Die Boulevard-Ratten

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Myrta wünschte sich eine Führung, fragte aber erst, wo das Bad sei.

Das war ihr persönlicher Lackmustest: Klo sauber, Lavabo glänzend, Spiegel mit mehreren kleinen Zahnpastapunkten unten rechts. Der kleine Schrank dahinter aufgeräumt. Gillette-Rasierer, Migros-Budget-Rasierschaum, After-Shave-Balsam von Nivea, Eau de Toilette von Paco Rabanne. Na ja, dachte Myrta. Daneben Zahnpasta aus der Migros. Und eine Zahnbürste. Eine.

Myrta registrierte dies erfreut.

Sie schloss den Schrank und prüfte sich im Spiegel. Sie war kaum geschminkt. Ihre grossen dunkelbraunen Augen kamen trotzdem wunderbar zur Geltung. Sie strich sich über die kurzen Haare. Danach rückte sie ihren ziemlich üppigen Busen im Büstenhalter zurecht, zupfte ein paar Mal an der rot-orangen Jacke und ging zurück zu Martin.

«Du hast gar keinen Weihnachtsbaum», sagte sie. «Das fällt mir erst jetzt auf.»

«Ach, das brauch ich nicht. Weihnachten findet bei mir im Stall statt.»

Wow, wie romantisch, Myrta lächelte, strahlte Martin an.

«Hey, was grinst du jetzt so dämlich?»

«Vollpfosten, ich lächle dich an», erwiderte Myrta und ergriff Martins Hand. «Los, zeig mir die Pferde!»

BERGSTATION LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

Warten.

Joël hockte in seinem weissen Anzug im Schnee und wartete. Er hielt seine Kamera bereit. Er hatte nun das 600-mm-Objektiv von Nikon mit Bildstabilisator montiert. Ein sündhaft teures Teil, über 10000 Franken. Aber unabdingbar für Paparazzo-Einsätze.

Er fror. Wenn Bundesrat Battista mit der unbekannten Frau hochfuhr, schwebten sie praktisch an ihm vorbei. Und der Minister musste hier vorbeikommen. Es war die einzige Möglichkeit, um überhaupt von hier wegzukommen. Bei allem Pech: Immerhin dies sollte klappen.

Joël sah das Foto bereits vor sich: Battista kuschelnd mit der unbekannten Lady. Obwohl es Vierersessel waren, war sich Joël sicher, dass die beiden nur zu zweit hochfahren würden. Um zu knutschen. Was ihn hingegen störte, war, dass die Sessel mit Sturmhauben aus Plexiglas ausgestattet waren, damit die Fahrgäste vor Wind geschützt waren. Aber das konnte er nicht ändern, und schliesslich musste er mit dem Bild keinen Fotopreis gewinnen, sondern nur die beiden Köpfe erkennbar drauf haben, am besten küssend. Es ging nicht um Kunst, sondern um Geld.

Das Wetter wurde schlechter, der Schneefall und der Wind nahmen zu, und es war bereits 15.30 Uhr. Das bedeutete in dieser Jahreszeit Dämmerung – fototechnisch fast schon Nacht. Sessel um Sessel gondelte vorbei. Alle leer. Joëls Aufgabe wurde nicht einfacher.

Gut zehn Minuten später sah Joël mehrere mit Personen besetzte Sessel. Das mussten sie sein. Erst kamen zwei dunkel gewandete Männer. Dann der Skilehrer, der ihn angequatscht hatte. Neben ihm die Frau in der silbrigen Daunenjacke von Bogner. «Shit», murmelte Joël und drückte auf den Auslöser. «Shit. Warum sitzen die Idioten nicht zusammen!?»

Dahinter Bundesrat Battista mit Helm und grosser Skibrille mit gelben Gläsern. Klick. Klick. Neben ihm ein Mann in schwarzem Skianzug. «Shit!»

Mit Tempo Teufel raste Joël zur Talstation des Sessellifts. Vielleicht konnte er die Gruppe noch verfolgen.

Da keine Leute am Sessellift anstanden, hangelte er sich flugs zum Einsteigebereich vor und machte sich bereit zum Aufsitzen. Plötzlich rauschten zwei Typen heran, stellten sich links und rechts neben ihn und hockten sich auf den gleichen Sessel wie Joël. Der Sicherheitsbügel schloss sich, ebenso die Sturmhaube.

«Habt ihr es pressant?», sagte Joël verärgert. «Der Witz an einer solchen Anlage ist, dass alle paar Sekunden ein freier Sessel kommt!»

Die Typen reagierten nicht.

Joël schaute den Kerl links neben sich an.

Er hatte einen Knopf im Ohr.

REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Tatsächlich war der Stall mit Tannenästen geschmückt, ein Weihnachtsbaum war plaziert, und überall leuchteten elektrische Kerzen. Die Pferde in den Boxen bekamen gerade von einem Mitarbeiter Heu. In der Mitte des Stalls befand sich ein weiss gekachelter Raum mit mehreren Wasserschläuchen. «Das ist unsere Pferdedusche», erklärte Martin. Daneben ein Raum mit einer Solarium-ähnlichen Installation. «Und das ist der Trockner für die Pferde.» Und noch ein Stück weiter ein Raum mit einem überdimensionierten Laufband, auf dem ein Pferd trabte. «Das wäre dann unser Fitnesscenter!»

Dann kamen wieder Pferdeboxen. Myrta blieb stehen, streichelte dieses und jenes Pferd und fragte Martin: «Welches ist dein Lieblingspferd?»

«Mystery of the Night», antwortete Martin, ohne zu zögern.

SESSELLIFT LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

Joël war es mulmig zumute. Seine beiden Begleiter auf dem Sessellift waren die beiden, die schon in der grossen Gondel mit ihm hinauf zum Piz Nair gefahren waren. Da das Wetter nun wirklich schlecht war, waren sie drei die einzigen Skifahrer, die noch unterwegs waren.

Warum müssen diese beiden ausgerechnet mit mir zusammen hochfahren?, fragte sich Joël. Das kann doch kein Zufall sein.

«Das Wetter hat umgeschlagen», sagte Joël und hoffte, die beiden würden sich auf einen sesselliftüblichen Small-Talk einlassen und sich dabei als ganz normale Touristen entpuppen. Doch keiner von beiden antwortete.

Der Wind pfiff. Der Sessel schaukelte. Schneeflocken klatschten gegen die Sturmhaube.

Der Typ rechts neben ihm zog den rechten Handschuh aus, ballte die Hand zur Faust.

Der Schlag traf Joël mitten auf die Nase. Es knackste. Joël schrie auf, spürte Blut auf den Lippen, sah alles nur noch verschwommen. Das Bild wurde in Tausende einzelne Punkt aufgeteilt, die in rascher Folge aufleuchteten und erloschen, es verfinsterte sich vom Rand her, schliesslich wurde es ganz schwarz.

Joël spürte, wie die beiden Kerle an ihm herumfummelten. Er hörte, wie die Sturmhaube geöffnet wurde. Seine Beine mit den Skischuhen und den Skis wurden vom Sicherheitsbügel des Sessellifts gezerrt. Er wehrte sich, schlug mit den Armen um sich.

Den nächsten, heftigen Schlag spürte er zwar noch.

Dann aber nichts mehr.

REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Als Myrta ihr Handy checkte, sah sie, dass es bereits 18.04 Uhr war. «Himmel, schon so spät», sagte sie leise.

Sie sah auch, dass sie fünf Anrufe in Abwesenheit erhalten hatte. Drei waren von Bernd. «Die Alte am Kochen und die Kids am Fernseh gucken», murmelte Myrta.

Der vierte Anruf stammte von ihrer Mutter. «Ja, Mama, ich lebe noch, und ich bin um 20 Uhr zu Hause.»

Der fünfte war von Joël. «Was will der denn?», sagte Myrta laut. So laut, dass es Martin hörte, der gerade in die Küche gegangen war, um eine zweite Flasche Champagner zu holen. Myrta war zwar schon etwas beschwipst, aber das war ihr im Augenblick egal.

«Was hast du gesagt?», fragte Martin, als er zurückkam.

«nichts. Doch. Joël hat mich angerufen.»

«Joël?»

«Lange Geschichte. Ein Ex-Freund. Nein, ein Freund, aber auch ein Ex. Oder so. Ich ruf ihn schnell zurück, sorry.»

Myrta wählte Joëls Nummer.

Als sie hörte, dass er den Anruf entgegennahm, sprudelte sie gleich los: «Hey Joël, was soll das? Du hast mir noch nie frohe Weihnachten gewünscht oder mir zum Geburtstag gratuliert. Wirst du sentimental? Hast du zu viel getrunken? Bist du etwa einsam? Oder bist du wie ich von einem Pferd gefallen und liegst jetzt im Delirium? Also, was willst …» Da merkte Myrta, dass die Verbindung abgebrochen war. «Joël?»

LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

Der Sessellift hatte den Betrieb eingestellt. Wenn es so etwas wie eine letzte Kontrollfahrt gegeben hatte, dann war er nicht entdeckt worden. Schliesslich trug er wegen seines Paparazzo-Jobs einen weissen Skianzug. Blieb nur die Hoffnung auf den Pistendienst. Lag er überhaupt auf einer Piste? Oder an deren Rand? Er wusste es nicht. Er sah nur Schnee, Neuschnee. Zudem war es mittlerweile schon dunkel. Vermutlich waren auch die Leute vom Pistendienst längst nach Hause gegangen.

Joël probierte erneut, den Rettungsdienst zu alarmieren. Doch sein iPhone litt unter der Kälte und der Feuchtigkeit. Hin und wieder leuchtete das Display zwar auf, auch Empfang war vorhanden, aber kaum hatte Joël die Notrufnummer 112 gewählt, machte das Handy schlapp. Auch der Versuch, mit Myrta zu telefonieren, war gescheitert. Er hatte ihre ersten Worte zwar noch verstanden, doch dann war Schluss.

«Wenn ich einen Fön hätte, könnte ich das Scheissding trocknen und wärmen», sagte er vor sich hin und lächelte. Das hatte schon einmal geklappt, als er es im Sommer bei einem Gewitter mal draussen hatte liegenlassen. Er öffnete seinen Skianzug und klemmte das iPhone wie einen Fiebermesser unter den Arm. Dies machte er manchmal auch mit den Batterien seines Blitzgeräts, wenn vor Kälte gar nichts mehr ging.

Und jetzt war es kalt. Saukalt. Er lag schon länger hier. Unter den Seilen des Sessellifts. Weder den Sturz vom Sessellift hatte er mitbekommen, noch den Aufprall. Irgendwann war er aufgewacht und hatte geschrien. Ins Leere. Sämtliche Bemühungen aufzustehen, waren misslungen. Der Schmerz in seinem rechten Bein war einfach zu gross gewesen.

Nach einer Weile nahm er das Handy aus der Achselhöhle und startete es neu. Tatsächlich leuchtete das Display. Aber nur einige Sekunden. Dann war der Bildschirm wieder schwarz. Möglicherweise hätte er sogar telefonieren können, vielleicht war nur der Bildschirm defekt. Doch ohne Bildschirm keine Files. Ohne Icons keine Möglichkeit, ins Telefon-Programm zu gelangen. Er verfluchte das Gerät. Hätte er nun ein altes Handy dabei, eines, das noch eine richtige Tastatur hatte. Jetzt konnte er nicht einmal eine SMS senden.

 

Joël versuchte nochmals aufzustehen. Doch das Bein schmerzte fürchterlich. Er vermutete, dass es gebrochen oder zumindest arg verstaucht war. Er bemerkte, dass sein Anzug blutverschmiert war. Er erinnerte sich an den Faustschlag und griff sich an die Nase. Tatsächlich war diese voll mit eingetrocknetem Blut. Sie tat weh und war wohl gebrochen.

Wahrscheinlich hatten ihn die Typen wegen seiner Kamera attackiert. Er tastete kurz seinen Anzug ab, griff um sich in den Schnee, fand zwar seine Skistöcke, nicht aber die Kamera. «Verdammte Scheisse!» Mit der Kamera war auch das teure 600-mm- Objektiv weg. «Scheisse, Scheisse, Scheisse», fluchte Joël. Er tastete seinen Rücken ab: Immerhin war sein Rucksack mit den anderen Objektiven noch da. Auch den Fotoharnisch und die Akkus hatten sie ihm gelassen.

Er liess sich in den Schnee sinken und suchte eine Position, in der er keine beziehungsweise nur wenig Schmerzen hatte.

Joël lag einige Minuten. Dann begann es, ihn zu frösteln. Kurz darauf fror er richtig. Er fror sogar fürchterlich, zitterte vor Kälte. Hier oben würde es locker minus 20, minus 30 Grad oder noch kälter werden.

Erst jetzt begriff er, dass er den Sturz vom Sessellift zwar überlebt hatte. Trotzdem würde hier sein Leben zu Ende gehen.

REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Myrta versuchte im Minutentakt, Joël zu erreichen. Doch es kam immer nur die Mailbox. Drei Mal hatte sie die Nachricht hinterlassen, er solle sich bitte melden.

«Meinst du wirklich, es ist etwas passiert?», fragte Martin. Er sass neben ihr auf dem beigen Ledersofa.

«Ja, bestimmt.»

«Vielleicht wollte er dir wirklich nur frohe Weihnachten wünschen und …»

«Nein, Martin, nein, unmöglich. Joël und ich sind keine Freunde, die Nettigkeiten austauschen. Wir telefonieren nur, wenn wir uns wirklich etwas zu sagen haben. Dass der, der angerufen wird, immer gleich hundert Fragen stellt so wie ich vorhin, das ist unser Spiel.»

«Möglicherweise hat er keinen Empfang …»

«Nein, verdammt!», sagte Myrta unwirsch, entschuldigte sich aber sofort. «Sorry, ich versau dir die ganze Weihnacht. Ich verschwinde jetzt. Kannst du mich nach Hause fahren?»

«Klar.»

Myrta legte die Hand auf seine Schulter. Obwohl Martin einen dicken Strickpullover trug, spürte sie wieder seine kräftigen Muskeln.

«Nimm mich in den Arm», flüsterte sie.

Martin tat es. Oder versuchte es. Myrta fand, dass er sich etwas ungeschickt anstellte. Fehlt ihm wohl an Erfahrung.

LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

Joël hatte in seinem Leben nicht viele Bücher gelesen. In seiner Jugend waren es neben der schulischen Pflichtlektüre einige Abenteuerromane gewesen, später dann Survival-Bücher und Berichte über Expeditionen in den unwirtlichsten Gegenden der Welt. Dazu waren einige Kriegsberichte gekommen. Denn Joël wollte Kriegsreporter, Krisenfotograf werden. Geklappt hatte das bisher allerdings nicht. Er hatte noch keine Zeitung oder Zeitschrift gefunden, die ihn in einen Krisenherd irgendwo auf der Welt geschickt hätte. Auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten eine solche Reportage zu machen, war ihm doch zu heikel gewesen. In Zeiten der Digital- und Handyfotografie brauchte es in Kriegsgebieten auch keine professionellen Fotografen mehr, um dramatische Szenen festzuhalten. Dessen war sich Joël bewusst. Die Chance, Bilder zu schiessen, die sonst niemand machte, war klein geworden. Und verkaufen liessen sich eh nur die spektakulärsten, da musste er gar nicht auf «gepflegte Reportagefotografie in Schwarz-weiss» machen. Hohes Risiko, hohe Kosten, null Ertrag – die Rechnung hatte Joël schnell gemacht. Deshalb beschränkten sich seine «Kampfeinsätze» auf Auseinandersetzungen zwischen Hooligans zweier Sportmannschaften oder zwischen gewalttätigen Demonstranten und Polizisten. Er kannte Tränengas und Gummischrot, nicht aber Bomben und Gewehrschüsse.

Dass er nun ausgerechnet bei einem Einsatz als People-Fotograf in eine lebensbedrohliche Situation geraten war, kam Joël erbärmlich vor. Er war kein Paparazzo, wollte keiner sein, war aber doch einer. Die Sache war entweder ein Witz, oder er hatte etwas fotografiert, was er definitiv nicht hätte fotografieren sollen. Warum er wegen eines Bundesrats, für den sich ausserhalb der Schweiz kein Schwein und selbst in der Schweiz nur wenige interessierten, von einem Sessellift gekippt worden war, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Weil die Kamera weg war, konnte er nur darauf hoffen, dass die Aufnahmen mit dem Handy noch verwertbar waren. Vorausgesetzt, das Handy beziehungsweise der Speicher würde die kommende Nacht überleben. Und er selbst auch.

In einem Survival-Buch hatte er einmal gelesen, wie man bei Minustemperaturen überleben kann. Ein Arbeiter war ein ganzes Wochenende in einem Tiefkühllager eingesperrt gewesen. Erst hatte er versucht, die Türe gewaltsam zu öffnen. Dann wollte er die Kühlung an der Decke beschädigen. Dazu hatte er sich mit den Paletten und Kartonschachteln Türme gebaut, war hinaufgeklettert und hatte gegen die Leitungen gehämmert. Alles half nichts. Er war müde, schlief fast ein und begann zu frieren. Dass er erst jetzt fror, rettete ihn: Statt zu schlafen, schleppte er das ganze Wochenende Kisten. Bis seine Kollegen am Montag ins Lager kamen.

Und auch aus den Himalaya-Büchern wusste Joël, dass Schlafen oder Sitzenbleiben den Tod bedeutete. Also musste er sich trotz seines gebrochenen Beins bewegen, am besten dorthin, wo er am ehesten gerettet würde.

Doch zuerst versuchte er, sein Bein mit einem Skistock und den Skiriemchen zu schienen. Das gelang nicht, da war die Theorie zu weit von der Praxis entfernt: Der Skistock war viel zu lang, die Riemchen waren zu kurz, und Joël spürte wegen der Kälte seine Hände nicht mehr. Er beschloss, mit den Skistöcken und mit Hilfe seines gesunden linken Fusses mitsamt dem dazugehörenden Ski dorthin zu robben, wo er die Piste vermutete. Denn wenn er auf einer Piste wäre, stiege die Chance, von einem Pisten-Bully-Fahrer entdeckt zu werden. Diese würden die Pisten entweder spätnachts oder frühmorgens präparieren …

Oder sollte er gleich zur Hütte, in der er den Bundesrat und die unbekannte Dame fotografiert hatte, auf einem Bein hinunterfahren? Aber was, wenn dort unten niemand mehr war, keiner dort übernachtete und alle Fenster, die er hätte einschlagen können, mit Läden verschlossen waren? Dieses Risiko wollte er nicht eingehen, denn er kannte das Skigebiet ziemlich gut. Dort unten steckte er noch tiefer im Schlamassel. Wenn er aber die Bergstation des Sessellifts erreichen würde, könnte er auf der anderen Seite des Passes hinunterfahren, notfalls bis ins Tal.

Dies schien Joël die beste Variante zu sein.

Er begann, sich kriechend durch den Schnee zu kämpfen. Doch er konnte machen, was er wollte – das Bein schmerzte in jeder Stellung höllisch. Also versuchte er aufzustehen. Das funktionierte zwar, doch an Fortbewegung war nicht zu denken. Der Neuschnee war zu tief, er hüpfte, kam aber keinen Zentimeter vorwärts.

Er liess sich wieder fallen und robbte weiter.

Das klappte einigermassen. Doch bereits nach wenigen Metern ging ihm die Puste aus. Er sackte zusammen und atmete schwer. Weiter zu kriechen, bedurfte schon einiger Überwindung.

Nach der zweiten Pause wuchsen Anstrengung und Frustration. Vor allem hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er war und wohin er sich bewegte. Vielleicht robbte er einfach im Kreis herum. Auch das wusste er aus einem Buch: In einer Schneewüste verliert auch der beste Bergsteiger den Orientierungssinn.

Die dritte Pause dauerte sehr viel länger als die erste und die zweite. In der vierten Pause kam ihm der Gedanke, einfach liegen zu bleiben und zu schlafen.

«Ich muss diese verdammte Piste erreichen», rief er laut.

Er schrie. Das Echo war beeindruckend. Ansonsten passierte nichts.

Joël schaute auf die Uhr. Die weisse Swatch zeigte kurz vor 20 Uhr. Wo bleiben die verdammten Pistenfahrzeuge?, fragte er sich.

Er robbte weiter.

Er schwitzte, fror aber trotzdem. Nun spürte er auch, dass sein teurer Skianzug nach diesen langen Stunden im Schnee nicht mehr wasserdicht war. Es schneite immer noch, es windete immer noch, es war tiefste Nacht, und es wurde immer kälter. Joël bewegte sich schneller, geriet dadurch aber auch schneller ausser Atem.

Plötzlich glaubte er, sein Handy klingeln zu hören. Er wollte danach greifen, verhedderte sich aber in den Taschen, weil er in den Händen kein Gefühl mehr hatte. Und als er es schliesslich geschafft hatte, war das iPhone verstummt. Der Bildschirm war schwarz und blieb schwarz.

Joël verstaute das Gerät wieder in der Jackeninnentasche, obwohl auch diese feucht war. Das Innenfutter war nass, alle Taschen waren nass, vermutlich waren sogar die Skischuhe innen nass, aber das spürte er nicht, weil er seine Füsse, wie seine Hände, schon länger nicht mehr spürte.

Er ruhte sich aus. Er schloss die Augen.

Nur ganz kurz, sagte er sich.

GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Das Essen, Gänsebraten mit Rotkohl und Knödeln, war deftig deutsch, aber lecker. Der Wein dazu, drei Flaschen Château Pétrus, war köstlich. Zu köstlich eigentlich für das Mahl, wie Myrta fand. Der Wein musste enorm teuer gewesen sein. Das schloss Myrta nicht nur, weil ihr «Château Pétrus» als Edelweingut bekannt war und ihr der Tropfen wirklich mundete, sondern weil ihr Vater ein Brimborium darum machte. Er bekam von ihr jedes Jahr den «Kleinen Johnson» zu Weihnachten geschenkt, die Weinbibel für den Amateur. Natürlich stand in der Tennemann’schen Bibliothek auch der «Grosse Johnson», sauber eingereiht zwischen anderen zahlreichen Weinbüchern. Myrta konnte als einzige der Familie mit ihrem Vater eine einigermassen fundierte Diskussion über Wein führen. Mama Eva disqualifizierte sich nicht ohne Stolz, indem sie in Gourmetlokalen gerne zu einem exorbitant teuren Essen und einem noch teureren Wein eine Cola light bestellte. Das Wein-Gen hatte sich auch nicht auf Myrtas Bruder Leon, geschweige denn auf ihre Schwester Leandra übertragen. Am allerschlechtesten schnitt in Myrtas Weinkennerrangliste Leons Frau Christa ab, zwar die einzig waschechte Schweizerin der Familie, aber ein Trampel sondergleichen. Myrta war sich bewusst, dass ihr Urteil nicht gerecht war, aber sie musste die erfolgreiche TV-Ärztin ja nicht mögen, nur weil sie die Frau ihres Bruders war. Christa war einfach dämlich und blöd und peinlich. Und zu dick. Jawohl, das auch noch.

Nachdem Eva und Christa das Dessert, Ananas mit einer undefinierbaren Crème, serviert hatten, fragte Eva plötzlich: «Sag mal, Myrta, wie geht es eigentlich deinem Freund Bernd?»

Das war die Frage aller Fragen, und Myrta kam es vor, als hingen selbst die Kinder ihres Bruders nun an ihren Lippen.

«Gut», antwortete Myrta knapp.

«Schön. Kommt er mal wieder in die Schweiz?»

«Er hat viel zu tun.»

«Natürlich», sagte darauf Eva Tennemann und fügte sofort hinzu: «Erzähl uns etwas über Martin, oder Lucky Luke, so hast du ihn doch früher immer genannt.»

«Mama, über Martin wisst ihr wahrscheinlich mehr als ich.»

«Er ist ein stattlicher Pferdezüchter und Pferdehändler geworden», warf Paul Tennemann ein.

«Er hat nicht nur eine Pferdepension?», fragte Myrta nach.

«Nein, er hat noch eine Zucht», antwortete Paul. «Er ist wirklich erfolgreich.»

“Oh…», machte Myrta nur. Martin hatte nichts davon erwähnt. Warum nicht?, fragte sie sich.

«Wie war denn dein Spaziergang mit Lucky Luke heute?», fragte Leandra plötzlich. «Der dauerte ja ewig.»

«Leandra, bitte!», antwortete Myrta.

«Dein Spaziergang dauerte wirklich lange», meinte auch Leon.

«Habt ihr Comic-Hefte angeschaut?», sagte Leandra und erntete dafür Gelächter der ganzen Familie. Die Lucky-Luke-Geschichte aus Myrtas Kindheit war allen bekannt und sorgte immer wieder für einen Lacher.

«Ich stand früher auf Asterix und Obelix», sagte Christa. «Und auch die Filme mit Gérard Depardieu fand ich zum …»

Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Leon seine Frau am Arm festhielt und ihr leise erklärte, dass der Gag der Lucky-Luke-Geschichte nicht der Comic, sondern die Schwärmerei von Martin für Myrta war, zumindest damals in der Jugendzeit.

«M und M und M, sage ich da nur», warf schliesslich Vater Paul ein. «Myrta, Mystery und Martin!»

Myrta spürte einen dumpfen Schlag in die Magengegend. Einen angenehmen. Martin, er sieht schon gut aus, dachte sie.

«Einen Cognac?», fragte Paul und riss Myrta aus ihrem Kurztraum. Ihr Vater erhob sich. «Es ist Weihnachten, kommt, wir setzen uns ins Wohnzimmer, zünden die Kerzen am Weihnachtsbaum an und genehmigen uns einen feinen Cognac. Und Eva, meine herzallerliebste Ehefrau, serviert uns köstliche Weihnachtsguetzli.»

 

Wie niedlich, dachte Myrta. Mein Vater. Liebt seine Frau so sehr. Und spricht unter gütiger Mithilfe des Château Pétrus sogar ein bisschen Schweizerdeutsch: Guetzli statt Plätzchen. Sie stand auf, schlang die Arme um den Hals ihres Vaters und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Sein Duft war immer noch derselbe, er roch nach Papa, nicht nach Mann.

Martin hatte einen ganz anderen Duft.

Sie dachte an Bernd. Wie roch eigentlich Bernd?

Danach an Joël.

Zum wiederholten Male versuchte sie, ihn anzurufen. Nur die Mailbox. Einmal hatte das Telefon normal geklingelt. Nun kam gleich der Telefonbeantworter.

Als die ganze Familie im Wohnzimmer im Halbrund um den Weihnachtsbaum sass, vibrierte Myrtas Handy. Sie entschuldigte sich und ging schnell nebenan ins Esszimmer.

«Hallo?» sagte sie, ohne das Display zu beachten.

«Hey, Süsse, wie geht es dir?»

Bernd.

«Alles okay. Bei dir?»

«Vanessa bringt gerade die Kinder ins Bett. Endlich höre ich dich. Wäre so gerne bei dir. Und bei deiner Familie. Ach, wäre das schön!»

«Ja, Bernd. Geht es dir gut?»

«Na ja. Vermisse dich.»

Myrta antwortete nicht darauf.

«Ich habe frei bis Neujahr, habe aber nichts gesagt. Ich dachte, ich fahre kurz zu dir.»

«Ich muss aber arbeiten», log Myrta, denn auch sie hatte eigentlich Ferien. «Es ist einiges am Laufen, da muss ich noch auf die Redaktion.» Bernd sollte sich mehr um sie bemühen, fand Myrta.

«Dann bist du eben krank oder sonst was. Du bist doch die Chefin. Und es ist ja nicht so wichtig, ob du oder ein anderer das Blättchen macht.»

Das nervte sie. Früher, als sie mit ihm bei RTL gearbeitet hatte, da war alles immer wichtig und super gewesen, was sie machte, aber jetzt, seit sie bei einem Printprodukt und erst noch in der kleinen Schweiz tätig war, war sie in seinen Augen journalistisch abgestiegen. «Ich guck mal», sagte sie ganz ruhig. «Wann würdest du denn kommen?»

«Muss aufpassen wegen Vanessa, damit hier alles …» Kurze Pause. «Hey, tschüss dann», sagte Bernd plötzlich übertrieben laut. «Danke für den Anruf! Gruss an alle!»

Es klickte. Myrta knallte das Handy auf den Esstisch. “Auch Gruss an alle.»

Myrta ging ins Entree, zog sich die Jacke an und trat hinaus in die kalte Nacht. Nach wenigen Schritten durch den Schnee stand sie vor Mysterys Box. Sie öffnete sie und trat hinein. Sie tätschelte ihr Pferd. Mystery blickte kurz auf und suchte dann im Stroh weiter nach irgendetwas Fressbarem.

Was ist bloss aus mir und Bernd geworden, fragte sie sich. Er war doch ihr Schwarm gewesen. Er hatte sie entdeckt, er hatte sie vom Automagazin in die People-Redaktion gebracht. Er hatte sie beraten, gecoacht und gefördert. Nein, eine Liebesbeziehung hatte sie nicht gewollt, aber irgendwann war es passiert. Er war 17 Jahre älter, gutaussehend, charmant – ein richtiger Gentleman. Dass er Familie hatte, wusste sie. Sie dachte lange Zeit, sie könne damit umgehen, fand sogar Spass an der Rolle der Geliebten. Es war Bernd gewesen, der angefangen hatte, von Scheidung und einem neuen Leben mit ihr zu reden. Sogar Kinder wollte er mit ihr haben. Myrta hatte das, wie alles, was Bernd sagte, ernst genommen und ihm geglaubt. Aber sie war immer die Geliebte geblieben. Und sie würde es immer bleiben.

Ist das für eine 34jährige Frau eine Zukunft?, fragte sich Myrta und küsste Mystery auf die Nüstern, der dies mit einem leisen Schnauben quittierte. Er legte die Ohren nach hinten und gab ihr zu verstehen, dass es Zeit war, ihn alleine zu lassen.

LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen!»

Joël wiederholte diesen Satz fast ununterbrochen. Er krabbelte Zentimeter für Zentimeter durch den Tiefschnee und schleifte sein kaputtes Bein hinterher. Um ihn herum war es nur schwarz und grau und weiss. Es schneite noch immer, und der Wind blies auch, und sein Gesicht war rund um die Nase wie eingefroren, was aber das am wenigsten Schlimme war, weil sie so weniger schmerzte.

«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen.»

Zu einem anderen Gedanken war er nicht fähig. Er wusste auch nicht mehr, wohin er eigentlich robbte. Gut möglich, dass er sich in die völlig falsche Richtung bewegte. Möglichweise war er von der Piste weiter weg als je zuvor.

Manchmal konnte er einen Felsen sehen. Das gab ihm Hoffnung. Er glaubte sogar, den Felsen zu kennen und nun gleich die Piste zu erreichen. Dort würde er entweder entdeckt oder sich zumindest besser fortbewegen können. Obwohl dies bei dem heftigen Schneefall nicht mehr sicher war. Doch jedes Mal erwies sich Joëls Annahme als falsch.

«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen!»

Plötzlich hörte er Stimmen. Gelächter.

“Hilfe!”, schrie er, so laut er konnte. “Hilfe!”

Er wartete, horchte und hoffte auf eine Reaktion. Aber es kam nichts. Nicht einmal ein Echo.

«Hilfe! Hier bin ich!»

Er hörte wirklich Gelächter. Es kam von unten. Oder von links.

«Hilfe!»

Nichts. Mit voller Kraft ruderte er nun so schnell wie möglich mit den Armen und dem gesunden Bein durch den Schnee, versuchte, sich mit dem Ski abzustossen, und hatte das Gefühl, schnell vorwärts zu kommen.

«Hilfe!»

Er hielt inne, horchte.

Nur der Wind.

«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht …»

Joëls Kopf sackte in den Schnee.