen hatte. Er würde die Clips gleich am frühen Morgen zusammen mit der aufgezeichneten Audiodatei des Gewitters mit Henrys Laptop in die «Aktuell-Online»-Redaktion schicken. So könnten die Webredakteure aktuelle Töne und Videosequenzen dieser stürmischen Nacht aufschalten.

Wieder blitzte es, dieses Mal noch heftiger und wilder, und wieder hatte Alex Glück und konnte das Schauspiel filmen.

«Hallo.»

Alex zuckte zusammen und drehte sich um. Da stand Tina.

«Sorry, habe ich dich erschreckt?»

«Ja.» Alex merkte, dass er nervös wurde. «Schon gut. Was machst du denn mitten in der Nacht?»

«Ich denke, das Gleiche wie du. Nur ohne Kamera.»

«Ähm, ja», sagte Alex etwas verlegen, nahm das Tonaufnahmegerät vom Fenstersims und schaltete es aus. «Tonband und Kamera sind eben immer dabei. Na ja, ich bin aufgewacht und wollte mir dieses Schauspiel anschauen. Die Arbeit ist Nebensache.»

Tina schwieg. Alex packte auch die Kamera weg.

Drei, vier Blitze, Donner, Regen.

Alex schielte zu Tina. Die Blitze liessen Tinas blaue Augen funkeln. Mensch, was für ein Mädchen, dachte er.

«Komm, wir gehen hinein und trinken einen Tee», sagte Tina.

Alex fröstelte tatsächlich. Aber er hätte es wohl nicht bemerkt, wenn Tina bei ihm geblieben wäre und sie beide zusammen das Gewitter so lange beobachtet hätten, bis es sich verzogen hätte.

Während Tina den Tee zubereitete, stellte Alex zwei Stühle ans Fenster und setzte sich.

«Oh, Kino, Bergkino», sagte Tina, als sie mit den zwei Tassen aus der Küche kam. Sie setzte sich neben Alex.

Vier, fünf, sechs Blitze. Sekunden später Donnergrollen.

«Du filmst gar nicht mehr. Hast du die Blitze im Kasten?», fragte Tina.

«Ja. Sieht super aus.»

Er zeigte Tina auf dem kleinen Kameradisplay die Aufnahmen.

«Gratuliere», sagte sie. «Reporter Alex berichtet live vom Faulhorn!»

Sie lachten beide.

«Ist man als Reporter eigentlich dauernd im Einsatz?», fragte Tina später.

«Nein. Aber solch eine Gelegenheit wollte ich nicht verpassen. Ich liebe diesen Job.»

«Echt? Dauernd diesen Stress?»

«Das macht eben Spass. Journalist zu werden, war immer mein Wunsch.»

«Wäre nichts für mich. Dachte ich schon am Sonntag, als Jasper da war.»

«Warum? Der ist oder war Politiker.»

«Ja, schon. Aber er war mit Reportern unterwegs.»