Die Boulevard-Ratten

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26. Dezember

GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Myrta lag lange wach. Ihre Gedanken rotierten. Bernd hatte ihr noch via WhatsApp eine Kurzmitteilung geschrieben. Sich entschuldigt, dass er so schnell aufgelegt hatte, es sei nicht anders gegangen, er liebe sie, alles komme gut, aber Weihnachten sei nicht die Zeit für eine Trennung. Das war Myrta auch klar. Und ihre plötzliche Schwärmerei für Martin war wohl eher weihnächtlich-romantischer Kitsch als ein wirkliches Gefühl. Um Bernd kämpfte sie mittlerweile schon so lange, dass es ihr plötzlich völlig absurd vorkam, an ihrer Liebe zu ihm zu zweifeln. Sie hatte ihm zurückgeschrieben, dass sie ihn auch liebe. Und gefragt, ob das neue Jahr ihr gemeinsames Jahr werde. Sobald es Tag würde, unternähme sie einen langen Ausritt auf Mystery und würde dann in ihre Wohnung nach Zürich fahren und sich wieder auf die Arbeit konzentrieren.

Sie schlief ein.

Und erwachte schweissgebadet. Ein Albtraum: Der Sensenmann galoppierte mit Mystery durch den Schnee. Der Sensenmann hatte wirklich eine Sense auf der Schulter. Mystery blutete aus der Nase, und sie selbst sass in einem rasenden Zug und beobachtete die beiden.

«So ein Mist», murmelte Myrta.

Sie stand auf, ging ins Bad und trocknete sich ab. Sie wechselte das T-Shirt und legte sich wieder hin. Sie war hellwach. Ein Blick aufs Handy zeigte ihr, dass es 03.17 Uhr war. Nachrichten hatte sie keine erhalten. Mails auch nicht. Was hatte Joël bloss gewollt von ihr? Noch nie hatte er sich einfach so gemeldet. Vielleicht hatte er eine supergeile Hammer-Story, wie er zu sagen pflegte, oder er hatte ein kleineres privates Drama mit irgendeiner Frau, was auch immer wieder mal vorkam. Was sie am meisten erstaunte, war, dass er ihre Anrufe nicht entgegennahm. Joël war doch ein Handy-Junkie und nahm das Gerät sogar auf die Toilette mit.

Die Gedanken kreisten. Warum hatte sie keine neue Mitteilung von Bernd erhalten? Oder von Martin? Blutete Mystery vielleicht wirklich aus der Nase? Was sollte der Quatsch mit dem Sensenmann?

Wegen der Grübelei begann ihr Herz immer schneller zu schlagen, einschlafen war unmöglich. Langsam machte sie sich ernsthaft Sorgen. Also stand sie auf, zog den Bademantel an, tappte leise ins Parterre hinunter, schlüpfte in ihre Stiefel und ging hinüber zum Stall. Sie öffnete den oberen Teil der Stalltüre und sah Mystery, der, in die warme Decke gepackt, dastand, döste und erst nach wenigen Sekunden zu ihr blickte. Er blutete weder aus der Nase noch sonstwo. Sie hatte kalt. Myrta streichelte Mysti flüchtig über die Stirn, schloss die Stalltüre und kehrte ins Haus zurück. In der Küche trank sie ein Glas Wasser, dann legte sie sich ins Bett. Sie spürte, dass sie demnächst einschlafen würde.

Dass es das Handy war, das klingelte und schepperte, realisierte sie eine ganze Weile nicht. Sie schlief doch gar nicht. Oder doch? Was war los? Dann kam sie zu sich, griff nach dem Mobile und nahm, ohne auf das Display zu achten, den Anruf entgegen.

«Joël, bist du das?»

«Hallo?», sagte eine tiefe männliche Stimme.

«Joël? Hör auf mit dem Quatsch!» Myrta nahm das Telefon kurz vom Ohr, schaute aufs Display und sah, dass nicht Joël angerufen hatte. Die Nummer war unterdrückt.

«Wer spricht denn da?», fragte der Mann.

«Das frage ich Sie!», antwortete Myrta mürrisch.

«Hier ist Strimer von der Kantonspolizei Graubünden. Wer sind Sie?»

Myrta schnellte aus dem Bett, sagte aber nichts.

«Heissen Sie Myrta?», fragte der Polizist.

«Ja, Myrta, Myrta Tennemann. Ist was mit Joël?» Sie konnte sich gar nichts anderes vorstellen, es konnte sich nur um Joël handeln.

«Joël? Schreibt man das mit Jot oder mit I?»

«Mit Jot wie Jäger.»

«Das ist der Vorname, oder? Und der Nachname?»

«Was soll das?»

«Ich erkläre es Ihnen gleich. Nennen Sie mir bitte erst seinen Nachnamen.»

«Thommen mit T und H wie Englisch the. Joël Thommen. Und auf dem E im Vornamen hat es zwei Pünktchen. Aber das ist jetzt egal, sagen Sie mir …»

«Sind Sie seine Frau oder Partnerin, Freundin?»

«Ja. Also, nein, nicht seine Frau.»

«Seine Partnerin?»

«Äh, seine Freundin. Was ist denn los?»

«Sie waren die Letzte, die er angerufen hat. Er hat Sie doch angerufen, oder?»

«Ja.»

«Und was hat er gesagt?»

«Nichts. Er rief mich an, aber ich habe ihn zugetextet mit meinem Scheiss, so wie wir das immer machen, wenn der eine den anderen anruft, dann labert der, der angerufen wird, einfach drauflos und tut so, als würde der andere …»

«Ja, ja, das interessiert im Moment nicht. Was hat er gesagt?»

«Nichts, weil ich ja, wie gesagt, gelabert habe, und dann war die Verbindung weg und konnte nicht mehr hergestellt werden. Ich machte mir Sorgen, weil Joël ein Handy-Junkie ist und das Telefon immer …»

«Gute Frau!», unterbrach der Mann energisch. «Ihr Freund liegt in kritischem Zustand im Spital Samedan. Wir suchen Angehörige, die ihn identifizieren können.»

«Er ist tot?»

«Nein, nein. Aber wir wissen gar nicht, wer er ist. Können Sie vorbeikommen? Oder hat er Angehörige hier im Engadin? Familie?»

«Engadin? Er ist im Engadin?»

«Ja, sagte ich doch, Samedan.»

«Nein, seine Familie wohnt irgendwo im Aargau, keine Ahnung wo. Was macht er denn im Engadin? Engadin sagten Sie doch, oder?»

«Herr Thommen wohnt also im Aargau?»

«Nein, in Zürich.»

«Aber Familie Thommen wohnt in Aarau, richtig?»

«Ja, also nein, ich weiss es nicht», haspelte Myrta. «Nein, sie wohnen doch nicht in Aarau, im Aargau sagte ich, das ist der Kanton, der ist gross, irgendwo in so einem Kaff. Aber das ist egal. Was ist denn überhaupt passiert?»

«Das wissen wir nicht.»

«Kann ich mit ihm sprechen?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

«Er liegt im Koma. Es geht ihm wirklich sehr schlecht. Sie sollten herkommen …»

«Klar. Sofort. Spital Engadin, sagten Sie?»

«Samedan.»

«Ja, Samedan, Engadin.»

CHESA CASSIAN, PONTRESINA, ENGADIN

Um Punkt 07.00 Uhr rief Jachen Gianola einen Mann an, den er nur als Dirk kannte.

«Verdammt, was gibt es so früh?», bellte dieser ins Telefon. «Was steht an heute?»

«Keine Ahnung. Was soll das?»

«Da drüben am Berg war irgendwas los diese Nacht.»

«Na und, was soll gewesen sein?»

«Jedenfalls war mehr los als sonst. Da waren mehr Pistenfahrzeuge unterwegs, und sie waren anders unterwegs als sonst.»

«Und deshalb rufst du mich an? Sag mal, spinnst du?»

«Dieser Kerl in der Hütte gestern, der mit dem Fotoapparat, den ich wegweisen musste …»

«Jachen, entspann dich, wir haben dir gesagt, die Sache ist erledigt.»

«Was habt ihr …»

«Du bist um 10 Uhr hier, verstanden?»

“Klar. 10 Uhr.»

Jachen Gianola legte auf. Er zupfte an seinen dichten Augenbrauen und überlegte angestrengt: Sollte er seinen Freund Karl Strimer bei der Polizei anrufen?

AUTOBAHN A13

Myrta redete ununterbrochen. Das tat sie immer, wenn sie gestresst war. Das war auch einer der Gründe gewesen, weshalb sie es bei RTL nur zur Aushilfsmoderatorin und nicht in die Liga der Top-Präsentatorinnen geschafft hatte. Das glaubte sie zumindest. Sie sprach zwar gut, fehler- und akzentfrei, war stets charmant. Aber einfach einen Tick zu schnell, weil sie vor der Kamera nervös war. Und sie war sich bewusst gewesen, dass es schwierig würde, sofort in die Reihe der RTL-Stars zu gelangen. Es war zwar nicht ausgeschlossen, aber die Verantwortlichen hatten ihr klar gemacht, dass sie Geduld haben müsse. Aber Geduld hatte sie nicht. Ausser mit Bernd. Und warum sie ausgerechnet mit ihm Geduld hatte, konnte sie sich auch nicht erklären. Als dann das Angebot für die Stelle als Chefredakteurin der «Schweizer Presse» kam, nahm sie es an. Ein bisschen Printerfahrung als Chefin einer Zeitschrift kann nicht schaden, hatte sie sich gesagt. Zudem hoffte sie, in der Beziehung zu ihrem Dauer-Fast-Freund eine Entscheidung zu erzwingen. Zwar sass er in der Chefredaktion von RTL. Doch früher oder später hätten sie oder er sowieso die Stelle wechseln müssen, was auch immer mit ihnen passiert wäre. Und was ihr auch entgegengekommen war: Sie verdiente jetzt viel mehr.

Das alles hatte sie auf der Fahrt von Engelburg bis Chur erzählt. Martin sass am Steuer seines Range Rovers und kam höchstens dazu, «aha» oder «so so» zu sagen.

«Ich rede wirklich zu viel, nicht wahr?»

Martin wollte etwas antworten, schaffte es aber nicht.

«Weisst du», fuhr Myrta fort. «Ich textete schon in der Schule all meine Freundinnen zu. Und die Lehrer dachten, wenn ich viel Theater spielen würde, bessere es sich vielleicht. Also spielte ich dauernd Theater. Waldorfschule halt. Aber es nützte nichts. Selbst in der Eurythmie redete ich dauernd …»

«Eurythmie?», fragte Martin und setzte sich für einmal durch.

«Ja, Eurythmie, Steiner’sche Bewegungskunst, Tanz, was weiss ich, habe es nie begriffen. Dann haben sie mich in die Sprachgestaltung geschickt. Ich musste Gedichte rezitieren. Fand ich toll. Aber genützt hat es auch nichts. Hey, sag mal, wie lange brauchen wir noch?»

Vom abrupten Themenwechsel überrumpelt, musste Martin erst einen Augenblick nachdenken. «Eine gute Stunde oder mehr», sagte er dann, «kommt auf die Strassenverhältnisse am Julierpass an. Es schneit.»

«Scheissschnee. Ich hasse Schnee, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin. Vielen Dank, dass du so spontan mitkommst, das ist wirklich lieb.» Das i zog sie etwas übertrieben in die Länge. Sie lächelte Martin an, streichelte kurz über seinen linken Arm. Und schwieg einen Moment.

 

«Erzähl mir die Geschichte mit Joël», forderte Martin sie auf. «Aber die Kurzfassung!»

Myrta gab ihm einen kleinen Schubs: «Schon gut, ich gebe mir Mühe.» Sie räusperte sich. «Also. Ich verdiente während dem Studium Geld als DJ. Joël war Partyfotograf. Wir verliebten uns. Dann entliebten wir uns wieder und wurden Freunde. Richtige Freunde. Wir lebten zusammen in einer WG. Ohne Sex. Als ich dann nach Köln zum Fernsehen ging, blieben wir Freunde. Allerdings hasst Joël Bernd. Er ist überzeugt, dass das nie was wird. Ende. Kurz genug?»

CHESA CASSIAN, PONTRESINA, ENGADIN

«Allegra, Karl», sagte Jachen. «Kann ich dich was fragen?»

«Du, ich bin ein bisschen unter Druck, was gibt es denn?»

Jachen Gianola und Karl Strimer sprachen rätoromanisch miteinander. Sie waren in Samedan zusammen zur Schule gegangen.

«Ist etwas passiert auf der Corviglia oder auf Marguns?»

«Ja, auf der Fuorcla Grischa wurde diese Nacht ein Mann gefunden. Halb erfroren. Liegt jetzt im Spital. War eine schwierige Rettung, weil der Helikopter wegen dem Wetter nicht fliegen konnte. Sieht schlecht aus.»

«Fuorcla Grischa, sagst du?», hakte Jachen nach. Denn auf diesem Pass befindet sich die Bergstation des Sessellifts, den sie am Vorabend nach dem Besuch der Hütte benutzt hatten.

«Ja. Der hatte Glück, dass man ihn überhaupt gefunden hat. Leute, die unten in der Hütte feierten und dann mit diesen Dingern da, diesen Ski-Töffs …»

«Ski-Doos meinst du?»

«Ja, mit diesen Ski-Doos heimfuhren, haben ihn zufällig auf der Piste entdeckt. Ich vermute, der war auch auf dieser Party, obwohl die Retter ihn nicht kennen wollen. Die waren doch alle besoffen. Und der Typ wollte wohl noch skifahren und, ach du weisst ja, wie das heute zu- und hergeht.»

«Ja, ja.»

«Warum fragst du eigentlich?»

«Bin mit Bundesrat Battista unterwegs, deshalb will ich auf Nummer sicher gehen.»

«Kein Problem. Alle Pisten sind wieder frei.»

«Danke, Karl.»

Jachen zupfte an seinen Augenbrauen. Die Situation passte ihm überhaupt nicht. Er war seit 40 Jahren Skilehrer, seit über 30 Jahren unterrichtete er nur private Gäste. Keine Klassen. Er hatte die besten Gäste, die sich ein Skilehrer wünschen konnte. Er verdiente ordentlich Geld, bekam viele Geschenke, feierte mit den Gästen in den nobelsten Lokalen von St. Moritz und wurde von ihnen im Sommer in die ganze Welt eingeladen, inklusive Reisekosten und alles andere. Natürlich gehörten dazu viele Frauen, ältere und jüngere, mittlerweile vor allem ältere. Er hatte zweimal geheiratet, konnte aber nie treu sein.

Einen Politiker wie Luis Battista zu begleiten, brachte finanziell zwar nicht so viel, steigerte aber den Marktwert. Er war schon seit Jahren mit Luis unterwegs, auch als dieser noch nicht Bundesrat gewesen war. Er hatte Battistas Frau Eleonora und den Kindern das Skifahren beigebracht. Battistas waren gute Gäste. Seit er in der Schweizer Regierung sass, hatte er sich verändert, fand Jachen Gianola. Und in diesem Jahr war sowieso alles anders. Eleonora Battista und die Kinder waren nicht da. Sie waren angeblich nach Portugal zu Eleonoras Eltern geflogen. Das hatte ihm Battista wenigstens erzählt. Sei wohl das letzte Weihnachtsfest der Grosseltern, hatte er erklärt. Jachen Gianola glaubte ihm nicht recht, er vermutete eine Ehekrise. Aber er war Profi und hatte keine weiteren Fragen gestellt.

Dann war diese junge Dame aufgetaucht, Karolina. Mit K, nicht mit C. Der Nachname wurde ihm nicht mitgeteilt. Mit ihr kamen die Bluthunde, unangenehme Deutsche wie Dirk. Sie übernahmen das Zepter. Sie hatten ihm klar gemacht, dass er jetzt in ihren Diensten stehe, nicht mehr in jenen von Battista. Luis hatte das Okay dazu gegeben. Massgebend war nun also Karolina. Oder eben dieser Dirk. Jachen vermutete, dass Karolina eine Prinzessin war. Oder sonst irgendeine deutsche Adlige.

Jachen riss sich mehrere graue Härchen aus den Augenbrauen. Dann griff er zum Telefon und rief Luis Battista an: «Allegra, gut geschlafen, Luis?»

«Guten Morgen, Jachen! Ja, herrlich. Wie ist das Wetter?»

«Noch nicht so toll. Soll aber besser werden heute. Gegen Süden hellt es bereits auf. Wäre ein toller Tag für Diavolezza und Lagalb!» Jachen Gianola wusste, dass dies Battistas Lieblingsskigebiete waren. Und dort waren vor allem keine Promis.

«Jachen, Moment mal …» Die Verbindung wurde für etwa 30 Sekunden unterbrochen. «Nein, keine gute Idee. Es bleibt bei 10 Uhr, Talstation der Signal-Bahn!»

«Luis, ich möchte dir noch …»

«Bis dann, okay?»

Weg war er.

«Ich bin bloss Skilehrer», sagte Jachen zu sich selbst. «Also halt dich aus den Angelegenheiten deiner Gäste raus.»

SPITAL SAMEDAN

Die Fahrt über den Julierpass verlief problemlos. Myrta und Martin trafen kurz vor 9 Uhr im Spital Samedan ein und wurden bereits von Karl Strimer erwartet. Der Kantonspolizist informierte sie kurz über die Rettungsaktion, sagte ihnen auch, dass man mittlerweile Joëls Auto an der Talstation in Celerina gefunden und es beim Polizeiposten parkiert habe. Im Auto habe man auch seinen Pass gefunden und sei nun daran, seine Familie ausfindig zu machen. Er erzählte, dass er Joëls Handy dank des iPhone-Akkus seiner Tochter in einer längeren Schraub- und Bastelaktion habe wiederbeleben können und so an ihre Telefonnummer gekommen sei. Myrta ihrerseits klärte Karl Strimer nochmals über ihr Verhältnis zu Joël auf. Obwohl sie offiziell in keinerlei rechtlich relevanten Beziehung zu Joël stand, gab Karl Strimer sein Einverständnis, dass sie Joël kurz besuchen konnte. Martin bemerkte, er sei eigentlich nur Myrtas Chauffeur und warte in der Cafeteria.

Ein ungarischer Arzt, dessen Name Myrta nicht verstand, versuchte, ihr etwas umständlich zu erklären, dass Joëls Zustand nach wie vor kritisch sei. Er habe eine Hypothermie erlitten, eine starke Unterkühlung, der Puls sei kaum noch fühlbar gewesen. Sein Kreislauf sei jetzt aber wieder stabil. Man müsse damit rechnen, dass die Erfrierungen an den Füssen bleibende Schäden hinterliessen. Zudem habe er eine gebrochene Nase und ein verstauchtes Bein.

Schliesslich wurde Myrta zu Joël geführt. Er lag, verkabelt mit mehreren medizinischen Geräten, mit geschlossenen Augen im Bett.

«Oh mein Gott!», hauchte Myrta, ging zu ihm und flüsterte: «Wage es bloss nicht abzukratzen, du Idiot! Irgendwas hast du da oben auf diesem Scheissberg gemacht. Du wolltest mir sagen, was. Also reiss dich zusammen, damit wir die Sache rocken können. Auch wenn mir der Sensenmann erschienen ist, vergiss es, mein Freund, du bleibst gefälligst hier!»

Joëls Gesicht zuckte.

Vielleicht auch nicht. Denn schliesslich war es wegen der gebrochenen Nase fast vollständig von einem Verband bedeckt.

Aber Myrta hatte das Zucken trotzdem gesehen.

TALSTATION SIGNALBAHN, ST. MORITZ

Jachen Gianola sass in seinem warmen Allrad-Audi-A4 und grüsste den Parkwächter, der wie immer eine dicke Fellmütze trug. Der Skilehrer parkierte, nahm die Ski aus dem Dachkoffer und machte sich daran, den einzigen, wirklich unangenehmen Teil seiner Arbeit hinter sich zu bringen: Er zwängte sich in die Skischuhe. In all den Jahren hatte er noch kein Modell gefunden, das bequem und leicht anzuziehen war.

Als er die Schuhe endlich montiert und die ersten Schnallen geschlossen hatte, atmete er tief durch und blinzelte in die Sonne, die gerade durch die dicken Wolken schien. Dann setzte er seine Porsche-Sonnenbrille auf und sagte sich, dass heute ein guter Tag würde. Er stapfte breit grinsend über den Parkplatz, und weil er zu früh war, stattete er «seinen Mädchen», wie er sie nannte, im Sportgeschäft noch einen Besuch ab.

Als die drei schwarzen, schweren M-Klasse-Mercedes mit Münchner Nummernschildern vorfuhren, eilte Jachen zurück zum Parkplatz und begrüsste alle mit Handschlag und tätschelte sie an der Schulter. Luis Battista, der einen schwarzen Helm und eine riesige Carrera-Skibrille aufgesetzt hatte, Dirk und die vier anderen Typen. Dann stieg Karolina aus. Sie trug heute eine dunkelblaue Jet-Set-Jacke und hatte einen silbrig-glänzenden Skihelm dabei. Jachen küsste sie auf die Wangen und meinte, dass sie «aifach ghoga guat» aussehe. Den Dialekt verstand die Brünette zwar nicht, aber sie lächelte den alten Skilehrer charmant an. Nach ihr stieg noch eine zweite Frau aus, etwa gleich alt wie Karolina, in einer blauen Daunenjacke von Lasse Kjus. Sie stellte sich mit Floriana vor.

«Oh, das klingt wie Flurina», sagte Jachen. «Hier oben im Engadin heissen alle schönen Mädchen Flurina!» Er sprach absichtlich in einem holprigen Schweizer Hochdeutsch. Aus Erfahrung wusste er, dass dies besonders bei den Ladies gut ankam.

Floriana quittierte den Satz mit einem Lächeln und wandte sich dann sofort Karolina zu. Jachen buckelte die Ski der Damen und schritt, noch breiter grinsend, zur Station. Dort nahm er auch seine eigenen Ski auf, sein Rücken schmerzte bereits, doch Jachen grinste weiter.

Battista, die Damen, Dirk und die anderen Typen kamen nach und drängten sich in die bereits volle Gondel. Jachen liess seine weissen Zähne blitzen und betonte immer und immer wieder, was das für ein schöner Tag werden würde, wie sensationell der Schnee heute sei und was das Engadin doch für ein Wunderland sei.

Der Skilehrer war in seinem Element. Er stand im Mittelpunkt, niemand bemerkte, dass er mit hochkarätigen Gästen unterwegs war. Wobei Luis Battista kaum zu erkennen war mit der Riesenbrille, die er in diesem Jahr fast nie abnahm, wie Jachen längst registriert hatte. Lag wohl an den besonderen Umständen. Statt gelbe Gläser hatte Battista heute die dunklen montiert, da es heute Sonne und keinen Nebel geben würde.

Als Jachen und sein Trupp auf den ersten Sessellift steigen mussten, achtete Jachen darauf, dass er mit Dirk alleine auf einen Sitz kam.

«Ihr habt den Kerl fast getötet», flüsterte er ihm zu, als der Sessel aus der Station holperte. «Ich weiss ja nicht, was hier abgeht und wer diese Karolina ist. Aber ich sage dir: Wenn noch irgendwas vorfällt, informiere ich die Polizei. Luis Battista ist immerhin Bundesrat, also ein wichtiger Schweizer Politiker, verdammt nochmal.»

«So was würde ich an deiner Stelle nicht mal denken, du alter Ski-Bock. Die Leute wollen bloss ein bisschen Spass. Also mach einfach deinen Job und greif den Ladies ein bisschen an den Arsch und an die Titten, das mögt ihr Bergfuzzis doch, okay?»

SPAZIERWEG AM ST. MORITZERSEE

Sie hatten den See bereits zweimal umrundet. Myrta hatte viel geredet, aber auch zugehört, wenn Martin etwas erzählte. Sie sprachen über Joël, über ihre Arbeit und fast am meisten über Pferde. Martin erklärte ihr viele Einzelheiten über die White-Turf-Pferderennen auf dem zugefrorenen See, die jeweils im Februar stattfinden. Myrta kannte diesen Event nur als Top-Promi-Anlass. Dass es hier um grossen Pferdesport und noch grössere Geldsummen ging, hatte sie bisher nicht realisiert. Martin erzählte, er habe hier auch schon ein Pferd an den Start geschickt und dadurch einen guten Verkaufspreis erzielt. Myrta staunte einmal mehr über den Mann neben sich: Lucky Luke bewegte sich offensichtlich in besseren Kreisen. Das imponierte ihr.

«Sag mal», meinte Myrta. «Warum hast du mir nicht erzählt, dass du nicht nur eine Pferdepension, sondern auch eine Pferdezucht betreibst und mit den Tieren handelst?»

Da Martin nicht gleich antwortete, schickte Myrta ein «Na?» hinterher.

«Ich wollte nicht bluffen», sagte Martin. «Ich bin nur ein kleiner Pferdezüchter und -händler.»

Myrta kniff ihn in den Arm.

Es war Mittag, und die Sonne hatte sich durchgesetzt. Martin schlug vor, einen kleinen Umweg an den Stazersee zu machen und dort auf einer Sonnenterrasse etwas zu essen. Sie bestellten sich eine Bündner Gerstensuppe und einen Salsiz dazu, teilten sich das Ganze und hätten den Moment eigentlich geniessen können – wäre beiden nicht bewusst gewesen, weshalb sie überhaupt hier waren. Sie sassen nebeneinander an der Hauswand, die die Wärme der Sonne abstrahlte. Myrta schloss die Augen und legte ihre Hand auf Martins Oberschenkel.

«Ich habe dich in aller Herrgottsfrühe geweckt, du fährst mit mir einfach schnell ins Engadin – warum machst du das eigentlich für mich?», fragte sie.

Martin antwortete nicht. Er legte seinen Arm um Myrta. Dieses Mal schon ein bisschen geschickter, fand sie und lächelte in die Sonne.

SESSELLIFT GLÜNA

Die beiden Damen und ihre Beschützer waren schon ins Berg-restaurant gegangen. Luis Battista wollte mit Jachen Gianola unbedingt noch eine weitere Abfahrt machen, um auch mal richtig Ski zu fahren und nicht auf die Damen und ihre Bodyguards, die alle nicht so sicher auf den Latten standen, Rücksicht nehmen zu müssen.

 

«Wie wäre es mit einer Off-Piste-Abfahrt?», fragte Jachen.

«Ich bin dabei», antwortete Luis Battista, der die Skibrille für einmal auf den Helm hochgeklappt hatte. «Aber nur, wenn es sicher ist.»

«Keine Angst! Wir haben doch alles im Griff, oder?» Er gab dem Bundesrat einen kleinen Stoss. Der Sessel schwankte. Jachen zeigte mit dem Skistock nach links auf einen felsigen, steilen Hang. «Siehst du dieses Couloir zwischen den beiden grossen Felsen? Dort schwingen wir uns runter. Das wird ein Spass. Hat erst wenige Spuren drin.»

«Ist das nicht gefährlich? Keine Lawinengefahr?»

«Hey, Luis, was ist los? So kenn ich dich gar nicht!»

«Alles okay.» Luis Battista lächelte. Etwas angestrengt. Aber immerhin waren nun seine markanten Grübchen zu erkennen.

Nachdem sie oben angekommen waren, sausten sie eine kurze Strecke auf der Piste hinunter und fuhren mit viel Schuss in eine ziemlich lange Ebene, in der Tiefschnee lag. Dadurch wurden sie stark abgebremst. Schliesslich blieben sie stehen und mussten sich noch ein gutes Stück mühsam mit den Stöcken vorankämpfen. Dann standen sie endlich vor dem Couloir, das sie vom Sessellift aus gesehen hatten.

«Das ist ziemlich steil», sagte Luis.

«Super, erst zwei Spuren im Schnee», meinte Jachen nur. «Tiefschnee fahren ist im steilen Gelände einfacher!»

«Und es ist eng!»

«Das sind drei Meter, Luis. Du machst einfach einen Schwung nach dem anderen.»

«Und wenn nicht?»

«Hey, Kurzschwung haben wir lange genug geübt. Tiefschneefahren auch. Und ich sage dir: Das ist Pulver, wie du ihn nur wenige Male pro Winter erlebst! Powder, wie die Jungen sagen, Powder, mein Lieber!»

«Der Hang hält, keine Lawine?»

«Der hält, Schattenhang, eine Stunde noch, dann wird es kritisch.»

«Bist du sicher?»

«Luis, ganz sicher ist man nie. No risk, no fun!»

«Hast recht.»

«Ich zuerst?»

«Klar, wie immer.»

Sie klatschten ab, so wie sie es seit Jahren machten, wenn sie eine besondere Herausforderung vor sich hatten. Wobei die Herausforderung für den Bundesrat wesentlich grösser war als für den Skilehrer. Dann zogen sie die Riemchen an ihren Skihelmen nach. Lawinenausrüstung hatten sie keine.

Jachen stiess sich ab in die Tiefe. «Juhuuuuu!», schrie er. Er wedelte perfekt die enge Rinne hinunter. Es sah aus, als würde er tanzen. «Juhuuuuuuuu!» Er kam den Felsen bedrohlich nahe, konnte aber immer rechtzeitig abschwingen. Der Schnee stob.

Nun Luis. Erster Schwung, zweiter Schwung …

«Mach dich leicht!», schrie Jachen. «Schwebe!»

… fünfter Schwung, sechster Schwung …

«Yeah! Super!», schrie der Herr Bundesrat zurück.

… achter Schwung, neunter Schwung …

Der zehnte Schwung misslang. Battista knallte mit seinen Ski gegen die Felsen, wurde zurückkatapultiert und tauchte kopfvoran Richtung Abhang in den Schnee. Er überschlug sich, rutschte den Hang hinunter und blieb schliesslich an Jachen hängen, der sich ihm gekonnt in den Weg gestellt hatte.

«Alles klar?», fragte Jachen.

«Verdammt nochmal!», fluchte der Bundesrat. «Was für einen Scheisshang schickst du mich runter?»

«He, alles klar, that’s snowsport …», lachte Jachen und liess seine weissen Zähne blitzen.

«Du bist doch einfach ein Arschloch!», zeterte Battista. «Verdammt nochmal, ich bin Bundesrat, ich bin einer der wichtigsten Menschen in diesem Land, was fällt dir eigentlich ein, so einen verdammten Scheiss mit mir …»

«Halt mal die Luft an, Bundesrat, da oben bist du genauso ein ‹Tschumpel› wie ich!»

Jachen half seinem Gast auf die Beine, klopfte ihm den Schnee vom Körper. Dann schwang er den Rest des Hanges, der nun breiter und flacher wurde, elegant hinunter und wartete unten. Luis Battista blieb lange stehen, fuhr dann ziemlich ungelenk hinterher.

«Sorry, Jachen, wollte dich nicht anfauchen.»

«So kenne ich dich wirklich nicht. Früher warst für jeden Spass zu haben. Was ist denn los?»

«Ach, nichts!»

Jachen bemerkte, dass Battistas Knie zitterten. «Mir kannst du nichts vormachen. Geht mich ja nichts an. Aber dass ein Kerl wegen dieser Karolina und ihren Idioten halbtot im Spital liegt, finde ich auch nicht toll.»

«Worüber sprichst du?»

Der Skilehrer erzählte ihm, was er wusste. «Keine Ahnung, was die Kerle mit dem Fotoheini gemacht haben, aber wenn der Typ stirbt, werde ich mit meinem Freund Karl Strimer von der Polizei Tacheles reden.»

Luis Battista umarmte Jachen, ohne noch etwas zu sagen.

Dann fuhr Jachen davon: «Juhuuuuu!»

LEJ DA STAZ, ST. MORITZ

Myrtas iPhone klingelte. Anrufer war der ungarische Arzt. Sie solle sofort ins Spital kommen. Joël sei erwacht, er wolle mit ihr reden. Myrta und Martin kehrten im Laufschritt zurück zum Auto und fuhren zum Spital Samedan. Der Arzt bat Myrta, nur kurz bei Joël zu bleiben, er sei noch sehr schwach. Dann betrat sie das Zimmer und ging zu Joël: «Da bin ich. Was willst du?»

Joël hustete. Röchelte. «Ich habe eine supergeile Hammer-Story», flüsterte er.

«So so», antwortete Myrta gespielt schroff und wechselte dann sofort in einen aufgeregten Ton, der ihrer Stimmung entsprach. «Das interessiert jetzt doch kein Schwein. Was ist passiert? Mein Gott! Du lebst!»

«Ja, schon gut», näselte Joël durch den Verband. «Nimm mein iPhone. Da hat es ein geiles Bild drauf. Kostet dich aber eine Kleinigkeit.»

«Hör auf, Joël. Werd erst mal gesund!»

«Quatsch, spar dir das Geschleime. Nimm das Handy, schau dir das Bild an.»

«Joël bitte, ich sterbe vor Sorge, rase hierher, und du willst mir ein Bild verkaufen.»

«Schau es dir an! Das Handy liegt da.»

«Ja, ich guck gleich.»

Myrta tippte auf den Foto-Ordner und erblickte eine ihr unbekannte junge, hübsche Frau, die Händchen hielt mit einem ihr sehr wohl bekannten mittelalterlichen, gutaussehenden Mann mit süssen Grübchen in den Wangen.

«Der glücklich verheiratete Superpolitiker Luis Battista mit einer kleinen Schlampe … Joël Thommen, das ist wirklich ein geiles Bild. Ein bisschen unscharf, aber das bin ich mir ja gewohnt von dir.»

Sie streichelte ihm über die Wange.

BERGSTATION MARGUNS, CELERINA

Seit 15 Uhr herrschte an der Bar unter dem grossen Zelt Skihütten-Stimmung. Karolina und Floriana tranken Champagner, die Herren Erdinger Weissbier, bis auf Jachen, er nippte an einem einheimischen Calanda Edelbräu.

Floriana und die vier Begleiter hatten vom Skifahren die Nase voll und wollten an der Bar ein bisschen Party machen. Luis Battista hingegen hatte noch Lust auf eine Abfahrt und fragte Karolina. Sie lächelte ihn an. Plötzlich gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. Danach machten sie sich mit Jachen auf zur 6er-Sesselbahn Trais Fluors. Dirk tappte hinterher, sich mithilfe der Stöcke vorantreibend.

Oben angekommen, bestand Luis Battista darauf, Karolina die schwarze Piste zu zeigen. Dirk war strikt dagegen. Karolina jedoch, etwas beschwipst, hielt sich am Bundesrat fest: «Die schwarze Piste ist doch Kiki!» Sie kicherte.

Jachen war zwar nicht begeistert. Aber er war froh, dass der Bundesrat etwas lockerer drauf war. Er würde ihn und vor allem Karolina schon irgendwie den steilen Hang hinunterlotsen. Er hatte noch alle seine Gäste hinuntergebracht. Und was Dirk machte, war ihm egal.

Der erste Teil der Strecke war einfach. Da die Piste allerdings nicht präpariert war, kämpfte Karolina bereits mit den ersten Tücken des Tiefschneefahrens. Kurz darauf standen sie dann vor dem langen, steilen Schlusshang. Wenn es lange nicht geschneit hatte, war es eine Buckelpiste, die wirklich nur für sehr gute Skifahrer zu bewältigen war. Nun aber war es eine bereits von anderen Skifahrern durchpflügte Off-Piste-Abfahrt mit hohen Schneewällen dazwischen, was sie nicht einfacher machte. Jachen zeigte mit ganzem Körpereinsatz, wie man diese Schneewälle umfahren oder überspringen musste, indem er in die Knie ging, sich dann streckte und sich wieder tief hinunterkauerte. «Ihr müsst euch klein machen, dann gross, wieder klein und so weiter», wies er seine Gäste an. «Ihr müsst diese Wälle schlucken!»