Wölfe

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5

Es tröpfelte noch leicht, als Selma und Lasse am nächsten Morgen die Seilbahn Engelberg-Titlis bestiegen. An den Fenstern der Achtergondel perlte das Wasser ab. Als die Kabine die erste Zwischenstation am Trübsee erreichte, deutete nichts darauf hin, dass das Wetter besser werden sollte. Auch bei der zweiten Zwischenstation Stand, wo die beiden in die grosse Titlis-Rotair-Kabine umsteigen mussten, gab es Niederschlag – allerdings nicht Regen, sondern Schnee.

Selma dachte nach, ob sie schon einmal Ende November auf den Skis gestanden war. Nein. Irgendwie war doch fast noch Sommer. In Basel zumindest war es bis kurz vor ihrer Vernissage noch sommerlich warm gewesen. Und jetzt stand sie mitten im Schnee, ausgerüstet wie eine Profifreeriderin. Was ihr ganz und gar nicht behagte.

Lasse hatte darauf bestanden und sie gestern nach dem Besuch auf dem Titlis in einem Sportgeschäft direkt neben dem Powder-Inn ausgestattet: breite und leichte Freerideskis inklusive Spezialbindung und -schuhe, Felle, Helm und ein Rucksack mit Airbag, Lawinenverschütteten-Suchgerät, Lawinenschaufel, Sonde. Da das Fotoshooting auf dem Gletscher stattfinden sollte, hatte Lasse aus dem Fundus der Freerider im Keller des Powder-Inn für Selma Steigeisen, Eispickel, Eisschrauben und ein Seil geholt.

Am Abend hatte sie bei einem Drink und einem Snack in der Hell-Bar einige der Freerider kennengelernt. Unter ihnen Ole und Deborah, die sich Debby nannte. Sie waren die idealen Hauptpersonen für Selmas Reportage: Ole, der coole Schwede, und Debby, die bodenständige Einheimische. Selma sprach lange mit ihnen und machte sich Notizen.

Ole und Debby hatten sich beim Freeriden kennengelernt, verliebt und schliesslich in Engelberg eine gemeinsame Zukunft aufgebaut. Ole, der studierte Sportlehrer aus Malmö, arbeitete als Schneesportlehrer. Im Sommer gab er Kurse als Biketourenleiter. Debby arbeitete im Tearoom und der Confiserie ihrer Eltern und sprach deshalb den einheimischen Dialekt mit den vielen ä und ü.

Irgendwann war Selmas Kopf voll mit neuen Informationen und Eindrücken. Sie hatte sich entschuldigt und war ins Bett gegangen.

Die Bergbahn schwebte steil hinauf. Die Wolken lichteten sich. Selma schaute auf den Gletscher. Hier sollte sie mit den Skis hinunterfahren! Der Reporterin wurde es mulmig. Natürlich, sie war eine gute Skifahrerin, schliesslich hatte sie mit Edith auch eine tolle Lehrerin gehabt. Aber das war lange her. Und Selma war aus der Übung.

Selma schweifte mit ihren Gedanken ab und erinnerte sich an ihre Jugendzeit, an die vielen Winterferien in Gstaad. Aber war sie mit Edith auch einmal auf einem Gletscher? Edith, die so tragisch verunglückt war. Selma dachte auch an Ediths Sohn Res, den sie bei ihrer Reportage auf der Alp hoch über dem Lauenensee wieder getroffen hatte. Und sie sah Martina vor sich, die Käserin, das verrückte Huhn. Wie es ihr wohl ging? Obwohl Martina geglaubt hatte, sie wären beste Freundinnen fürs Leben, war der Kontakt abgebrochen. Hatte Selma sie überhaupt zu ihrer Vernissage eingeladen?

«Auf geht’s!», sagte Lasse und riss Selma aus ihren Gedanken. Die Seilbahn war in die Bergstation eingefahren. Lasse und Selma stiegen aus und buckelten ihre Skis bei heftigem und eisigem Gegenwind zum Einstieg in die Abfahrtsroute.

«Alles klar, Selma?», fragte Lasse. Wegen des Windes musste er schreien. «Du solltest jetzt den Helm aufsetzen.»

Selma hasste den Helm. Ihre Haare und ihre Frisur waren ein äusserst sensibles Thema. Ein Helm war tödlich. Er war der Hauptgrund, weshalb sie in Basel kaum mit dem Fahrrad unterwegs war. Aber jetzt ging es nicht anders. Selma stülpte sich den Helm über den Kopf und setzte die Skibrille auf. Tatsächlich gab es am Himmel erste blaue Flecken.

«Pass jetzt gut auf, Selma», begann Lasse und instruierte sie noch einmal genau über das Gelände, über ihre Ausrüstung, zeigte ihr nochmals den Notgriff des Lawinenairbags, umarmte sie schliesslich und streckte den in einen dicken Handschuh eingepackten Daumen nach oben. Selma erwiderte sein Zeichen und stürzte sich hinter Lasse in den Abgrund.

Die ersten Schwünge im Tiefschnee, im Powder, waren schrecklich. Selma kam sich vor wie eine Anfängerin. Doch Lasse legte eine perfekte Spur hin – wie damals Edith. So gewann Selma schnell an Leichtigkeit, und schon bald tanzte sie durch den Pulverschnee, wie Edith immer gesagt hatte. Selma bekam immer mehr Spass. Was für einen tollen Job sie doch hatte!

Selma und Lasse erreichten den ersten Standort für die Aufnahmen. Sie zogen die Skis aus und montierten die Steigeisen. Die Reporterin kramte die Fotokamera aus ihrem Rucksack hervor, checkte alles durch und brachte sich in Stellung. Mit einer App kontrollierte sie den Lauf der Sonne, falls sie denn zum Vorschein kommen sollte. So konnte sie entscheiden, wie sie die Freerider im Licht- und Schattenspiel am besten einfangen konnte.

Lasse holte sein Funkgerät hervor und rief Ole. Ole meldete sich auf Schwedisch. Sie seien gerade auf dem Titlis angekommen.

«Okay, verstanden», sagte Lasse ebenfalls auf Schwedisch. «Wir sind bereit und können …»

«Wir sind nicht bereit», ging Selma dazwischen. «Wir brauchen Sonne. Im Moment hocken wir in einer Milchsuppe.»

«Wir brauchen Sonne», meldete Lasse durch den Funk an Ole.

«Okay, verstanden, wir warten. Meldet euch, wenn es so weit ist. Wir sind im Restaurant an der Wärme.» Ole lachte kurz, das Funkgerät zischte, und die Verbindung brach ab.

«Wir warten», sagte Lasse, setzte sich neben Selma in den Schnee und angelte eine Thermosflasche aus seinem Rucksack. Er reichte Selma den Becher: «Ist Tee, kein Bier», meinte er und zwinkerte der Reporterin zu.

Der Tee wärmte. Und auch die Nähe zu Lasse wärmte. Irgendwie. Ja, irgendwie fühlte sich Selma mit diesem Kerl, der scheinbar alles so easy nahm, ziemlich sicher. Denn was die Sicherheit betraf, nahm Lasse nichts easy. Überhaupt hatte sie das Gefühl, dass die Freerider zwar verrückte Typen waren, mit einer scheinbaren Leichtigkeit durchs Leben gingen und ihr ganzes Leben dem Powder und dem perfekten Moment unterordneten, aber dabei keineswegs ihr Leben aufs Spiel setzten. Genau solchen Fragen müsste sie in den Interviews auf den Grund gehen.

«Du bist eine fantastische Skifahrerin», sagte Lasse plötzlich. «Jonas hat schon recht gehabt, was er über dich erzählt hat. Auch wenn er vielleicht viel sagt, wenn der Tag lang ist.»

«Jonas ist ganz okay. Ich habe viel von ihm gelernt. Er hat zwar einen kleinen Dachschaden, aber den habt ihr ja auch.»

«Und du ebenso. Brauchst doch Action in deinem Leben. Sonst wärst du nicht in Krisengebiete gereist, um Reportagen zu machen.»

«Das ist lange her. Woher weisst du das überhaupt?» Lasse lächelte nur.

«Alles klar. Ich werde mir Jonas vorknöpfen.»

«Hast du in solchen Krisengebieten nie Angst gehabt?»

Wenn der wüsste, welche Scheissangst ich gehabt habe, dachte Selma. Und welche Angst ich jetzt habe, dass ich hier heil herunterkomme. Aber sie antwortete nicht. Das Gespräch wurde ihr gerade zu intim. Sie sprach nicht gerne über sich. Ausser mit Lea. Oder Marcel. Ihren besten Freunden. Ja, mit Marcel! Er war der einzige, dem sie sich voll und ganz anvertrauen konnte. Obwohl: Die Geschichte ihres leiblichen Vaters hatte sie ihm nicht erzählt.

Ein leises Zischen war zu hören, das schnell lauter wurde. Plötzlich tauchte die Titlis-Rotair-Seilbahn aus dem Nebel auf. Das Zischen stammte von den beiden dicken Tragseilen, über die die vielen Räder ganz oben am Arm der Kabine rollten.

«Ole!», funkte Lasse.

«Verstanden.»

«Geht los.»

«Verstanden.»

Lasse stand auf und sagte zu Selma. «In zehn Minuten bekommst du deine Bilder.»

Selma schaute nach oben. Noch hingen Nebelschwaden über ihnen. «Aha. Zehn Minuten.»

Die bergauffahrende Kabine zischte nun ebenfalls vorbei. Sie war schon sehr viel besser zu sehen. Tatsächlich kämpfte sich jetzt die Sonne durch den Nebel, der sich auflöste. Es wurde sofort wärmer.

«Lasse?», plärrte es aus dem Funk. «Seid ihr bereit?»

Selma zog Brille, Helm und Handschuhe aus, brachte sich und die Kamera in Position, drückte ihre Steigeisen nochmals ins Eis und streckte schliesslich den Daumen nach oben.

«Action!», sprach Lasse ins Funkmikrofon. «Have fun!»

Dreissig Sekunden später erkannte Selma im Kamerasucher den ersten Freerider, erfasste ihn, drückte den Serienauslöser und verfolgte ihn bei seinem Sprung über ihre Köpfe. Schneekristalle stieben herum und glitzerten in den Sonnenstrahlen.

Lasse schaute kurz zu Selma. Die Reporterin zeigte erneut mit ihrem Daumen, dass sie bereit war.

«Action!»

Nach dem letzten Sprung zogen Selma und Lasse die Steigeisen aus, klickten sich in die Bindungen ihrer Skis ein und fuhren ein kurzes Stück über den Gletscher zu den Freeridern, die auf sie warteten. Es gab eine Lagebesprechung, Selma gab Anweisungen, betonte vor allem, dass die Freerider nicht in die Kamera schauen und keine Grimassen schneiden sollten. Dann brachten sich Selma und Lasse am zweiten Shootingpunkt, der unterhalb des Gletschers lag, in Position. Hier stellte Selma ihre Kamera auf Video. Der dritte Punkt, den Lasse für Aufnahmen vorgesehen hatte, war nicht erreichbar. Eine Eisbrücke über eine Spalte, die Selma und Lasse passieren sollten, war eingebrochen.

Die ganze Gruppe musste kurz darauf die Skis abziehen und zu Fuss gehen, weil es im unteren Bereich zu wenig oder überhaupt keinen Schnee mehr hatte. Selma machte trotzdem weitere Bilder, um auch diese Seite des Freeridesports in ihrer Reportage zu zeigen. Es wurde geredet, gelacht, und Selma fühlte sich bald als Teil dieser Gruppe. Schliesslich hatte auch sie den Titlisgletscher bezwungen.

 

Als sie nach dem ziemlich anstrengenden Fussmarsch den Trübsee erreichten, stärkten sich alle im Restaurant mit Suppe, Rösti oder Pommes frites. Selma schaute ihre Bilder durch – und war nicht zufrieden. Die Fotos waren okay. Aber nicht gut. Nicht gut genug für Selma. Es reichte ihr nicht, dass die Freerider gut zu sehen waren, dass die Pulverschneeflocken vor dem blauen Himmel glitzerten und alles scharf und richtig belichtet war. Selma fehlte die atemberaubende Pose, der magische Augenblick.

«Können wir das Ganze wiederholen?», fragte Selma. «Und ich bitte euch: Zeigt noch mehr Freude. Lacht!»

Lasse schaute zu Ole. Die beiden diskutierten kurz auf Schwedisch. Selma verstand nur die Wörter Sonne und Wärme und Risiko. Doch schliesslich wandte sich Lasse zu Selma und sagte: «Okay!»

Als alle wieder oben auf dem Titlis standen, war es Nachmittag. Die Sonne brannte nun kräftig und liess den Schnee matschig werden. Die Touristen trugen nur noch T-Shirts. Lasse hatte recht, dachte Selma: Es wurde tatsächlich ein wunderschöner Tag mit deutlichem Temperaturanstieg.

Selma machte bei der zweiten Fotosession am ersten Punkt fantastische Aufnahmen. Sie achtete vor allem darauf, dass sie Ole und Debby perfekt fotografieren konnte. Ole riss seine Arme nach oben und lachte. Debby spreizte ihre Beine wie eine Tänzerin. Selma war zufrieden. Sie hatte den magischen Augenblick, die unglaubliche Freude, die Passion, eingefangen.

Als sie mit Lasse am Treffpunkt eintraf, bedankte sie sich bei allen für die Action. Sie hätte nun wirklich die ersten tollen Bilder im Kasten. Sie verstaute ihre Fotoausrüstung im Rucksack. Die Freerider klatschten sich ab.

Nur Ole machte ein etwas grimmiges Gesicht. «Leute, alle zuhören!», sagte er im Befehlston. «Wir müssen so schnell wie möglich runter von diesem Gletscher. Fotos können wir keine mehr machen, Selma, sorry. Es ist zu warm, und wir sind ziemlich weit unten. Wir sind fucking spät dran. Kapiert? Und wegen des Neuschnees sehen wir nicht alle Spalten. Wir nehmen die sichere Variante. Haltet Abstand! Selma, du folgst mir und hältst dich genau in meiner Spur. Dann alle anderen. Debby, machst du das Schlusslicht?»

Debby nickte. Selma schaute besorgt zu Lasse. Er grinste. Aber sein Grinsen war nicht echt.

«Was ist los?», fragte Selma leise.

«Mach einfach, was Ole gesagt hat, dann passiert nichts, er kennt diesen Berg am besten von uns allen.»

«Forderte dieser Berg nicht auch schon seine Opfer?», fragte Selma und wurde sich bewusst, wie unvorbereitet sie in dieses Abenteuer gestartet war.

«Selma, cool down», sagte Lasse und klopfte sanft auf ihren Helm. «Vergiss nicht: Alles easy!»

Selma beobachtete Ole, wie er über den Gletscher fuhr.

Nach einigen Sekunden schrie Lasse: «Go, Selma, go!»

Sie fuhr los. Die Schwünge gelangen ihr prächtig. Sie tanzte. Alles war easy.

Zu easy.

Plötzlich hängte sie mit ihrem Ski an einer Eisscholle unter dem Neuschnee ein, verlor kurz das Gleichgewicht, musste Oles Spur verlassen, erkannte eine Gletscherspalte auf der linken Seite, drehte rechts ab, sah jedoch, dass auch hier eine Spalte war. Doch zum Glück gab es eine Schnee- und Eisbrücke, sie fuhr darüber – und brach ein.

Sie stürzte. Sie schrie.

Ein heftiger Schlag. Sie hing irgendwie fest. Schnee flog ihr ins Gesicht. Einen Moment lang war alles dunkel. Dann wurde es langsam wieder hell. Selma wurde sich bewusst, dass sie in eine Gletscherspalte gefallen und eingeklemmt war. Sie spürte, wie das Blut in ihren Kopf strömte. Der Grund wurde ihr schnell klar: Ihre Skis waren nicht mehr unten, sondern oben. Sie hing mit ihrem Kopf nach unten in der Spalte. Um sich herum sah sie nur Eis. Selma schaute zu ihren Füssen und konnte tatsächlich zwischen den Schuhen und Skis hindurch den Rand der Spalte und darüber ein Stück blauen Himmel sehen. Sie schätzte, dass sie etwa drei Meter unter der Oberfläche festhing.

«Selma!», hörte sie Lasse rufen. «Alles okay?»

«Ich bin hier!», rief die Reporterin.

«Okay, ganz ruhig. Wir holen dich raus. Kein Problem.»

Ich bin doch ganz ruhig, dachte Selma. Da komme ich schnell wieder hinaus. Doch dann drehte sie den Kopf Richtung Abgrund. Sie sah ein tiefes blau-schwarzes Loch. Sie geriet in Panik: «Hilfe!» schrie sie aus Leibeskräften.

«Bist du verletzt?», rief Lasse in die Spalte.

«Hilfe!», schrie Selma erneut. «Hilfe!» Sie bewegte dabei ihr rechtes Bein ein bisschen. Selma rutschte einige Zentimeter in die Tiefe. Doch die Skis verkanteten sich erneut. «Hilfe!», schrie sie.

Plötzlich noch ein Ruck. Und die Bindung des rechten Skis löste sich.

Selma fiel ins blau-schwarze Loch.

6

Charlotte Legrand-Hedlund führte an diesem Nachmittag ein äusserst amüsantes und erfreuliches Telefonat. Obwohl das Gespräch nicht lange dauerte, hatte sie danach einen lästigen Pfeifton in ihrem linken Ohr. Der Gesprächspartner sprach sehr laut, eigentlich brüllte er.

Nun betrat Charlotte lächelnd Leas Coiffeursalon, an dessen Wänden immer noch Selmas Bilder hingen. Charlotte ging zu Leas Kasse und schnippelte mit der Schere einen Zettel zurecht, kritzelte «Verkauft» darauf und pinnte das kleine Schild mit einer Nadel unter Selmas grösstes Bild. Es war jenes Gemälde, das die Alp hoch über dem Lauenensee im bläulich-weissen Licht des Mondes zeigte. Das Preisschild mit dem Betrag 8500 Franken liess sie stecken.

«Du hast ein Bild verkauft, Charlotte», stellte Lea erfreut fest.

«Natürlich. Und ich werde noch weitere verkaufen.»

«Schön. Selma wird sich freuen.»

«Ich weiss nicht», sinnierte Charlotte.

«Warum nicht? Wer ist der Käufer?»

«Er will unbekannt bleiben. So wie es sich für einen echten Kunstkenner gehört.» Sie lächelte und verdrehte die Augen.

«Was willst du mir sagen, Charlotte?»

«Ach nichts. Aber weisst du, Selma tut sich schwer mit dem Verkauf ihrer Bilder. Sie hatte schon Mühe mit der Vernissage. Aber bon, hast du Zeit für mich?»

«Natürlich. Für dich immer.»

Lea rief ihre Lehrtochter, die Charlottes Haare wusch. Unterdessen kümmerte sie sich um das Finish einer anderen Kundin. Nach dem Waschen konnte Charlotte den Platz wechseln und setzte sich in Leas Frisierstuhl mit Blick auf den Rhein. Lea kämmte Charlottes Haare und fragte, ob sie die gleiche Bobfrisur wie immer haben möchte. Sie wusste natürlich die Antwort und ergriff die Schere. Charlotte war zwar eine anspruchsvolle Kundin – es ging beim Schnitt um Millimeter –, aber sie war längst nicht so kompliziert wie Selma.

«Ihr hattet nach der Vernissage noch einen vergnüglichen Abend», begann Lea das Gespräch. «Und er dauerte ziemlich lange.»

«Oh ja, es war reizend.» Der weitere Verlauf war wie immer mit Charlotte: Es war ein gepflegter Smalltalk. Bis Charlotte überraschend fragte: «Bei dir und deinem Partner Georg ist alles in Ordnung?»

Lea zuckte und schnitt sich beinahe in den Finger. «Ja, alles bestens. Warum fragst du?»

«Georg schien mir etwas durcheinander zu sein.»

«Durcheinander?»

«Ist vielleicht das falsche Wort.»

Lea hielt mit dem Frisieren inne, stellte sich vor Charlotte ans Fenster und fragte: «Wie lautet denn das richtige Wort?»

«Wie soll ich sagen, er suchte … Nähe.»

Lea liess ihre Schere nervös auf und zu schnappen und sagte: «Du meinst, Georg hat Selma angebaggert?»

«Mais non, so etwas würde ich niemals behaupten.»

Lea ging wieder an die Arbeit. Die beiden Frauen sprachen nicht weiter darüber. Allerdings spürte Charlotte an Leas energischem und etwas rabiatem Arbeitsstil, dass sie erbost war. Vor allem beim Kämmen rupfte es einige Male empfindlich an Charlottes Kopfhaut.

Als Charlotte zahlte, sagte sie: «Es war wundervoll bei dir, wie immer. Und wenn ich etwas Unpassendes gesagt habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.»

«Das musst du nicht, Charlotte», erwiderte Lea. «Das Unpassende, wie du es nennst, trifft eher auf Georg zu.»

Kaum hatte Charlotte den Salon verlassen, zückte Lea ihr Handy und schrieb eine WhatsApp an ihren Freund Georg: «Es reicht! Dass du auch noch meine beste Freundin anmachst, ist total daneben.»

Obwohl die nächste Kundin auf dem Frisierstuhl sass, musste Lea kurz nach draussen und durchatmen. Es war kalt, grau und feucht. Sie fror. Tränen schossen in ihre Augen.

Wie hatte sie mit sich gerungen und Georgs Liebesbeteuerungen immer geglaubt. All seine Abwesenheiten, seine Chats auf dem Smartphone – irgendwie hatte Georg für alles eine Erklärung. Und so hatte Lea sich eingeredet, dass alles nur Hirngespinste waren und sich Georg wie immer verhielt, weder distanziert noch sonst irgendwie seltsam. Das Problem liege allein bei ihr. Zu viel Arbeit, zu viele Gedanken, Herbst … Nicht einmal mit Selma hatte sie über ihre Beziehungsprobleme geredet. Nein, sie wollte sie nicht wahrhaben und Georg vertrauen. Aber jetzt?

Sie musste möglichst bald mit Selma reden. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und wählte Selmas Nummer auf dem Handy. Es klingelte. Es kam nur die Mailbox. «Hallo, Selma», sagte Lea, «bitte melde dich, ich muss dringend mit dir reden.»

7

Selma hatte Glück gehabt. Sie war in der Gletscherspalte ein paar Meter tiefer erneut steckengeblieben. Zuerst war sie nach einem kurzen Fall mit der Schulter auf einen schmalen Eisabsatz geknallt und hatte dabei einen halben Purzelbaum geschlagen, sodass ihr Kopf nun wieder oben war. Daraufhin hatte sich ihr linker Ski in der Spalte verkantet. Dadurch war das Allerschlimmste verhindert worden.

Vorerst. Denn allmählich bog sich der Ski bedrohlich durch. Selma befand sich in einer äusserst unbequemen Schräglage. Ihr Oberkörper war zudem in der Spalte eingeklemmt, was ihr das Atmen erschwerte. Selma war etwas benommen, realisierte ihre Lage aber sofort. Die Schulter schmerzte, doch sonst war sie unverletzt und soweit okay. Allerdings war ihr klar, dass das Eis unter dem Druck und wegen ihrer Körperwärme schmelzen und sie weiter in die Tiefe fallen könnte. Zudem würde sich bei einem nächsten Ruck wohl auch die zweite Bindung öffnen. Oder der Ski könnte brechen. Da sie das Smartphone in ihrem Rucksack klingeln gehört hatte, war also eine Verbindung möglich, und Lasse hatte sicher die Bergretter alarmiert.

Sie hörte den Gletscherbach in der Tiefe. Dort unten war es nur schwarz. Vorsichtig schaute Selma nach oben. Sie sah Licht.

«Selma!» Das war Lasses Stimme. «Selma?»

«Ja?»

«Selma!»

Die Reporterin schrie: «Ja, ich stecke fest!» Ihr Brustkorb tat dabei weh.

«Das ist gut!», schrie Lasse zurück. «Ole und ich werden dich herausholen. Bist du verletzt?»

«Nein!»

«Kannst du dich bewegen?» Das war nun Oles Stimme.

«Ein bisschen.»

«Kommst du an den Rucksack?»

«Nein.»

«Selma, du musst an den Rucksack kommen!»

«Wenn ich mich bewege, dann …»

«Selma, du musst auf der linken Seite des Rucksacks …»

«Es geht nicht!», schrie Selma genervt. Sie bekam immer mehr Mühe mit Atmen.

Nun hörte sie eine Zeit lang nur den Gletscherbach. Selma vermutete, dass Ole und Lasse einen Plan ausheckten, wie sie sie aus diesem kalten Gefängnis befreien konnten.

«Hallo!», rief Selma nach einer Weile.

«Du musst an den Rucksack!»

Selma bewegte sich ganz leicht. Sie rutschte nicht. Mit der rechten Hand konnte sie nach dem Rucksack greifen. «Okay. Ich komme ran. Aber ich kann ihn nicht ausziehen.»

«Gut, Selma, gut! Erreichst du das linke Aussenfach?»

Selma griff wieder über die Schulter nach hinten. Sie spürte das Aussenfach aber nicht. Sie hyperventilierte, zog ihre Handschuhe aus und hängte sie mit den kleinen Ösen an ihre Jacke. Sie hielt den Atem an, streckte den rechten Arm wieder zum Rucksack und drückte ihn gleichzeitig mit der linken Hand weiter nach hinten. Zum Glück wurde der Rucksack durch Selmas Position etwas nach oben gegen ihren Nacken gedrückt. Denn tatsächlich spürte sie jetzt den Reissverschluss der Aussentasche. Selma atmete durch, so gut es ging. «Okay. Ich bin dran.»

 

«Super! Öffne den Reissverschluss.»

Selma zerrte daran und schaffte es tatsächlich, den Verschluss einige Zentimeter aufzuziehen. «Okay», bestätigte sie.

«Gut. Jetzt greif hinein und nimm eine Eisschraube heraus!»

Selma drückte mit voller Kraft mit der linken Hand gegen den Ellbogen des rechten Arms und drückte ihn damit in die Tasche hinein. Nun konnte sie das Seil greifen, das ihr Lasse eingepackt hatte. Sie nahm es vorsichtig heraus. Bei allen Bewegungen achtete sie darauf, sich langsam und nicht ruckartig zu bewegen. Trotzdem kratzte und kroste es an den Eiswänden bedrohlich, der verkantete Ski rutschte einige Millimeter ab. Selma hielt erneut den Atem an. Sie rutschte nicht weiter. Sie nahm das Seil zwischen ihre Zähne und griff nun noch tiefer in die Aussentasche. Tatsächlich spürte sie etwas Metallisches. Das musste diese Schraube sein. Sie zog sie heraus.

«Hast du sie?», schrie Ole von oben in die Gletscherspalte.

Selma konnte nicht antworten, weil sie das Seil im Mund hatte. Aber sie konnte sich vorstellen, was nun zu tun war. Mit der scharf geschliffenen Spitze der Schraube kratzte sie am Eis und bohrte ein kleines Loch. Dann setzte sie die Schraube an und begann vorsichtig zu drehen. Die Schraube fräste sich tatsächlich schnell ins Eis. Nun fasste Selma den hinteren Teil der Schraube, an dem ein Karabiner befestigt war, der sich wie eine Kurbel benutzen liess. Sie drehte, und im Nu verschwand die Schraube im Gletschereis.

Das würde nun ihr Anker sein.

Selma nahm das Seil aus dem Mund, versuchte es sich um den Bauch zu schlagen, was ihr aber nicht gelang. Also fädelte sie das Seil durch die Schulterschlaufe ihres Rucksacks und den Karabiner der Eisschraube. Sie zog alles fest und atmete durch. Ein leichter Schmerz durchzuckte sie. Aber sie war gesichert.

«Selma?», schrie Ole. «Bist du da?»

«Ja. Ich bin da. Und gesichert!»

«Du hast dich mit der Eisschraube gesichert?»

«Ja!»

«Fantastisch! Super!»

Selma hörte, wie die Leute auf dem Gletscher klatschten. Dann hörte sie Stimmen, verstand aber kein Wort. Irgendetwas ging da oben vor. Doch im Moment kümmerte das Selma wenig. Sie versuchte, ruhig zu atmen und sich etwas zu erholen. Sie war gesichert, das war erstmal die Hauptsache. Wie sie je wieder aus dieser Spalte hinauskommen sollte, war ihr zwar ein Rätsel, doch Ole und Lasse würden sich schon etwas einfallen lassen. Ansonsten würden ja bald die Bergretter da sein.

Dann kroste es wieder. Der Ski rutschte. Selma wurde in eine äusserst schmerzhafte Position bugsiert. Ihr Bein mit dem Ski war völlig verdreht. Sie versuchte, ihre Lage zu ändern, doch dabei geriet auch ihr Oberkörper ins Rutschen. Plötzlich klappte die Skibindung auf. Der Ski verschwand in der Tiefe und Selma rutschte: «Hilfe!»

Das Seil fing sie auf. Tatsächlich hing sie nun einzig und allein an dieser Eisschraube.

«Selma?»

«Ich bin abgerutscht. Ich hänge jetzt an diesem Haken und am Rucksack.»

«Am Rucksack?»

«Ja, am Rucksack!»

«Scheisse!»

«Ja, Scheisse, es ging nicht anders.» Die Reporterin konnte nun zwar wieder frei atmen. Aber sie wusste genau, dass es einzig und allein auf die Nähte der Rucksackschlaufe ankam, ob sie überleben würde oder nicht. Wie schwer war sie eigentlich? Wann stand sie das letzte Mal auf einer Waage? Zwischen 55 und 60 Kilo? Sie wusste es nicht genau. Aber sie blieb ruhig. Sie horchte und erwartete, jeden Moment zu hören, wie die Naht langsam riss.

Doch abgesehen vom Gletscherbach hörte sie nichts.

Sie wartete. Und sie begann zu frieren. Sie zog die Handschuhe wieder an. Trotzdem fing sie an zu zittern. Sie würde erfrieren. Es wäre nicht der schlechteste Tod. Frieren, dösen, einschlafen, Ende.

«Selma, wir lassen ein Seil hinunter.»

Endlich begann ihre Rettung. «Okay», schrie sie aus Leibeskräften. Der Gedanke an den Tod war weg.

«Damit sicherst du dich. Verstanden?»

Selma antwortete nicht, während sich das gelbe Seil langsam näherte. Mehrere Karabinerhaken hingen daran und beschwerten das Seil. Sie griff zu und schrie: «Ich habe es!»

Als sie frei in der Spalte hing und nicht mehr eingeklemmt war, konnte sie sich besser bewegen. Sie schlang sich das Seil mehrfach um den Bauch, entdeckte zudem an ihrer Jacke und an ihrem Hosengurt mehrere Schlaufen, führte das Seil hindurch und verknotete das Ganze.

«Bist du so weit?»

«Ja!»

«Hast du dich von der Schraube gelöst?»

«Nein, ich komme nicht heran. Ihr müsst mich zwei Meter hinaufziehen!»

Das gelbe Seil spannte sich. Dann spürte Selma einen Ruck. Tatsächlich wurde sie nun Zentimeter um Zentimeter hinaufgezogen. Bald konnte sie sich von der Eisschraube lösen. Sie glitt mit Händen und Füssen den Eiswänden entlang durch die schmale Spalte.

«Du schaffst es!», schrien Ole und Lasse.

Nun hörte Selma das ratternde Geräusch eines Helikopters. Doch es verstummte bald. Selma blickte nach oben und konnte das Gesicht von Debby erkennen.

«Streck die Hand aus, Selma!», rief Debby, drehte den Kopf ab und schrie: «Los, Männer, noch drei Meter!»

Selma spürte zwei, drei kräftige Rucke, dann konnte sie den Arm ausstrecken und spürte Debbys Hand. Diese ergriff Selma und zog sie energisch aus der Spalte.

Selma lag plötzlich im Schnee. Sie keuchte. Sie weinte.

Sie war gerettet.

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