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2

Sie war weder draussen vor dem Haus «Zem Syydebändel» noch im kleinen Park beim Totentanz auf der anderen Strassenseite. Sie war auch nicht in ihrer Wohnung im dritten Stock, nicht in ihrem Atelier und auch nicht auf der kleinen Dachterrasse.

«Lasst mich kurz allein», bat Elin im Treppenhaus Selmas engste Freunde Lea und Marcel. «Ich habe so eine Ahnung.»

«Okay, dann räumen wir unten mal langsam auf», meinte Lea.

Elin wartete, bis die beiden verschwunden waren, ging dann vom dritten in den zweiten Stock und klopfte vorsichtig an die Wohnungstüre: «Selma?»

Sie bekam keine Antwort.

Elin war sich sicher, dass Selma drinnen war. Jahrelang war diese Wohnung im zweiten Stock für Selma und Elin tabu gewesen. Jahrelang hatte nur ihre Mutter Charlotte, die im ersten Stock des Hauses wohnte, diese Räume betreten. Den Schlüssel dazu hatte sie im Wandtresor hinter dem Gemälde des abgesetzten schwedischen Königs Gustav IV Adolf aufbewahrt. Selma und Elin hatten immer geglaubt, dass ihre Mutter diese Wohnung nur deshalb nicht freigab, weil hier sowohl Charlottes Ehemann Dominic-Michel Legrand wie auch ihr Vater Hjalmar Hedlund verstorben waren. Aber dann hatte Elin das Amulett mit dem Foto eines fremden Mannes in Charlottes Schlafzimmer gefunden und begann, Fragen zu stellen. Charlotte geriet unter Druck. Und hatte kurz darauf Selma in diese Wohnung im zweiten Stock geführt und ihr die Gemälde des schwedischen Malers Arvid Bengt Ivarsson gezeigt. Arvid Bengt Ivarsson war der Mann, dessen Foto in Charlottes Amulett war. Das Geheimnis war gelüftet. Und das Lügengebilde Charlotte Legrand-Hedlunds brach zusammen.

Elin klopfte erneut. «Selma, ich weiss, dass du da drin bist.»

Keine Antwort.

«Schwesterherz, ich komme jetzt herein.»

Elin öffnete langsam die Wohnungstür und sah im fahlen Licht der Strassenlaternen, das durchs Fenster schien, Selma auf einem der mit Leintüchern abgedeckten Sessel sitzen. Sie hatte die Pumps ausgezogen und hielt ihre Beine mit den Händen fest.

Selma funkelte Elin giftig an: «Nenn mich nicht Schwesterherz!»

Elin ging zu ihr und umarmte sie. «Wie soll ich dich denn sonst nennen? Halbschwesterherz? So ein Blödsinn. Du bist und bleibst meine Schwester!»

«Ich bin keine Legrand», fauchte Selma.

«Natürlich bist du das. Unsere Mutter hatte eine Affäre mit diesem Arvid Bengt Ivarsson, na und? Da waren sie und Papa noch kein richtiges Paar. Sie hatten sich gekannt, ja, vielleicht auch geliebt – ach, das spielt doch jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist, dass unsere Mutter ihrem zukünftigen Ehemann alles gebeichtet hat. Und vor allem, dass er sie trotzdem und obwohl sie schwanger war, geheiratet und dich wie seine leibliche Tochter angenommen hat.»

«Angenommen?» Selma stand auf, ging ans Fenster und starrte zum Totentanz hinaus. Die farbigen Herbstblätter an den Bäumen im kleinen Stadtpark tanzten im leichten Wind. Blies der Wind kräftiger, lösten sich viele Blätter von den Ästen und schwebten zu Boden. «Angenommen?», wiederholte Selma giftig. «Was für einen Mist redest du?» Selma drehte sich um, nahm die alten Familienfotos der Legrands und der Hedlunds vom Regal und streckte sie Elin entgegen. «Alles Lug und Trug, Elin», schimpfte Selma und warf die Fotos auf den Boden. Die Glasscheiben zersplitterten. «Dem feinen Söhnchen aus der noblen Bankiersfamilie Legrand war wohl nichts anderes übriggeblieben. Das war doch alles ein abgekartetes Spiel: Monsieur Dominic-Michel Legrand aus der Basler Hautevolee, dem Daig, heiratete die Tochter des angesehenen schwedischen Professors Hjalmar Hedlund! Ich bitte dich, Elin. Da wurde ein Bastard wie ich nicht geduldet.»

«Selma!», rief Elin erschrocken. «Du bist kein …»

«Natürlich bin ich das!»

«Vater hat dich geliebt.»

«Er ist nicht mein Vater. Er ist nicht mein Vater.» Selma liess sich auf die Knie fallen, vergrub ihren Kopf in den Händen und schluchzte.

«Selma, du darfst das nicht so sehen. Wirklich nicht. Mein Vater ist auch dein Vater. Du hast jetzt eben zwei Väter. Vielleicht suchst du ihn …»

«Ich werde ihn nicht suchen, verdammt nochmal!», wetterte Selma zwischen ihren Heulkrämpfen. «Der Idiot interessiert mich nicht. Und das künstlerische Talent habe ich sicher nicht von ihm! Warum hat Mutter überhaupt all diese Bilder? Ach, was soll’s! Es ist mir völlig egal!»

Elin versuchte, Selma zu trösten: «Lass es raus, lass es endlich raus!» Doch Selma weinte und weinte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte Elin leise: «Wenigstens redest du wieder darüber. Seit dich Mama in diese Wohnung geführt hat, habt ihr ein Mal zusammen geredet. Und ein Mal noch mit mir. Dann wolltest du nicht mehr darüber sprechen. Dabei beschäftigt mich das alles sehr. Ja, auch ich leide darunter. Weil ich dich liebe. Und weil ich meine Familie liebe. Aber du wolltest nie erfahren, was …» Elin brachte den Satz nicht zu Ende. Sie war aufgewühlt, wollte nichts Falsches sagen, vor allem keine Vorwürfe machen.

Selma blickte auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte resolut: «Ich will auch jetzt nicht darüber sprechen. Ich will feiern. Gib mir fünf Minuten. Dann komm ich hinunter, und wir ziehen um die Häuser. Wer noch da ist, soll mitkommen!»

Selma stieg in ihre Wohnung in den dritten Stock, um sich frisch zu machen und um ihren Mantel zu holen. Als sie in den Coiffeursalon zurückkam, waren nur noch Lea, deren Freund Georg, Elin, Marcel, ihre Mutter und Jonas Haberer anwesend.

«Selmeli, ist alles in Ordnung mit dir?», wollte Charlotte wissen.

«Alles bestens», sagte Selma, «habe ich rote Augen?»

«Ganz leicht. Hast du geweint?»

«Ein bisschen, vor Rührung», log Selma. «Kommst du mit?»

«Mit? Wohin?», fragte Charlotte.

«Feiern!»

«Wir sind dabei», sagte Jonas und legte seinen Arm um Charlotte. Diese schaute ihn ziemlich verdutzt an. «Keine Widerrede, Charlotte», sagte Jonas. «Wir zeigen jetzt dem jungen Gemüse, wie man richtig feiert.»

Mit seinen schweren Schritten und seinen roten Boots liess Jonas Haberer die Mittlere Rheinbrücke erzittern. Klack – klack – klack. Zielstrebig und als klarer Leader der kleinen Vernissagetruppe steuerte er im Kleinbasel die erste Kneipe an und bestellte vier Glas Sekt und fünf Bier.

«Warum fünf Bier?», wollte Lea wissen. «Ihr seid nur drei Männer.»

«Wirst du gleich sehen, Süsse», meinte Haberer und lachte laut. So laut, dass alle anderen Gäste zu ihm schauten. Als die Bestellung serviert wurde, leerte Jonas Haberer das erste Bierglas in einem Zug. Das zweite ebenso. Dann ergriff er das dritte und prostete allen anderen zu: «Hatte ich vielleicht einen Durst, goppeloni!» Das «Goppeloni» versuchte er in Baseldeutsch auszusprechen, was ihm als Berner nicht wirklich gelang. «Ein Kumpel aus Basel sagt das immer, goppeloni, ein Kriminalkommissar, ein Kommissär, wie man hier sagt.» Wieder lachte er laut heraus. Dann hustete er ebenso laut und sagte: «Schluss damit! Wir trinken auf unsere fantastische Künstlerin, Selma Legrand-Hedlund genannt Selmeli!»

«Haberer», fauchte Selma, lächelte ihn daraufhin aber charmant an.

«Ich darf Selmeli sagen», meinte Haberer. «Ich und deine Mama.»

Während alle anderen an ihren Gläsern nippten, leerte Haberer auch das dritte Bier in einem Zug. Und bestellte sich ein viertes.

Er nahm Selma am Arm und sagte: «Deine Bilder sind okay. Aber du bleibst Reporterin, klar?»

«Meine Kunst ist brotlos …»

«Zum Glück. Und noch was, bevor ich betrunken bin: Ich habe einen neuen Job für dich.»

«Oh! Was denn?»

«Habe ich vergessen. Erzähle ich dir morgen beim Frühstück.»

«Frühstück?»

«Prost, Selmeli!»

Nach dem Besuch des ersten Lokals verabschiedete sich Selmas Schwester Elin. Nach dem zweiten Lokal Lea. Ihr Partner Georg war bereits zünftig in Schuss, hatte einen Narren an Selma und Jonas Haberer gefressen und wollte unbedingt noch weiterziehen. Das machte Lea ziemlich sauer. Marcel rettete die Situation, in dem er anbot, Lea ein Stück weit zu begleiten.

«Bringst du sie nach Hause, bitte?», fragte Selma.

«Klar.» Marcel gab Selma drei Küsschen. «Pass auf dich auf, Liebste.»

«Pass auf dich auf, Liebster», sagte auch Selma und drückte ihn an sich – was definitiv nicht zu ihrem «Liebste und Liebster»-Ritual gehörte.

«Können wir endlich weiter?!», brüllte Haberer, legte den Arm um Selmas Mutter und steuerte nun im Basler Rotlichtmilieu eine ziemlich düstere Spelunke an. Die Bar war heruntergekommen, der rote Samt an den Wänden schmutzig, die roten Lampen staubig.

Haberer bestellte wiederum Sekt für die Damen und Bier für die Herren. Selma spürte mittlerweile den Alkohol, und ihre Füsse in den hohen Schuhen schmerzten. Sie setzte sich an die Bar. Rechts neben ihr nahmen Jonas und Charlotte Platz, links Georg.

Bald spürte sie eine Hand an ihrer Hüfte.

Es war Georgs Hand. «Weisst du eigentlich, dass du umwerfend sexy bist?», sagte er leicht lallend. «Das wollte ich schon lange einmal sagen.»

Selma stand auf und lächelte die Anmache weg. «Ich glaube, ich sollte nach Hause.» Sie wandte sich zu Charlotte, die mit Haberer eifrig diskutierte: «Mama, was meinst du? Gehen wir?»

«Ich bin in besten Händen, Liebes», sagte Charlotte und lächelte Jonas Haberer an. «Wir reden über Kunst.»

«Über Kunst … aha.» Selma war erstaunt. Haberer und Kunst – diese Kombination war ihr gänzlich unbekannt. Und sie konnte sie sich auch nur schwer vorstellen.

Georg hielt plötzlich Selmas Arm fest und sagte: «Du bist doch auch in besten Händen, Selmeli.» Er griff mit der anderen Hand an Selmas Po.

 

Selma zog ihren Arm weg, warf Georg einen stechenden Blick zu und sagte zu Haberer: «Wir gehen!»

«Wir gehen?»

«Wir gehen!» Selmas Augen funkelten.

Haberer verstand: «Muss ich wegen einem Grapscher meinen Goppeloni-Polizisten-Kumpel rufen?» Haberer holte demonstrativ sein Handy hervor.

Georg schaute ihn verdattert an.

Haberer zahlte und führte die beiden Damen aus dem Lokal. Als Georg ihnen folgen wollte, sagte Haberer: «Bestell dir ein Taxi!»

Klack – klack – klack. Haberer übertönte mit seinen Boots das spitze Klacken von Selmas und Charlottes hohen Absätzen. Mutter und Tochter hatten sich bei ihm eingehängt.

«Das war widerlich!», echauffierte sich Selma, als sie durch die menschenleere Stadt gingen. «Ich wusste nicht, wie schrecklich Leas Partner ist, furchtbar.»

«Hast du wirklich einen Freund im Kommissariat, Jonas?», fragte Charlotte.

«Na ja, in meinem früheren Leben als richtiger Reporter, als Boulevard-Ratte. Lange her. Da habe ich noch in der Gosse recherchiert. Heute besuche ich Vernissagen! Verdammt, was ist bloss aus mir geworden?!» Er lachte. Er lachte laut. Sein Lachen hallte durch die Gassen. Dann räusperte er sich und sagte: «Ich habe Hunger. Gibt es noch einen mitternächtlichen Schwedenschmaus?»

«Oh, Gott, nein!», rief Selma.

«Hering habe ich immer im Haus», sagte Charlotte. «Und Schnaps ebenso!»

3

«Skål!» Immer wieder «Skål!»

Charlotte Legrand-Hedlund, die Kunsthistorikerin und Dame aus besserer Gesellschaft, sowie Jonas Haberer, der rüpelhafte Ex-Chefredaktor und jetzige Medienunternehmer, prosteten sich nach jedem Hering mit einem Gläschen Aquavit zu. Als die Flasche leer war, Haberer aber noch nicht genug hatte, holte Charlotte eine fast volle Flasche Absolut, schwedischen Wodka.

«Skål!»

Selma konnte es kaum fassen, dass ihre Mutter überhaupt noch stehen konnte. Sie hatte sicher die meisten Sekt- und Schnapsgläser irgendwo ausgeleert. Und stattdessen viel Wasser getrunken. Jedenfalls nippte Charlotte immer wieder an einer Petflasche.

«Los, Selmeli, du Spassbremse!», grölte Jonas. «Zieh dir auch einen Hering rein – und vor allem Schnaps. Ihr Skandinavier sauft doch alle bis zum Umfallen. Da bin ich dabei.»

«Ich bin Schweizerin», protestierte Selma. «Aber gut, her mit dem Zeugs. Dieser ekelhafte Georg hat mir den Rest gegeben. Jetzt gebe ich mir die Kante! Skål!»

«Ich mache ihn fertig», sagte Haberer. «Aber erst morgen.»

Da Selma Vegetarierin war, verzichtete sie auf einen Hering und trank den Wodka pur. Haberer schenkte ihr gleich noch einmal ein. Auch dieses Glas leerte Selma.

Fünf Minuten später war ihr übel. Alles drehte sich. Sie streifte die Pumps von ihren Füssen und stand vorsichtig auf. Sie wankte. Wie sie von Mutters Wohnung im ersten Stock zu ihrer eigenen Wohnung im dritten gelangen sollte, war ihr schleierhaft. Sie nahm sich deshalb vor, sich kurz auf Mamas Bett zu legen, danach Jonas nach Hause oder irgendwohin zu schicken und dann in ihre Wohnung zu steigen und schlafen zu gehen.

In Charlottes Schlafzimmer liess sie sich aufs Bett fallen. Sie fühlte sich wie auf einem Karussell. Selma schloss die Augen.

Als sie aufwachte, war es hell. Sie lag immer noch auf Mamas Bett. Und sie trug immer noch ihr blaues Kleid. Neben ihr, warm zugedeckt, schlummerte ihre Mutter – abgeschminkt und mit Nachthemd.

Selma setzte sich auf. Sie spürte leichtes Kopfweh. Aber wenigstens drehte sich nichts mehr. Ans Karussell konnte sie sich noch erinnern. Was davor passiert war, wusste sie nicht mehr.

Das änderte sich, als sie das Wohnzimmer betrat. Auf den Beistelltischen standen mehrere leere Heringgläser, Schnapsgläser und je eine leere Aquavit- und Absolut-Flasche. Ihre Pumps lagen auf dem Boden. Und auf dem abgewetzten Biedermeiersofa lag Jonas Haberer. Er war komplett angezogen. Auch seine roten Boots hatte er noch an.

«Oh, Gott», murmelte Selma. «Ich brauche einen Kaffee.»

Selma ging in die Küche und setzte Filterkaffee auf. Sie schaute zu, wie die braune Brühe in die Kanne tröpfelte. Sie starrte mit leerem Blick in die Kanne. Plötzlich hörte sie das laute Klack – klack – klack, aber im Gegensatz zu sonst nur sehr langsam.

«Gibt es Kaffee?», fragte Jonas Haberer und blinzelte. Seine normalerweise fett eingegelten Haare fielen in sein faltiges Gesicht.

«Gleich», antwortete Selma. «Sag mal, warum konntest du gestern an der Vernissage so lautlos übers Parkett …» Sie suchte nach dem richtigen Wort.

«Schweben?», half Haberer nach.

«Na ja, schweben, ich weiss nicht, treten. Bist du ein Leisetreter geworden?»

Haberer lachte kurz, hustete, verzog das Gesicht und griff sich an den Kopf.

«Brummschädel?»

«Ach was!» Er fuhr sich durch die Haare, strich die Strähnen nach hinten, spuckte in die Hände und pappte damit seine Haare an den Kopf. «So, ich bin wiederhergestellt», sagte Haberer und räusperte sich laut. «Zu deiner Frage: Nein, ein Leisetreter werde ich nie sein. Ich habe eben Manieren.»

«Oh», machte Selma nur und goss den Filterkaffee in eine Tasse. «Milch?»

«Schwarz.»

Selma reichte die Tasse Haberer. Dieser nahm einen grossen Schluck, würgte und verdrehte die Augen: «Was ist das?»

«Kaffee.»

«Jesusmariasanktjosef. Das kann man ja nicht saufen. Liegt es am Rheinwasser, oder ist euch der Kaffee ausgegangen?»

Selma machte Jonas Haberer einen Espresso.

«Hattest du schon einmal Probleme mit diesem Georg?», fragte Haberer und setzte sich an Charlottes Küchentisch.

«Nein, bisher nicht, aber ich sehe ihn auch nicht oft.»

«Wenn er dich das nächste Mal belästigt, rufe ich den Kommissär Zufall an.»

«Bitte?»

«Wie ich gestern schon gesagt habe: Ich kenne jemanden auf dem Kommissariat. Olivier Kaltbrunner.»

«Und wieso kennst du ihn?»

«Hatte einmal eine geile Story in Basel. Da warst du auf irgendeiner deiner sinnlosen Reportagen im Ausland, um die Welt zu verbessern. Währenddessen hockten dieser Oli und ich in den Rattenlöchern von Basel und haben diese Stadt und die Welt nicht nur verbessert, nein, wir haben sie gerettet.»

«Aha», sagte Selma und glaubte ihm kein Wort.

«Ich kann mich daran erinnern», sagte plötzlich Charlotte, die perfekt frisiert und gestylt im Türrahmen stand. «Es ging um einen Angriff von Terroristen. Und um Giftgas.»

«Echt jetzt?», fragte Selma erstaunt.

Haberer nickte stolz.

«Es war fürchterlich», meinte Charlotte, hüstelte kurz und fuhr fort: «Aber Jonas hat als Journalist auch schon ein monströses Armeeprojekt verhindert und uns alle vor einem schrecklichen Virus …»

«Zu viel der Ehre, liebe Charlotte», unterbrach Haberer und stand auf, «ich habe nur getan, was ein Mann tun muss. Aber ja, du hast recht», er lächelte Charlotte an, «es war verdammt viel. Dank mir sind wir alle gesund und frei!»

«Natürlich», sagte Charlotte schmunzelnd. «Ich würde jetzt gerne Kaffee mit euch trinken.»

Haberer bot Charlotte seinen Stuhl an und setzte sich neben Selma.

«Mama, warum bist du so fit? Du hast doch ordentlich getrunken?»

«Ja, Wasser.»

«Deine Mutter ist eine Dame», sagte Haberer. «Sie hat ihre Tricks.»

«Gut, dass ihr mich daran erinnert.» Sie ging in die Stube und kam mit einer Petflasche zurück, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war. Diese leerte sie nun im Schüttstein aus.

«Was war das?», fragte Selma erstaunt.

«Eine Mischung aus Sekt, Aquavit und Wodka.»

«Du willst aber nicht sagen, dass du den Alkohol nicht geschluckt, sondern in diese Flasche gespu…»

«Selmeli!», unterbrach Charlotte.

Selma und Jonas schauten sich an und mussten lachen.

Plötzlich stand Jonas auf und sagte: «Leute, ich muss! Selma, morgen um 10 Uhr in Engelberg, klar?»

«Bitte?»

«Dein Auftrag.»

«Wie, mein Auftrag? Du hast nichts gesagt.»

Jonas schaute Charlotte an, die aber nur mit den Schultern zuckte. «Okay, dann habe ich es vergessen. 10 Uhr Engelberg. Du musst über verrückte Skifahrer eine Reportage machen. Die Sache eilt.»

«Jonas, ich bin keine Sportreporterin.»

«Papperlapapp. Geht mehr um Porträts. Ich ruf dich an!» Er drehte sich zu Charlotte und warf ihr einen Kuss zu. «Es war mir eine Ehre, Madame Charlotte Svea Legrand-Hedlund.» Und zu Selma sagte er kurz: «Selmeli, wir hören uns.»

Klack – klack – klack. Die Tür fiel ins Schloss. Jonas Haberer, der Kotzbrocken, war weg.

«Was für ein Mann», hauchte Charlotte und nippte an ihrem Kaffee.

Selma packte ihre Pumps und ging in ihre Wohnung. Sie liess Wasser in die Badewanne einlaufen, zog sich aus und legte sich hinein. Sie lag so lange in der Wanne, bis sie fror. Dann liess sie das Wasser ab und duschte. Als sie sich im Spiegel anschauen wollte, war dieser beschlagen. Sie föhnte ihn. Dann betrachtete sie sich und war überrascht: So übel, wie sie sich fühlte, sah sie nicht aus.

Sie hüllte sich in ihren Bademantel, packte ihre Haare in einen Frotteeturban, setzte Kaffee auf und checkte ihr Handy. Sie hatte viele Nachrichten über WhatsApp erhalten. Es waren Dankesschreiben für die Vernissage, meistens mit etwas übertriebenen Huldigungen zu ihrem Talent als Malerin.

Dann entdeckte sie die Nachrichten von Georg. In der ersten entschuldigte er sich für sein Verhalten. Er habe etwas zu viel getrunken. In der zweiten bedankte er sich und schrieb, welch faszinierende Frau Selma sei. Die dritte Nachricht lautete: «Uns verbindet etwas ganz Grosses. Wir wissen beide, dass wir zusammengehören.»

Selma rannte ins Bad und übergab sich.

4

Er hiess Lasse Svensson, war Selmas Kontaktperson in Engelberg und sah gut aus. Das registrierte das fotografische Auge der Reporterin sofort. Lasse hatte halblange, leicht gewellte, blonde Haare, blaue Augen, gebräunter Teint. Er hatte einen kräftigen Händedruck und ebenso kräftige Arme, auf denen sich die Adern deutlich abzeichneten. Dass Lasse nicht mehr ganz jung war, erkannte Selma daran, dass sich der Haaransatz ziemlich weit oben befand und sich auf der Schädeldecke die Haarreihen bereits gelichtet hatten. Auch die Falten am Hals und im Gesicht wurden nur noch rudimentär durch den blonden Dreitagebart verdeckt. All das schmälerte Lasses Attraktivität keineswegs. Nicht nur Selmas fotografisches Auge war von der Erscheinung angetan.

Lasse Svensson war Schwede und so etwas wie der Manager und Vermarkter der Engelberger Freerider, einer Gruppe tollkühner, junger Skifahrerinnen und Skifahrer aus der Schweiz, Schweden, Kanada, USA und Australien. Auch ein junger Russe gehörte dazu. Die rund 25 Frauen und Männer gehörten zu jenem Kreis von internationalen Snowboardern und Skifahrern, die immer auf der Suche nach dem besten Powder waren – dem besten Pulverschnee – und der steilsten und gefährlichsten Berghänge dieser Welt. Da der Innerschweizer Tourismusort Engelberg dies bieten kann, über eine perfekte Infrastruktur verfügt und nur anderthalb Stunden vom Zürcher Flughafen entfernt liegt, war er in den letzten Jahren ein internationaler Hotspot dieser verrückten Szene geworden.

«Geschneit hat es, das Wetter ist gut, und nun bist auch du da», sagte Lasse in gutem Deutsch. Sein leicht schwedischer Akzent war äusserst sympathisch. «Morgen kann es losgehen.»

«Dazu hätte ich noch einige …»

«Später, jetzt trinken wir erst mal etwas, okay? Weisst du, wir nehmen hier alles ein bisschen easy.» Lasse lächelte und begab sich hinter die Theke der Hell-Bar – der Höllen-Bar – im Powder-Inn, in dem Selma ein Zimmer gebucht hatte. Das Powder-Inn war ein alter Hotelkasten. Er lag nur wenige Schritte hinter dem Engelberger Bahnhof und war liebevoll renoviert und ausgestattet worden. An den Wänden der Hell-Bar hingen alte Skis und viele Plakate und Fotos. Die Plakate warben für die Olympischen Winterspiele der letzten Jahrzehnte auf den verschiedenen Kontinenten dieser Welt. Die Fotos zeigten Skirennfahrer und Skispringer aus ebenfalls längst vergangener Zeit. Dazwischen hingen Masken und Figuren kleiner Teufel und Hexen. Die Höllen-Bar stand eindeutig für Höllenritte im alpinen Schneesport. Und das Hotel Powder-Inn war das Zentrum der Engelberger Freeriderszene.

 

Selma war über Lasses Ausdrucksweise irritiert. «Alles easy» war nicht ihre Sache, war es niemals gewesen und würde es auch niemals sein. Der so attraktive Lasse hatte bereits einen ersten Kratzer erhalten.

Den zweiten fügte er wenige Minuten später hinzu: Statt Kaffee oder Tee oder Wasser zu trinken, schenkte sich Lasse ein Bier aus dem Zapfhahn ein. Dabei war es erst kurz nach halb elf Uhr morgens.

«Cheers», sagte Lasse. «Oder: Skål! Du bist doch Schwedin, oder? Jonas hat sowas gesagt.»

«Jonas sagt viel, wenn der Tag lang ist», meinte Selma und hob ihr Latte-Macchiato-Glas: «Skål!» Sie nahm einen Schluck, leckte sich mit der Zunge den Milchschaum von den Lippen und löffelte den Rest aus dem Glas. Plötzlich bemerkte sie, wie Lasse sie beobachtete und anlächelte.

Selma lächelte verlegen zurück, versuchte aber mit der Hand ihr Grübchen in der rechten Wange zu verdecken. Ihr Grübchen, das sie einfach nicht mochte.

«Jonas sagt zudem», meinte Lasse, «dass du die Beste für diesen Job bist.»

«Wie bereits erwähnt: Jonas sagt viel. Leider hat er mir vergessen zu sagen, dass es diesen Job überhaupt gibt. Ich habe erst gestern davon erfahren.»

«Oh. Wir wissen seit drei Monaten, dass du kommen wirst.»

«Entweder wird Jonas alt. Oder er …», Selma deutete auf Lasses Bierglas, «… er trinkt zu viel.»

Lasse lachte, ergriff sein Glas und schüttete das Bier in den Ausguss. «Besser so?»

Punkt für ihn, dachte Selma. Und: Ja, er ist süss, charmant, gutaussehend. Aber nicht mein Typ. Er flirtet viel zu offensiv. Und er hat überhaupt nichts vom zurückhaltenden, typischen Schweden.

Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre Haare und sagte betont sachlich: «Die Reportage über euch soll im Bordmagazin der Scandinavien Airlines erscheinen. Das wisst ihr?»

«Klar. Jonas hat gesagt, die Story über die verrückten Freerider in Engelberg soll sogar auf die Titelseite.»

«Ja, ja, Jonas …»

«… sagt viel, wenn der Tag lang ist», ergänzte Lasse und lachte. Auch Selma musste lachen.

Zwei Stunden später fuhren sie mit der grossen Seilbahn auf den Titlis, zusammen mit vielen Touristen aus Indien und anderen asiatischen Ländern. Obwohl das Wetter ziemlich trüb war, liessen sich die Touristen ihre Stimmung nicht vermiesen. Sie genossen den Ausblick aus der sich langsam drehenden Kabine der Titlis-Rotair, fotografierten den Gletscher, zogen die Reissverschlüsse ihrer Daunenjacken bis zum Hals hinauf und drückten ihre Mützen tief ins Gesicht.

Auf dem Gipfel stürmte es. Und es war minus zehn Grad kalt. Kleine Eiskristalle wurden in der Luft herumgewirbelt. Selma zurrte die Kapuze ihrer Skijacke zu und schaute belustigt den ausländischen Gästen zu, wie sie in ihren Sneakers durch den Schnee stapften und immer wieder ausrutschten. Mit ihrer kleinen Kamera schoss Selma einige Bilder.

Lasse redete fast ununterbrochen und zeigte mit den Händen in diese und jene Richtung. Selma konnte ihn kaum verstehen, weil der Wind so laut war. Lasse erklärte ihr wohl, wo und wie morgen das Fotoshooting stattfinden sollte und wo die Freerider in den Hang einsteigen würden.

Schliesslich gingen Selma und Lasse wie die Touristen über die Hängebrücke und durch die Gletschergrotte wieder zurück zur Titlis-Bergstation. Im Restaurant roch es nach Curry und Koriander. Neben dem asiatischen Buffet stand eine Kaffeemaschine. Selma und Lasse liessen sich zwei Latte Macchiato von der Maschine zubereiten und setzten sich an einen Tisch. Lasse zog eine Karte der Schweizer Landestopografie hervor, zeigte Selma die genaue Route und markierte mit kleinen Kreuzen die besten Standorte für die Aufnahmen.

«Wir machen das nicht zum ersten Mal», erklärte er Selma. «Ich werde dich zu all diesen Punkten führen, damit du dich ganz aufs Fotografieren und Filmen konzentrieren kannst. Wir machen auch einen Clip, oder?»

«Ja. Deshalb brauche ich einfach Zeit und verschiedene Standorte. Und das Wetter muss mitspielen.»

«In der Nacht sollte es wieder schneien und frischen Powder geben. Am Tag soll dann die Sonne scheinen. Wir werden fantastische Bedingungen haben. Ein bisschen Sorge …» Lasse zögerte.

«Sorge?»

«Na ja, es soll wieder wärmer werden.»

«Darüber wäre ich nicht unglücklich.»

«Wärme ist für einen Gletscher immer schlecht. Und ebenso für Freerider und Bergsteiger, die sich darauf bewegen. Aber wir passen auf. Zudem sind wir alle bestens ausgerüstet. Für dich haben wir auch geeignetes Material.»

«Gut. Aber ich bin keine Freeriderin. Ich fahre nicht über den Gletscher.»

«Öhm», Lasse stockte kurz, «das wird sich leider nicht vermeiden lassen, Selma. Du seist eine ganz hervorragende Skifahrerin, sagt …»

Selma sprang auf und wählte auf ihrem Handy die Nummer von Jonas Haberer. Während die Verbindung aufgebaut wurde und es schliesslich klingelte, murmelte Selma aufgebracht: «Ein paar Porträts machen, dass ich nicht lache, Habilein!»

Jonas Haberer nahm den Anruf nicht entgegen.