Der Storykiller

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Alex spürte, wie seine Nervosität zunahm. Nicht mehr nur wegen Tina, sondern wegen dem, was sie gerade gesagt hatte.

«Mit Reportern?», fragte er nach.

«Mir kam es so vor. Die Frau an seiner Seite, mit der er ständig turtelte, sagte, dass sie dies und das, keine Ahnung was, gross in der Zeitung bringen könnte. Dann haben alle gelacht. «Der Jasper, der Dicke und die Frau. Nur die Blonde, die die ganze Zeit am Dicken rumfummelte, blieb stumm wie ein Fisch. Der Dicke lachte so laut, dass alle anderen Gäste zu ihm hinüberschauten.»

«Sag mal, was erzählst du da? Hast du den Jasper und seine Begleiter etwa observiert?»

«Nein, aber solche Dinge bekommt man als Kellnerin eben mit.»

«Wie sah denn die Frau aus?»

«Ach, ganz normal, schlank, graumelierte Haare und so weiter. Ist doch egal. Kennst du sie?»

«Nein, wie auch, aufgrund dieser äusserst exakten Personenbeschreibung.»

Sie lachten. Dann lächelten sie. Sie lächelten einander an.

«Dein Chef, Hüttenwart Fritz, glaubte …»

«Das ist mein Papa», warf Tina ein.

«Oh, das ist dein Vater. Wow, dann hast du das tolle Aussehen aber von der Mutter geerbt.» Alex hätte sich sogleich ohrfeigen können für diese dämliche Anmache.

Tina blieb aber locker und ging gar nicht darauf ein.

«Na, was glaubte also mein Papa?», half sie ihm, den Faden wieder zu finden.

«Also, er glaubte, dass die Begleiterin von Jasper seine Ehefrau sei. War sie aber nicht.»

«Ja, ja, mein Papa und die Frauen. Das ist eine Geschichte für sich. Ich merke, ob eine Frau die Ehefrau ist oder nicht.»

«Und?»

«Nein, das war definitiv nicht Jaspers Frau. Ich dachte, sie sei Journalistin, aber das war wohl auch falsch. Jedenfalls lief zwischen Jasper und der Frau irgendetwas ab.»

«Und der Dicke?»

«Der schüttelte sich immer so, wenn er lachte.»

«Und was ist dir noch aufgefallen?»

«Hey, mach kein Interview, Alex!»

«Okay. Vergiss es.»

«Der Dicke war irgendwie unangenehm. Tat immer so wichtig. Und als die vier gingen, ist er schier die Treppe da vorne runtergepurzelt.»

«Oh, das hätte dich gefreut, was?»

«Man geht ja auch nicht in Cowboystiefeln auf einen Berg.»

«Ja, auch nicht mit Sneakers, wie mein Kollege Henry.»

«Der ist auch irgendwie crazy drauf.»

Alex wunderte sich über das Wort «crazy», das heisst, er wunderte sich vor allem darüber, dass Tina es benutzte. Tina als Bergmädchen...

Tina schaute ihn an: «He, was ist? Was Falsches gesagt?»

«Du sagtest crazy, dass passt nicht so zu …»

«Oh, das passt nicht zur Bergtussi. Klar, wir sind alle ein bisschen hinter dem Mond hier oben.»

Alex versuchte, sich zu entschuldigen, doch Tina drehte den Spiess um und zog nun mit allerlei Reporterklischees über Alex her.

Sie flirteten.

Irgendwann stand Tina auf, wünschte Alex noch einen schnellen Schlaf und küsste ihn auf die Lippen.

Alex erstarrte.

Und starrte danach noch lange in die Nacht hinaus und bemerkte gar nicht, wie das Gewitter abflaute und sich schliesslich ganz verzog.

BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

Im Schlafzimmer der Lemmovskis piepste der Wecker um 05.45 Uhr. David Lemmovski stand sofort auf. Er war flink und leise, so dass seine Frau wie immer nichts davon mitbekam und weiterschlummerte.

In der Küche liess David Lemmovski einen Kaffee aus der Maschine tröpfeln und ging, nur mit enganliegenden weissen Boxershorts bekleidet, hinaus zum Briefkasten. Dort lag bereits die neuste Ausgabe des «Aktuell».

Titel: «Brisanter Geheimplan T-Rex: Schweizer Armee schafft sich selbst ab»

«Hoppla!», sagte David Lemmovski auf dem Weg zurück ins Haus vor sich hin. Bevor er die Türe schloss, blickte er aber nochmals zurück, suchte den Boden ab und war erleichtert, dass er weder eine tote Ratte noch sonst etwas Sonderbares erblickte. Er legte die Zeitung auf den Küchentisch und spurtete über die Veranda zum Pool. Auch dort lag nichts Verdächtiges im Wasser.

Zurück in der Küche schnappte er sich die Kaffeetasse, goss ein wenig Milch hinein, genoss den ersten Schluck und freute sich auf die Lektüre.

Lead: «Die Schweizer Armee, einst eine der angesehensten Truppen Europas, plant ihre eigene Auflösung. Dies geht aus einem geheimen Dokument mit dem sinnigen Namen des ausgestorbenen Dinosauriers T-Rex hervor.»

Autorenzeile: «Von Jonas Haberer»

«Bravo, Haberer», sagte David Lemmovski leise und nahm einen Schluck Kaffee. «Wo hast du diese irre Story wieder ausgegraben?» Er nahm gleich noch einen kleinen Schluck. «Hat dir unser toter Freund Jasper diese Story vererbt?» David lächelte.

Text: «Was Militärgegner seit Jahren ohne Erfolg immer wieder fordern, will die Armee jetzt offensichtlich selbst an die Hand nehmen: ihre vollständige Abschaffung. ‹Aktuell› liegt ein Dokument vor, das dies belegt. Das Schriftstück ist eine Kurzfassung eines geheimen Dossiers mit dem verschlüsselten Titel ‹Tyrannosaurus Rex›.»

David Lemmovski lachte laut heraus. Entweder hatte sich Haberer dies aus den Fingern gesogen, oder die Schweizer Armee war noch blöder und infantiler, als er es je für möglich gehalten hatte. Der gefürchtete Dinosaurier Tyrannosaurus Rex, T-Rex, musste aussterben, wie jetzt offensichtlich auch die Armee, nein, das ist einfach zu komisch, fand David. Er war nie ein Anhänger der Armee gewesen, hatte knapp die Rekrutenschule durchgestanden und sich dann mit einer vorgegaukelten Platzangst und einem gutbezahlten Psychiater aus dem Verein verabschiedet. Aber so was hätte selbst er nicht für möglich gehalten.

Gespannt las er Haberers Text weiter.

«Allein der Name der Akte, der eines ausgestorbenen, fleischfressenden Monsters, lässt aufhorchen: Entweder verfügten die Verfasser dieses Plans tatsächlich über eine grosse Portion Humor, oder sie waren sich ihrer Aufgabe nicht wirklich bewusst. Fest steht: Die Abschaffung der Schweizer Armee ist bis ins letzte Detail geplant und von der Schweizer Regierung abgesegnet.»

Dann wurde Jonas Haberers Geschichte aber dünner und dünner. Das Geheimdossier «T-Rex», schrieb Haberer weiter, sei eine Reaktion des Verteidigungsdepartements auf die Armeeabschaffungsinitiative der «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee». Diese Gruppe hatte es in den Achtzigerjahren fertiggebracht, mit einer Unterschriftensammlung eine Volksabstimmung zu erzwingen. Damit gelangte die Schweiz weltweit in die Schlagzeilen: Ein Volk konnte tatsächlich darüber entscheiden, ob es eine Armee haben wollte oder nicht. Das Volk lehnte die Initiative ab und stellte sich damit hinter die Armee. Trotzdem konnten die Armeegegner jubeln, denn über 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, die zur Urne gegangen waren, hatten für die Abschaffung der Armee gestimmt. Da läuteten selbst beim Militär die Alarmglocken, und es bereitete ein Worst-Case-Szenario vor. Um nicht völlig überrumpelt zu werden, falls die Abschaffung der Armee doch einmal Realität werden sollte.

«Dies ist gar nicht so absurd, wie es heute klingen mag», schrieb Haberer in den letzten Zeilen seines Artikels, «denn es gibt durchaus ernstzunehmende Bestrebungen, die Schweizer Armee in eine zukünftige Euro-Armee zu integrieren.»

«So, so», sagte David Lemmovski vor sich hin. «Gibt es das, Haberer? Dann schau erst mal, dass die Schweiz endlich Mitglied der Europäischen Union wird.»

David Lemmovski war in keiner Partei, aber trotzdem ein politischer Mensch. Dass die kleine Schweiz, weltweit durch ihre Unversehrtheit im Zweiten Weltkrieg und später vor allem durch das umstrittene Bankgeheimnis bekannt geworden, inmitten Europas nicht Mitglied der Europäischen Union war, ärgerte ihn seit Jahren. Geschäftlich spielte dies für ihn und seine «Lemmovski Group» zwar keine grosse Rolle, doch störte ihn sehr, dass es als Schweizer praktisch unmöglich war, eine bedeutende Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Wer als Schweizer eine Weltkarriere anstrebte, konnte dies entweder im Sport oder in der Wirtschaft versuchen. Ohne die Mitgliedschaft der Schweiz in der Europäischen Union gab es sonst aber keine Chance. Als Politiker schon gar nicht. Wer kannte in Amerika auch nur ein einziges Mitglied der Schweizer Regierung? Berge, Schokolade, Käse, Uhren und Banken mit undurchsichtigen Geschäften – das war alles, was die Schweizer der Welt zu bieten hatten. Und das Rote Kreuz, das grosse Hilfswerk mit dem roten Kreuz auf weissem Grund, als Pendant zur Schweizer Flagge mit dem weissen Kreuz auf rotem Grund.

So etwas, wie damals Henry Dunant mit der Gründung des Roten Kreuzes erreicht hatte, so etwas müsste einem gelingen, dachte David Lemmovski immer wieder. Oh ja, das würde ihm gefallen.

Er trank seinen Kaffee aus und holte sich an der Maschine gleich den nächsten. Dann las er Seite 3 des «Aktuell».

Titel: «Die Tränen der Familie Jasper»

Untertitel: «Kehrt wenigstens ihr Hund zurück?»

Lead: «Wir sind unendlich traurig und erschüttert.» Das sind die Worte von Leon Jasper, dem Sohn von Alfred Jasper. Der beliebte Politiker war am Sonntag auf einer Bergwanderung zu Tode gestürzt. Die einzige Hoffnung der Familie Jasper ist es, wenigstens den Hund wiederzufinden, der mit Alfred Jasper unterwegs war und seit dessen Tod spurlos verschwunden ist.»

Autorenzeile: «Von Flo Arber, Sandra Bosone und Alex Gaster»

Text: «Die Schweiz trauert um Alfred Jasper. Niemand kann erklären, wieso der beliebte Politiker, der sich vor allem als Mitglied der Aussenpolitischen Kommission einen Namen gemacht hat und in der ganzen Welt herumgereist ist, bei einer relativ einfachen Bergwanderung in den Tod gestürzt ist. Auch die Polizei, die den Fall untersucht, steht vor einem Rätsel. Sie geht von einem tragischen Unfall aus. Ob Jasper unter gesundheitlichen Problemen litt, wird noch abgeklärt.

 

Wie Recherchen an der Unglücksstelle ergaben, sind die Wanderwege in einwandfreiem Zustand und für einen geübten Berggänger wie Jasper keine echte Herausforderung.

Die Familie von Alfred Jasper ist bestürzt. Leon Jasper, der Sohn Alfred Jaspers, bestätigte gestern, dass sein Vater mit Freunden unterwegs war und nicht von seiner Frau begleitet wurde. Der Zeugenaufruf der Polizei ergab bisher keine neuen Anhaltspunkte.

Verstärkt wird die Tragik der Familie dadurch, dass seit dem Unglück Hund Rolf verschwunden ist. Rolf war Jaspers treuer Begleiter. Er war auch am Unglückstag an Alfred Jaspers Seite. Berggänger, die Hund Rolf entdecken, werden gebeten, sich sofort zu melden. Für die Familie Jasper wäre dies in den schweren Stunden immerhin ein kleiner Trost.

Bestürzung herrschte gestern auch bei Alfred Jaspers Geschäftspartnern. Als Anwalt habe er immer mutig und forsch die Anliegen seiner Heimat, einer Bergregion mit wirtschaftlich schwierigen Voraussetzungen, vertreten. Seitdem die strategisch-militärische Bedeutung des Berner Oberlands stetig abgenommen habe, habe er sich immer darum bemüht, neue Wirtschaftszweige zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Dies bestätigen sämtliche Wirtschaftsvertreter, die mit Alfred Jasper zusammenarbeiteten.»

Bebildert war der Artikel mit den Fotos von Henry Tussot, einem Porträt Jaspers und einem Foto von Jaspers Hund Rolf.

Eine Box neben dem Hauptartikel, deren Text von «Aktuell»-Politik-Chef Jonas Haberer stammte, würdigte Alfred Jaspers politisches Schaffen noch einmal. Vor allem, dass er sich als Bergmensch aktiv für den Frieden in der Welt eingesetzt habe, werde ihm von Politikern aller Parteien hoch angerechnet.

«Bla bla bla», murmelte David Lemmovski. «Unser Fredu war ja ein so guter Mensch. Er hat nur Gutes getan, bla bla bla, in der Welt Frieden gestiftet und was noch alles.»

Er blätterte weiter, überflog den Wirtschafts- und Kulturteil des «Aktuell», schnappte sich die Kaffeetasse und ging hinauf in sein Büro. Er schaltete den Computer ein und loggte sich ins Mailprogramm ein.

Neben einigen geschäftlichen Mails lagen etliche Spam- und Werbe-Mails für Internet-Casinos und potenzsteigernde Präparate in seinem Briefkasten. «Idioten», sagte David Lemmovski laut. «Geld habe ich genug und Potenz noch mehr, fragt meine Frau Emma, oder war das gestern abend etwa nichts?» Er lachte und löschte die Mails.

Bei der nächsten Mail blieb ihm aber das Lachen im Hals stecken. Es hatte den Betreff: «Tote Ratte. Tot. Tot. Tot.»

David öffnete die Mail, deren Absender sich hinter dem nichtssagenden Namen «14ggkmlm» eines Anbieters für anonyme Mails verbarg.

«Jude Lemmovski, hat Dich das arme Tier erschreckt? Gut so, Jude.»

David Lemmovski griff sofort zum Telefon und wählte die Nummer seines persönlichen Mitarbeiters Gunther Friesen.

«Bitte?», meldete sich dieser nach einer Weile völlig verschlafen.

«Hier Lemmovski. Sind Sie im Büro?»

«Nein, ähm, warum, bin ich zu spät, entschuldigen Sie, welche Uhrzeit haben wir denn?»

«Spielt keine Rolle. Gehen Sie sofort ins Büro. Ich leite Ihnen eine Mail weiter. Eine Drohmail. Anonym. Setzen Sie alles in Bewegung, um herauszufinden, wer dahintersteckt.»

«Natürlich.»

«Los, machen Sie schon, Gunther, ich fahr jetzt auch gleich los.»

Fünf Minuten später sass David Lemmovski in seinem Wagen und gab Vollgas. Er war noch nie negativ auf seine jüdische Herkunft angesprochen worden, nein, eigentlich war diese in seinem ganzen Leben noch nie ein Thema gewesen. Dass man Lemmovskis als Juden angesprochen oder gar beschimpft hatte, wusste er nur aus den alten Geschichten, die früher, sehr viel früher, sein Grossvater erzählt hatte.

REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN

Peter Renner betrat um 06.31 Uhr das Redaktionsgebäude. Er holte sich in der Kantine einen Automatenkaffee mit viel Zucker und Aufheller und eine Ovomaltine. Dann ging er direkt in den Newsroom. Dort sass Flo Arber, der gerade eine Meldung für «Aktuell-Online» bearbeitete.

«Hi, Flo!», sagte Peter Renner und streckte ihm die Ovomaltine hin.

«Hey, Peter, oh, danke, Ovo?»

«Klar, du magst doch keinen Kaffee, oder?»

«Weisst du eigentlich von allen Kollegen, was sie morgens trinken?»

«Aber sicher!»

Renner brachte jedem Frühdienstler sein Lieblingsgetränk, wenn er ins Büro kam. Er schaute jeweils am Abend auf den Einsatzplan, um zu sehen, wer morgens den Newsroom hütete, und machte sich in seinem Handy eine Notiz.

Flo Arber stellte die Meldung ins Netz. Er war seit 5 Uhr an der Arbeit und hatte Georg Becher und die beiden Night-Talker Bruce Steinmann und Sandro Gomez abgelöst. Da in den frühen Morgenstunden normalerweise noch nicht viel los war, reichte es, wenn ein Redakteur die Online-Ausgabe betreute und den Nachrichtenfluss überwachte.

Flo nippte an seiner Ovomaltine. «In dieser Nacht ging die Post ab.»

«Ach ja? Tolle Geschichten, die wir heute verbraten können?»

«Das ist nicht sicher. Becher beschäftigte sich die halbe Nacht mit einem Anrufer, der in den Night-Talk wollte.»

«Ein Amok?»

«Nicht unbedingt. Er klang sehr seriös.»

Flo Arber orientierte Peter Renner über den anonymen Anruf des Mannes, der behauptete, gesehen zu haben, dass Alfred Jasper umgebracht worden sei.

«Aber das wurde nicht gesendet, oder?», sagte Renner sofort.

«Nein, natürlich nicht. Aber Knacker, also Georg Becher …»

«Ich weiss, wer der Knacker ist», warf Renner ein.

«Also Becher brachte es fertig, den Kerl in ein längeres Gespräch zu verwickeln. Sandro Gomez, der Produzent des Talks, hat das Gespräch aufgezeichnet. Du kannst es nachhören. Zudem hat der Typ noch einige Beiträge für den Chat geschickt, die aber ebenfalls nicht aufgeschaltet worden sind.»

«Und auch in diesen Chat-Beiträgen oder Mails gab der Mann keinen Namen an?»

«Nein. Seine Adresse lautet ‹bft› at irgendwas, ein mir unbekannter Internetprovider. Das hilft uns auf die Schnelle nicht weiter. Ich schrieb ihm zurück, er solle sich doch noch einmal melden.»

«Aber es kam nichts?»

«Bis jetzt nicht, nein.»

«Vielleicht könnten unsere Web-Techniker etwas herausfinden. Hat der Anrufer seine Telefonnummer unterdrückt?»

«Klar. Es erschien nur ‹Unbekannter Teilnehmer› auf dem Display.»

«Tja, dann lass uns mal das Band abhören.»

Das «Band» war natürlich kein Tonband mehr, sondern eine Audiodatei. Flo klickte darauf. Zuerst war Georg Becher zu hören, der den Anrufer bat, alles nochmals zu wiederholen, er könne nicht einfach so ins Webradio geschaltet werden.

«Hören Sie zu, ich habe jetzt alles gesagt. Senden Sie das endlich.»

«Einen Moment noch», war nun Becher wieder zu hören. «Wir haben ein kleines technisches Problem. Sorry. Ist ja unglaublich, was Sie erzählen. Jasper wurde umgebracht?»

«Ja. Ich sah von weitem, wie Jasper und der andere Mann herumfuchtelten. Dann schubste der Fettsack plötzlich den Jasper, und dieser fiel in die Schlucht.»

«Sie waren aber nahe dran.»

«Relativ. Habe einen Feldstecher.»

«Da konnten Sie Jasper erkennen?»

«Nicht direkt.»

«Was heisst das?»

«Als ich dann Montag früh ‹Aktuell› las, wurde mir klar, wer da hinuntergestossen worden war.»

«Haben Sie eigentlich die Polizei gerufen, nachdem Sie das alles beobachtet hatten?»

«Nein, ich war ja nicht sicher, wie tief der Mann gestürzt und ob er verletzt war. Die drei anderen waren dann plötzlich weg.»

«Und Jaspers Hund?»

«Der war auch weg.»

«Haben Sie sich denn später bei der Polizei gemeldet? Diese sucht Zeugen.»

«Nein. Ich habe es jetzt Ihnen gesagt. Ich leg auf.»

«Warten Sie, warten Sie!»

Damit endete das Telefonat.

«Was denkst du?», fragte Flo.

«Gute Arbeit von Becher. Aber viel bringt uns das nicht. Daraus können wir nie und nimmer eine Story machen.»

«Wir sollten die Polizei informieren.»

«Ja, später. Vielleicht kann ich mit dem Pressedienst der Polizei etwas aushandeln.» Renner deutete damit an, dass er seine Information nicht ohne Gegenleistung der Polizei geben würde: Wenn er der Polizei etwas sagte, könnte diese ihm etwas erzählen, was die anderen Medien nicht erfahren würden.

Flo nippte wieder an seiner Ovomaltine. Renner trank seinen Kaffee.

«Weisst du, die Stimme des Mannes …», sagte Flo nach einer Weile.

«Ja, was ist damit?» Nun funkelten Renners Augen.

«Erstens denke ich, dass der Typ wie in alten TV-Krimis irgendetwas vor die Sprechmuschel gehalten hat, ein Taschentuch oder so, um seine Stimme etwas zu verfälschen, zweitens kommt sie mir trotzdem bekannt vor.»

«Was? Du kennst diese Stimme?»

«Ach, ich weiss nicht. Du hast mir gestern doch gesagt, ich solle in Jaspers Umfeld recherchieren. Seine Aktivitäten als Anwalt und so weiter. Leider kam nichts dabei heraus, obwohl ich mit allen möglichen Leuten gesprochen habe. Aber ich glaube, nein, ich bin mir fast sicher, einer von denen hat diese Nacht hier angerufen.»

«Jetzt sollten wir nur noch seinen Namen haben», sagte Renner und schaute Flo mit einem stechenden Blick an.

«Vergiss es, Peter. Vielleicht komme ich später drauf.»

«Na gut. Lass das Band nochmals laufen.»

Flo Arber klickte das Audio-File an.

«Spule bis zur Mitte vor», wies Renner Flo an.

Mit der Maus schob Flo auf dem Bildschirm den Regler nach rechts und klickte drauf. Er erwischte die Passage, als der Anrufer erzählte, er habe mit einem Feldstecher den ganzen Vorfall beobachtet.

«Hörst du das?», sagte Renner.

«Was?»

«Im Hintergrund …»

«Warte, ich filtere die Stimme etwas heraus.»

Nach einigen Mausklicks klang die Stimme des Mannes leiser und dumpfer, dafür war ein seltsames Grollen zu hören.

«Was ist das?», fragte Renner.

Flo stoppte die Aufnahme: «Das könnte ein Donner sein.»

«Ach was, hat doch gar nicht gewittert letzte Nacht», sagte Renner.

«Und ob, aber nicht hier, im Oberland. Schau mal.»

Flo Arber rief auf einem anderen Bildschirm «Aktuell-Online» auf und liess den Clip mit den Gewitteraufnahmen von Alex laufen. Danach klickte er auf die Audiodatei von Alex mit dem Donnergrollen, das wirklich furchterregend klang.

«Das schickte mir Alex vor etwa einer Stunde. Toll, was? Habe beide Dateien gleich online gestellt. Die Polizei und die Feuerwehr meldeten, dass einige kleinere Strassen überschwemmt worden seien.»

«Du glaubst also, der Anrufer war irgendwo in diesem Gewitter?»

«Na ja, sonst gab es in der Schweiz keine solch schweren Gewitter diese Nacht.»

Um dies zu belegen, öffnete Flo eine aktuelle Wetterseite.

«Schon gut», sagte Renner. «Ich glaub dir. Also stammt der Kerl wie Jasper auch irgendwo von dort oben oder ist gar auf dem …» Renner stockte.

«Und …?»

«Nochmals das Band, aber möglichst nur die Stimme!», befahl Renner.

Flo bewegte in der Audiodatei zwei Regler und klickte danach auf «Play».

« … nicht sicher, wie tief der Mann gestürzt und ob er verletzt war. Die drei anderen waren dann plötzlich …»

«Stop!», brüllte Renner.

«Hey, was ist los?», fragte Flo, der zusammengezuckt war.

«Ich glaube, jetzt erkenne ich die Stimme auch.»

«Schiess los, wer ist es?»

«Verdammt, das gibt es doch gar nicht», sagte Peter Renner aber nur.

«He, Renner, wer ist es?»

«Hast du gestern mit dem Hüttenwart vom Faulhorn telefoniert?», fragte Renner.

«Nein, dort oben ist ja Alex, der …»

«Bist du sicher?», warf Renner ein.

«Ja. Ich habe nur mit Wirtschafts- und Verbandsleuten geredet.»

«Mist. Ich war sicher, dass das der Fritz war.»

«Fritz?»

«Der Chef des Berghotels, der Hütte da oben auf diesem blöden Berg, der Balmer Fritz. Dazu würde auch die Mailadresse passen. Wie hast zu gesagt? ‹bfz› at …?»

«Nein: ‹bft›. Mit t am Schluss.»

 

«‹bft› könnte trotzdem für Balmer Fritz stehen. ‹bfz› wäre zwar logischer.»

«Moment mal. Fritz Balmer? Balmer Fritz? Der Name sagt mir irgendwas», sagte Flo Arber und eilte vom Newsroom zu seinem normalen Arbeitsplatz, um seine Gesprächsnotizen durchzusehen.

«Ja», rief Flo kurz darauf durch das ganze Grossraumbüro in der Hoffnung, Renner würde ihn hören. «Hier hab ich alle Namen aufgeschrieben!»

Flo Arber hatte tatsächlich mit einem gewissen Fritz Balmer telefoniert.

BLAUI GLUNTA, WESTLICH DES FAULHORNS

«Merde!»

Alex blieb stehen, schaute zurück. Er sah, wie Fotograf Henry Tussot an seinem Rucksack herumfummelte.

«Was ist?», rief er ihm zu.

«Der Rucksack schlägt mir in die Wirbelsäule.»

«Warte, ich richte ihn dir.»

Alex ging zu ihm und versuchte, die Gurten so zu straffen, dass der Rucksack gegen Henrys Oberkörper gepresst wurde und nicht mehr hin- und herbaumeln konnte.

«Los, kommt!», rief Fritz Balmer den beiden Reportern von weiter vorne zu. «Wir machen bald Pause.»

Tinas Hündin Anouschka, die die Männer begleitete, rannte von Fritz Balmer zu Henry und Alex und wedelte die beiden heftig an. In der Ferne pfiffen Murmeltiere.

«Wir kommen ja», sagte Henry zu Anouschka. «Kannst mich ziehen, wenn du es so eilig hast.»

Alex, Henry und Hüttenwart Fritz Balmer waren seit über einer Stunde unterwegs. Zuerst waren sie vom Berghotel über den Punkt 2546 zur Unfallstelle hinuntergestiegen. Dort hatte Anouschka, wie von Fritz Balmer erhofft, tatsächlich eine Spur von Jaspers Hund Rolf aufgenommen, den Alex und Henry heute unbedingt finden wollten.

Fritz Balmer kramte ein Hundebiskuit aus seiner Cargo-Hose, gab es Anouschka und befahl ihr: «Such!»

Die schwarze Hündin mit den grossen weissen Flecken trabte mit der Nase am Boden zur Männdlenen-Hütte. Dort bog sie scharf rechts vom Weg ab und sprang über grosse Felsbrocken. Es war die Richtung, in die Alex schon gestern hatte gehen wollen, aber wegen schlechter Ausrüstung hatte er darauf verzichtet.

Ausserdem hatte die Männdlenen-Hüttenwartin ihm davon abgeraten. Die drei Männer kraxelten Anouschka langsam nach. Es war ziemlich mühsam, da die Steine vom Gewitterregen noch nass und rutschig waren. Doch dank der Bergausrüstung, die sie von Fritz Balmer erhalten hatten, waren Alex und Henry nun gut gewappnet. Balmer hatte zudem Seile, Helme und Steigeisen dabei. Hund Rolf konnte ja irgendwo sein, vielleicht versteckte er sich in den Felsen, vielleicht war er gar eine Felswand hinuntergestürzt.

Es war 07.09 Uhr, als Alex nun auf die Uhr schaute und dann einen grossen Schluck Tee trank, den Tina vor dem Abmarsch extra für sie zubereitet hatte. Sie hatte Alex zugezwinkert, ihn kurz am Arm berührt und ihm zugeflüstert, dass ihr nächtliches Rendezvous sehr schön gewesen sei. Alex war gegen 4 Uhr auf seinem Stuhl eingeschlafen. Als er aufgewacht war, war es bereits höchste Zeit, sich für die Tour bereitzumachen. Er hatte seine Blitz-Videos in die «Aktuell»-Redaktion gesendet und kurz die Schlagzeilen auf «Aktuell-Online» gelesen. Zu seiner Enttäuschung war nicht die Jasper-Story aufgemacht, sondern Haberers Armee-Artikel. Doch dies spornte ihn an, heute mit der Jasper-Hunde-Story einen Knüller abzuliefern.

Nach der Teepause an der Blaui Glunta, einem vom Gewitterregen überfüllten kleinen Bergsee mitten im felsigen Gelände, wies Fritz Balmer Alex und Henry an, zu schweigen oder nur zu flüstern und sich sehr leise fortzubewegen, damit sie keine Tiere aufschreckten. Sie befanden sich nun in jenem Tobel, in das Jasper gestürzt war. Doch Anouschka machte keine Anstalten, zur Stelle zu laufen, wo Jasper liegengeblieben war. Sie trabte weiter das kleine Tal hinunter.

Dann blieb Fritz Balmer stehen, nahm Anouschka an die Leine, strich sich eine Locke aus den Augen und suchte mit einem grossen Feldstecher den Hang vor ihnen ab.

«Da!», sagte er plötzlich, aber sehr leise. «Gemsen. Scheinen ruhig zu sein.»

«Was heisst das?», fragte Henry.

«Ist wohl kein Hund in der Gegend. Und Anouschka haben sie noch nicht gewittert.»

«Merde!», fluchte Henry nicht wirklich laut, aber doch zu laut.

Die Gemsen reckten sofort die Hälse und schauten direkt zu ihnen herüber.

«Pssst», machte Alex.

Ins Rudel kam Bewegung. Die ersten Tiere sprangen über die Steine und verschwanden hinter einer Kuppe. Die restlichen folgten ihnen.

«Los, gehen wir weiter», flüsterte Fritz Balmer.

Die drei stiegen den Berg hinauf, bis sie ebenfalls die Kuppe erreichten. Ein heftiger Wind blies ihnen ins Gesicht. Die Sonne war zwar längst aufgegangen, aber sie wurde noch von den letzten Gewitterwolken verdeckt.

«Ich glaub’s nicht», sagte Henry. «Da ist ja ein Weg!»

«Ja, wir sind jetzt auf der Fulegg, und das ist der Weg nach Iseltwald hinunter», erklärte Fritz Balmer.

«Und warum mühen wir uns wie Idioten ab und gehen nicht bequem auf diesem Weg? Wir kamen doch an der Abzweigung vorbei, an diesem Punkt Zweiirgendwas, wo ganz in der Nähe der Jasper abgestürzt ist.»

«Ja, aber wir folgten eben Anouschka, und sie folgte Rolfs Spur, wir konnten ja nicht wissen, wo Rolf hingelaufen ist», sagte Balmer. «Und Hunde benutzen nicht unbedingt Wanderwege.»

«Das ist doch irre», murmelte Henry und schüttelte den Kopf. «Das ist einfach nur noch irre.»

Wieder linste Balmer durch den Feldstecher.

«Was gefunden?», fragte Alex flüsternd, als er bemerkte, dass Balmer lange einen bestimmten Ort bei den schräg gegenüberliegenden Felsen fixierte, der steilen Nordflanke des Faulhorns.

«Ja, dort ist was», antwortete Balmer in normaler Lautstärke.

«Gemsen?»

«Nein.»

«Hund Rolf?»

«Kann ich nicht erkennen. Sehe nur was Braunes oder Graues.»

«Rolf ist grau.»

«Schon. Aber da schimmert noch etwas Rotes.»

«Etwas Rotes?»

«Ja. Könnte Blut sein. Nein», korrigierte sich Fritz gleich selbst, «bei dem Regen heute nacht wäre das Blut abgewaschen worden.»

Anouschka starrte und schnupperte schon längst in die Richtung, in die Balmer mit dem Fernglas schaute. Fritz Balmer liess sie von der Leine, und Anouschka rannte sofort auf der anderen Seite der Kuppe den äusserst steilen Abhang hinunter, purzelte immer wieder kopfvoran in ein Loch zwischen den Steinen, rappelte sich aber sofort auf und spurtete weiter. Auf einem Felsvorsprung hielt sie kurz an, traversierte dann den Hang sehr vorsichtig, erreichte einen weiteren Felsen und machte einen Satz. Sie war nicht mehr zu sehen, dafür war Steinschlag zu hören. Nach einer ewig erscheinenden Minute tauchte Anouschka plötzlich auf der anderen Seite wieder auf und galoppierte tatsächlich zu dem Ding, das Balmer entdeckt hatte. Dort blieb sie stehen, winselte und bellte.

«Los, gehen wir Anouschka nach», sagte Alex.

«Ja, aber das ist hier ziemlich gefährlich.»

«Wenn Anouschka es hier hinunter schaffte …»

«Sie ist ein Hund. Und ausserdem für Berg- und Lawinenrettungen ausgebildet.»

Alex musste an seine Mutter und das Lawinenunglück denken. Wäre damals nur ein solcher Hund sofort zur Stelle gewesen!

«Wir schaffen das schon», sagte Alex.

«Nur damit ihr es wisst: Hier kann man weit hinunterfallen, wenn man Pech hat.»

«Merde!», meldete sich Henry zu Wort. «Und was machen wir jetzt?»

«Entweder wir seilen uns an», sagte Fritz Balmer, «oder ich gehe alleine.»

«Wir seilen uns an!», sagten Alex und Henry gleichzeitig.

SIHLTAL, KANTON ZÜRICH

David Lemmovski fuhr schnell. Wie immer. Die engen Kurven und die auf 60 Stundenkilometer beschränkten Abschnitte im Sihltal kümmerten ihn nicht. Er kannte die Radarfallen und bremste rechtzeitig ab. Von seinem Wohnort hätte er auch über die Autobahn ins Büro nach Zürich fahren können. Doch David Lemmovski liebte diese Strasse durchs Sihltal, ein dicht bewaldetes Naturschutzgebiet im Süden Zürichs. Das Fahren machte ihm Spass. Und manchmal hielt er irgendwo kurz an und spazierte durch den Wald. Dann führte er Selbstgespräche, sog die frische Luft tief in seine Lungen ein und fühlte sich danach fit, stark und unverwundbar. Doch heute hatte er keine Zeit und vor allem nicht die innere Ruhe dazu. Er brauchte die kurvenreiche Strecke, um sich abzureagieren und um über die Drohmail nachzudenken.

In voller Fahrt wählte er über die Bedienungsknöpfe am Lenkrad und via Bordcomputer Gunther Friesens Nummer.

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