Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit

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Das besondere an wissenschaftlichen Theorien ist jedoch, dass sie für sich in Anspruch nehmen, in einem höheren Maß als nichtwissenschaftliche Theorien an bestimmten Gütekriterien orientiert zu sein. Zu diesen Gütekriterien gehören etwa Eigenschaften wie hohe argumentative Konsistenz und Transparenz, Erklärungskraft und logische Widerspruchsfreiheit bzw. -reflexivität. Erst, wenn Theorien sich diesen Kriterien unterwerfen, haben sie überhaupt eine Chance, sich als wissenschaftliche Theorien legitimieren zu können. Alltagstheorien dagegen sind vereinfacht gesprochen solche Theorien, die relativ unabhängig von einem Rückbezug auf diese Kriterien entworfen und auch wieder verworfen werden können – und genau genommen auch noch einmal vielfältig danach unterscheidbar sind, welche Prinzipien den Alltag derjenigen Person, welche die jeweilige Alltagstheorie entwirft, bestimmen (Weingart 2003). Denn im Horizont dieser Prinzipien – wie bspw. des Prinzips: einfache Handhabbarkeit – müssen nichtwissenschaftliche Theorien gut funktionieren. Sie rücken damit zugleich oftmals in die Nähe von Bewältigungstechniken.

Allgemein und in Abgrenzung zu wissenschaftlichen Theorien gesprochen lässt sich sagen, dass Alltagstheorien lebenspraktisch notwendig sind, aber sich dort auch ständig in ihrer Nützlichkeit bewähren müssen. Alltagstheorien helfen Menschen also dabei, sich einen Reim auf die eigenen Erlebnisse in der Welt zu machen, und dann auch noch in dieser Welt zu handeln.

Warum, so könnte man nun fragen, sollte man sich angesichts dieser hohen Funktionalität von Alltagstheorien dann überhaupt mit wissenschaftlichen Theorien der Sozialen Arbeit auseinandersetzen? Reicht es zum praktischen Handeln nicht eben doch aus, sich auf diejenigen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen, welche man mithilfe der eigenen Alltagstheorien entwickelt hat, und diese Praxiserfahrungen dann vielleicht noch zusätzlich – da wo es geht – möglichst reflektiert mit Kolleginnen und Kollegen „aus der Praxis“ zu teilen?

Unsere Antwort auf diese Frage lautet, dass sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit durchaus nicht ihr gesamtes, an das Studium anschließendes Berufsleben über intensiv mit wissenschaftlich hergestellten Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen müssen. Sie werden dies wahrscheinlich, zumal sie nicht selbst WissenschaftlerIn werden, auch aus Zeit- und Kraftmangel gar nicht leisten können. Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien im Studium wird sich jedoch auch für diejenigen StudienabsolventInnen als außerordentlich nützlich erweisen, die im Anschluss an ihr Studium nicht den Weg in die Wissenschaft, sondern in andere Berufsfelder wählen. Und zwar, weil sie hierdurch erste Schritte in Richtung eines „reflektierten Umgangs mit der Praxis“ gehen können.

Genau hierin – in einem vergleichsweise höheren Maß an Reflexivität und argumentativer Sorgfalt – unterscheiden sich wissenschaftliche Theorien in der Regel von sog. Alltagstheorien. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Umständen ihrer jeweiligen Entstehung. Wie der Begriff andeutet, entstehen Alltagstheorien geradezu „nebenbei“ im Alltag, d.h. sie werden von situativ handelnden Menschen im Kontext dauernden Handlungsdrucks immer wieder entworfen, zur Entscheidungsgrundlage gemacht und z.T. auch schnell wieder verworfen. Dies ist situativ äußerst sinnvoll, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Es zeigt sich jedoch auch, dass sich die meisten Alltagstheorien gerade aufgrund des Drucks, unter dem sie in der Regel entstehen, als wenig konkurrenzfähig mit wissenschaftlich orientierten Theorien erweisen, die geduldiger und umsichtiger entwickelt werden.

Wie wir noch zeigen werden (Kap. 5), ist zwar auch wissenschaftliche Theoriebildung Handlungsdruck ausgesetzt. Im Gegensatz zu Alltagstheorien bezieht sich dieser Handlungsdruck aber in der Regel nicht auf diejenigen Situationen, die durch die Theorie wissenschaftlich analysiert werden sollen. Das dient der sorgfältigeren Analyse ebendieser Situationen, wie u.a. Hans Thiersch in seinen Überlegungen zu einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für die Theoriebildung zur Sozialen Arbeit ausgeführt hat (Kap. 3.2).

Eine wesentliche Aufgabe des Studiums der Sozialen Arbeit als einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung ist es also, über die Formulierung von Praxiserfahrungen mithilfe von Alltagstheorien hinauszugehen und damit den Blick dafür zu schulen, wie gerade Erzählungen über „Praxiserfahrungen“ in der Sozialen Arbeit theoretisch zustande kommen.

Die auf den ersten Blick vielleicht bequemer erscheinende Alternative zur Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien liegt darin, von anderen berichtete „Praxiserfahrungen“ entweder unhinterfragt für „objektiv“ zu halten und bedingungslos zu akzeptieren, oder – wo sie nicht zu den eigenen Alltagstheorien passen – ohne nähere Begründung abzulehnen und sich auf die eigenen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen.

Langfristig würde eine solche Strategie jedoch einem Trugschluss gleichkommen. Denn mit diesem Vorgehen wäre es nicht möglich zu benennen, was zur Praxis dazu gehört, warum dies so ist und was darüber hinaus – spätestens hier zeigt sich die Wichtigkeit des Ganzen für die Soziale Arbeit als Beruf – eigentlich mit welcher Begründung „gute Praxis“ sein könnte. Fachkräfte, die hier nur spontan äußern können, dass sie das „irgendwie richtig“ finden und auch andere kennen, die das aus ihnen nicht weiter bekannten Gründen auch denken, werden – auch „in der Praxis“ – keine sonderlich gute Figur machen.


Auch bereits im Studium wäre eine solche Strategie nicht hilfreich. Mit ihr wäre es deutlich schwerer für Sie, zu erschließen:

● worin eigentlich der Sinn eines Hochschulstudiums gegenüber einer Berufsausbildung liegen sollte, wenn Sie doch eigentlich „nur“ praktisch arbeiten wollen,

● was von Ihnen in einer Hausarbeit erwartet wird,

● was eigentlich damit gemeint ist, wenn von Ihnen in einer mündlichen oder schriftlichen Prüfung im Studium „Eigenständigkeit“ in der Argumentation, aber trotzdem keine „reine Meinung“ erwartet wird und nicht zuletzt

● was eigentlich als relevantes Wissen für einen Abschluss in einem Studiengang der Sozialen Arbeit gelten könnte.

Die angedeuteten Unzulänglichkeiten von Alltagstheorien werden gerade dort relevant, wo es darum geht, mit einer gewissen Expertise über Praxis sprechen zu können und begründet in dieser zu handeln – also bei einer der zentralen Herausforderungen, vor denen angehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen. In ihrer Nützlichkeit hierfür stechen wissenschaftliche Theorien Alltagstheorien in aller Regel aus. Zur Verdeutlichung der Begrenztheit von Alltagstheorien in der Erschließung von Praxis Sozialer Arbeit wählen wir abschließend noch eine Alltagstheorie, die Laien auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag.


Die Alltagstheorie „Praxis Sozialer Arbeit ist überall dort, wo Sozialarbeiterinnen versuchen, Menschen zu helfen“, erscheint auf den ersten Blick sehr plausibel. Was aber, wenn Sie ein Team von drei Fachkräften in einem offenen Jugendclub haben, von denen nur eine Fachkraft ausgebildete Sozialarbeiterin ist, die anderen beiden sind Erzieherinnen? Betreiben die Erzieherinnen dann keine Praxis Sozialer Arbeit, sondern „Erziehung“? Oder machen diese dann notwendigerweise etwas anderes, ja gar weniger Anspruchsvolles? Was passiert, wenn ein Jugendlicher das heutige Gespräch mit einer der Fachkräfte gar nicht als hilfreich empfunden hat? Entsprach das Gespräch dann trotzdem Ihrem Verständnis von „Praxis Sozialer Arbeit“? Und was passiert, wenn die Sozialarbeiterin des Jugendclubs nach Dienstende nach Hause geht, um später am Abend zuhause mit ihrer Tochter ein einfühlsames Gespräch über deren derzeitige Ängste in der Schule zu führen? Betreibt sie dann dort immer noch praktische Soziale Arbeit, oder versucht sie einfach nur, ihrer Tochter als Mutter beizustehen? Oder würden Sie sagen: „Das kommt darauf an?“ Aber worauf? Und was macht eigentlich die eine der beiden Erzieherinnen, falls sie ein ähnliches Abenderlebnis mit ihrer Tochter haben sollte und sich dabei bewusst einer Gesprächsführung bedient, die sie auch tagsüber im Jugendclub oft anwendet? Ist das dann doch wieder Praxis Sozialer Arbeit, obwohl sie sich weder im Jugendclub aufhält noch überhaupt formal als Sozialarbeiterin ausgebildet oder angestellt ist?

Diese Fragen „aus der Praxis“ verdeutlichen, welche engen Grenzen sog. Alltagstheorien haben. Zugleich wird am gegebenen Beispiel aber auch nochmals deutlicher, inwiefern es nicht sinnvoll ist, von einer scharfen Trennung zwischen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit auszugehen. Die verbreitete Annahme, Theorie und Praxis seien zwei Dinge, die an sich nichts miteinander zu tun hätten, ist zwar eine wesentliche Quelle für den Argwohn vieler Studierender gegenüber der Beschäftigung mit Theorie in ihrem Studium. Wir hoffen jedoch, mit unseren Ausführungen deutlich gemacht zu haben, dass diese Annahme bei genauerer Betrachtung nicht haltbar ist. Im Studium der Sozialen Arbeit scheint es zwar auf den ersten Blick die Möglichkeit zu geben, sich „nur mit Praxis“ zu beschäftigen. Wählt man diese Option, so sollte man allerdings nicht davon ausgehen, dass diese Beschäftigung sich jenseits von Theorie vollzieht, da man von Praxis nicht anders als theoretisch sprechen kann (und dieses Sprechen stellt im Übrigen zugleich auch schon wieder eine bestimmte Form von Praxis dar, die sich wiederum theoretisch entschlüsseln lässt usw.).

 

Je früher man diesen Gedanken im Laufe der eigenen Beschäftigung mit Sozialer Arbeit akzeptiert, desto leichter fällt es, sich darauf einzulassen, was von Studierenden der Sozialen Arbeit oft als Zumutung empfunden wird – obgleich es unseres Erachtens den zentralen Gewinn einer akademischen Ausbildung ausmacht: Sich auf die theoretische Auseinandersetzung mit dem einzulassen, was einen meist zunächst als Praxis interessiert.


1. Warum kommen Sie sowohl im Zuge wissenschaftlichen als auch nichtwissenschaftlichen Sprechens über eine Beobachtung niemals ohne Theorie(n) aus? U. Was versteht Peirce unter einer „Abduktion“?

2. Was versteht Peirce unter einer „Abduktion“?

3. Was brauchen Sie konkret an theoretischen Vorstellungen, um überhaupt von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ sprechen zu können?

4. Welche Vor- und Nachteile sog. „Alltagstheorien“ lassen sich gegenüber wissenschaftlichen Theorien ausmachen?


Joas, H., Knöbl, W. (2004): Was ist Theorie? In: Joas, H., Knöbl, W.(Hrsg.): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt/M., 13-38

1.2 Zum Unterschied zwischen Rezepten und Theorien der Sozialen Arbeit


Theorien der Sozialen Arbeit haben das Ziel, Wissen zu Sozialer Arbeit zu generieren. Was dabei als „wertvolles“ Wissen gilt, ist durchaus umstritten. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich dieses Wissen nicht einfach wie ein Rezept „in der Praxis anwenden“ lässt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass es insgesamt fraglich ist, ob rezeptartige Theorien überhaupt existieren. Diese grundsätzliche Diskussion werden wir im folgenden Kapitel aber nur streifen. Stattdessen werden wir uns auf einen zweiten Zusammenhang konzentrieren: Dass Theorien der Sozialen Arbeit keine einfach anwendbaren Rezepte sind, hängt ganz maßgeblich damit zusammen, dass sie auf einer zu abstrakten Ebene ansetzen, um eine solche Art von technologischen Ableitungen auch nur potenziell zu ermöglichen. Das wiederum entspricht ihrem Programm, wie wir im Folgenden zeigen werden.

Ebenso wie bei manchen Studierenden der Sozialen Arbeit pauschale Abwehrreflexe gegen Theorie zu finden sind, stößt man zuweilen auch auf eine buchstäblich umgekehrte Haltung, nämlich diejenige, dass mit Theorie gerade die große Hoffnung verbunden wird, sie könne die (spätere) Berufspraxis direkt anleiten. Die Vorstellung lautet dann in etwa: „Wenn ich die Theorie lerne, weiß ich, was ich in der Praxis zu tun habe!“

Die „Sprachspiele des theoretischen Wissens“ werden im Falle solcher Vorstellungen immer nur dort für relevant gehalten, wo sich „in ihnen der Gang der Handlung spiegelt“ (Dewe 2008, 168). Mit anderen Worten: Nur dort, wo in einer Theorie Auskünfte darüber getroffen werden, was in einer konkreten Handlungssituation zu tun ist, wird sie für voll genommen.

Die Idee, dass Theorien das praktische Handeln sozusagen rezeptartig anleiten können, ist zugegebenermaßen faszinierend. Denn wäre dies so, und wäre es auch im Falle von Theorien der Sozialen Arbeit so, dann würde eine ausführliche Beschäftigung mit Theorien im Studium reichen, um zu wissen, was man später in der Praxis zu tun hat. Eine Theorie der Sozialen Arbeit wäre dann als eine Art Technologie der Sozialen Arbeit zu verstehen. Damit wäre garantiert, dass bestimmte Ziele mit bestimmten Handlungen erreicht werden können, wenn man sich nur 1:1 an diejenigen Handlungen hält, welche die Theorie beschreibt.


Ein Beispiel für eine rezeptartige Technologie der Sozialen Arbeit wäre bspw. eine Theorie, die eine Antwort auf die Frage zu bieten hätte: Wie bringe ich den vor mir in der Schulstation sitzenden Schulverweigerer dazu, ab der kommenden Woche wieder dauerhaft am Unterricht teilzunehmen?

Aus gutem Grund sind solche Theorien im vorliegenden Buch nicht zu finden. Zwar wird innerhalb der wissenschaftlichen Debatte zur Sozialen Arbeit viel über Praxis gesprochen und geschrieben. Dabei wird auch über das sog. „Theorie-Praxis-Verhältnis“ gestritten (May 2010, 17 ff.; Winkler 2017). Strittig ist in der wissenschaftlichen Debatte zur Sozialen Arbeit z.B., ob Theorien in der Pflicht sind, ethische und/oder (fach)politische Leitlinien für das Handeln in der Sozialen Arbeit bereitzustellen, oder ob sie dies zugunsten einer analytischen Wissensproduktion zu unterlassen bzw. hintanzustellen haben (Rauschenbach/Züchner 2012). Unstrittig ist jedoch, dass die Benennung ethischer und/oder fachpolitischer Leitlinien für das Handeln von PraktikerInnen nicht das Gleiche ist wie eine Erarbeitung von rezeptartigen Technologien (Kessl/Otto 2012).

In der Sozialen Arbeit hat es wie auch in ihren Nachbardisziplinen, immer wieder Versuche gegeben, solche „Technologien“ zu entwickeln oder Theorien mit einem technologischen Anspruch zu versehen.


So findet man Beispiele für Theorien mit technologischem Anspruch etwa im Kontext von Schule und Lehrerbildung. Hier gibt es eine Vielzahl von allgemein- und fachdidaktischen Ansätzen der Schulpädagogik, in denen es ausdrücklich darum geht, Technologien des Lehrens und Lernens zu konzipieren, die ganz auf die Rationalisierung der Wissensvermittlung im Unterricht ausgerichtet sind. Und auch in der Sozialen Arbeit wird man fündig, wenn es um technologische Modelle geht. Ein geläufiges Beispiel hierfür ist etwa die Diskussion um Methoden der Sozialen Arbeit. Die Grenze zwischen strukturierten, d. h. zunächst einmal auf eine Strukturierung des Handelns von Professionellen ausgerichteten Vorgehensweisen, und technisierten Vorgehensweisen, die mit der Vorstellung verbunden sind, man könnte durch bestimmte Handlungsabläufe gewünschte Effekte bei AdressatInnen des professionellen Handelns erreichen, sind hier fließend (Galuske 2013). Ein weiteres Beispiel bieten Ansätze einer sog. „evidenzbasierten Sozialen Arbeit“ (Otto et al. 2009; Otto et al. 2010a). Sie operieren mit dem Versprechen, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse das praktische Handeln in der Sozialen Arbeit zumindest mittelbar wirkungsvoller zu machen, indem sie es mit Manualen und festgelegten Organisationsabläufen flankieren, die sich als angeblich „erfolgreich“ in Bezug auf vorher festgelegte Kriterien herausgestellt haben. Und zuletzt gibt es jenseits der Diskussion um Methoden sogar technologisch-empiristische Theorieprogramme der Sozialen Arbeit, die sich als praxisanleitende Theorien sozialarbeiterischen Handelns verstehen (Rössner 1975). Diese haben sich aber im engeren Diskurs um Theorien der Sozialen Arbeit bisher kaum durchgesetzt.

Die Vorstellung, wissenschaftliches Wissen – und demzufolge auch Theoriewissen – könnte Handlungsanleitungen für die Soziale Arbeit bieten, ist also durchaus verbreitet. Allerdings ist diese Vorstellung dort, wo es um „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743) geht, in der Regel nicht zu finden. Diese zielen stattdessen auf etwas Anderes, und zwar

„auf die Klärung des Status der Sozialen Arbeit, ihres Gegenstandsund Aufgabenbereichs und ihrer gesellschaftlichen Funktion, ihrer geschichtlichen Selbstvergewisserung und ihrer Positionierung im Kontext anderer Disziplinen und der Anforderungen der Praxis“ (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743).

Es wird deutlich: Der Abstraktionsgrad, mit dem Theorien der Sozialen Arbeit ansetzen, ist ziemlich hoch. Zu klären sind hier offenbar eher Fragen von recht allgemeinem Interesse, wo es um ein angemessenes Verständnis von Sozialer Arbeit geht. Somit wäre es zugleich ein Missverständnis davon auszugehen, man könnte in Theorien der Sozialen Arbeit Anweisungen finden, die sich in ganz konkreten, und damit hoch besonderen Situationen der Praxis wie Rezepte anwenden ließen. Auch wäre es ein Missverständnis, wenn man davon ausginge, dass Theorien der Sozialen Arbeit die konkrete, besondere Praxis in allen ihren Facetten und spezifisch lokalen Bedingungen überhaupt ganz exakt widerspiegeln, oder gar vorhersagen könnten. Stattdessen geht es in Theorien der Sozialen Arbeit eben genau darum, das Allgemeingültige (und nicht das Besondere) an „der Sozialen Arbeit“ begreifbar zu machen. Es geht ihnen – anders gesagt – darum, die Komplexität und Vielfältigkeit möglicher Beobachtungen zu Sozialer Arbeit weitestgehend zu reduzieren. Im Ergebnis zielen die Theorien damit auf weniger genaue, dafür aber breiter verallgemeinerbare Aussagen zur Sozialen Arbeit. Damit entfernen sie sich zugleich systematisch von möglichst exakten Technologien für Einzelfallprobleme, und interessieren sich stattdessen für „Soziale Arbeit als Ganzes“ (Borrmann 2016). In Anlehnung an den von C. Wright Mills (1959) geprägten Begriff der „Grand Theories“ haben wir Theorien der Sozialen Arbeit daher an anderer Stelle auch schon als „Großtheorien“ bezeichnet (Sandermann/Neumann i.E.; kritisch auch schon Winkler 2005, 19).

Es liegt somit keineswegs an schlichtem Unvermögen, wenn Theorien der Sozialen Arbeit keine Technologien liefern. Zum einen lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass Theorien insgesamt und jenseits der in diesem Buch besprochenen Theorien wenig taugen für die Ableitungen von Technologien und Rezepten (Knorr-Cetina 2007). Viel entscheidender ist für die vorliegende Einführung jedoch, im Auge zu behalten, dass Theorien der Sozialen Arbeit solche Technologien eben gar nicht bieten wollen. Das heißt auch, dass jede Theorie, die im Rahmen des vorliegenden Buches dargestellt wird, am Ende vor allem möglichst verallgemeinerbare Aussagen zur Sozialen Arbeit bietet, und sich aus diesem Grund als Material für eine Suche nach möglichst exakten Rezepten für konkrete Einzelsituationen denkbar schlecht eignet.


Wir wollen das noch einmal auf unser anfängliches Beispiel aus der Schulstation übertragen. Sucht man in einer Theorie der Sozialen Arbeit nach Rezepten oder eindeutigen Hinweisen dazu, wie die Schulsozialarbeiterin X mit dem Schulverweigerer Y in der Schulstation Z verfahren soll, findet man hier höchstwahrscheinlich: Nichts. Stattdessen ist es schon wahrscheinlicher, dass man hier auf Antworten zur Frage stößt, ob Schulstationen eigentlich als Teil der Sozialen Arbeit zu verstehen sind, und falls ja oder nein, inwiefern und warum das so gesehen werden kann. Was die konkrete Rolle von Schulsozialarbeiterinnen im Umgang mit schuldevianten jungen Menschen angeht, könnte es indessen schon wieder schwieriger werden. Denn es ist wahrscheinlich, dass die Theorie der Sozialen Arbeit, in die man hineinliest, nur an äußerst wenigen oder sogar gar keinen Stellen Beispiele aus dem Bereich der Schulsozialarbeit nutzt, weil Schulsozialarbeit im Lichte dieser Theorie eben nur ein Teilgebiet dessen ist, wozu allgemeine Aussagen getroffen werden: Soziale Arbeit.

Heißt das nun aber im Umkehrschluss nicht doch, dass Theorien der Sozialen Arbeit letztlich völlig wertlos sind für jemanden, der sich für praktisches Handeln in der Sozialen Arbeit interessiert? Handlungssituationen kommen doch immer als konkrete und damit per se als einzelfallbezogene, und nicht als allgemeine Probleme daher. Was bringen dann Theorien, die sich scheinbar nicht für konkrete Lösungen, sondern nur für Allgemeines interessieren?

 

Diese Fragen sind durchaus berechtigt, und interessanterweise werden sie auch von WissenschaftlerInnen immer wieder gestellt. Das Gegenmodell, das gegen solche „Großtheorien“ ins Spiel gebracht wird, sind sog. „Middle Range Theories“, welche in ihrem Begriff auf den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (1968) zurückgehen.


Unter Middle Range Theories, im Deutschen meistens benannt als Theorien mittlerer Reichweite, versteht man Theorien, die bewusst ein nur mittleres Maß an Abstraktion anstreben und somit relativ nah an einer Beschreibung von empirischen Beobachtungen bleiben. Die Vorteile dieser Theorien mittlerer Reichweite bilden zugleich ihre Nachteile. Durch ihr höheres Maß an Konkretheit taugen sie einerseits für eine detailliertere Abbildung der beobachteten Zustände sowie für weitergehende Ableitungen von Prognosen und Technologien für den erforschten Bereich. Andererseits macht sie das weniger übertragbar auf andere als die konkret von ihnen erklärten Zustände.

Wir werden uns mit diesem Gegenmodell der Middle Range Theories und der Frage, ob Großtheorien für die Produktion von Wissen zur Sozialen Arbeit nicht letztlich überflüssig sind, im letzten Kapitel dieses Buches noch ausführlicher beschäftigen (Kap. 6). Um so viel bereits vorwegzunehmen: Großtheorien der Sozialen Arbeit sind wichtig, und zwar sowohl für die wissenschaftliche Forschung als auch für das Handeln von Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit. Es kommt aber darauf an, bei der Lektüre und Diskussion von Großtheorien das Richtige von ihnen zu erwarten.

Hierfür ist eine Differenzierung nötig. Zutreffend ist: Theorien der Sozialen Arbeit dienen als solche nicht dazu, direkte Lösungen für konkrete Handlungsprobleme in der Praxis anzubieten. Eben deshalb sind sie keine Technologien oder gar Rezepte. Das heißt jedoch im Umkehrschluss nicht, dass sie für eine Aufklärung konkreter Handlungsprobleme und Lösungen der Praxis nicht taugen würden. Mit Theorien der Sozialen Arbeit kann man sich durchaus für diese konkreten Momente interessieren. Allerdings nicht, um dann konkrete Lösungen aus der Theorie einfach abzuleiten, sondern um aus der Beobachtung konkreter Momente Sozialer Arbeit allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu können. Wie wir noch zeigen werden, wenn wir im Folgenden einige der einschlägigsten Theorien der Sozialen Arbeit genauer unter die Lupe nehmen werden (Kap. 3), sehen diese Schlussfolgerungen durchaus unterschiedlich aus. Entscheidend für den Moment aber ist: In allen Theorien der Sozialen Arbeit werden Schlussfolgerungen zum Allgemeingültigen gezogen, und damit letztlich zum aus Sicht der Theorie Entscheidenden der Sozialen Arbeit. Damit Theorien der Sozialen Arbeit dies leisten können, muss dort, wo in ihnen überhaupt direkte Hinweise auf so etwas wie „richtiges Handeln in der Sozialen Arbeit“ auftauchen, notwendigerweise auf einer allgemeinen Ebene argumentiert werden.

Aus der Perspektive von PraktikerInnen, die an einem besonderen Problem und dessen Lösung interessiert sind, könnte der zentrale Wert von Theorien der Sozialen Arbeit somit darin liegen, mithilfe dieser Theorien danach fragen zu können, was das Entscheidende an einer praktischen Situation ist. Mit anderen Worten hilft ihnen die Kenntnis einer – bzw. am besten: mehrerer! – Theorie(n) der Sozialen Arbeit dabei herauszufinden, was an der vorliegenden Situation diese eigentlich als eine Situation der Sozialen Arbeit ausweist. Hieraus wiederum lassen sich durchaus ganz konkrete Ableitungen für das dann in der jeweiligen Situation benötigte Wissen treffen. So z.B. Wissen darüber, welche Handlungen, welches Rollenverständnis und welche Organisationsprozesse angemessen wären, wenn man erstens die Situation im Sinne der jeweiligen Theorie verstehen möchte und sich zweitens infolge dessen auch dazu entscheidet, im Sinne der jeweiligen Theorie zu handeln. Ob man das jedoch (beides) möchte, und wie sich im Falle dessen die allgemein in der Theorie formulierten Kriterien „wahrer Sozialer Arbeit“ auf die im Einzelfall wahrgenommene „Praxissituation“ übertragen lassen, kann keiner allgemeinen Theorie der Sozialen Arbeit anheimgestellt werden, sondern bleibt logischerweise eine Aufgabe der konkreten Praxis.


1. Inwieweit unterscheiden sich ethische und/oder fachpolitische Leitlinien für das Handeln von PraktikerInnen innerhalb von Theorien der Sozialen Arbeit von Rezepten für richtiges Handeln in der Sozialen Arbeit?

2. Woran sind Theorien, die im engeren Sinn als Theorien der Sozialen Arbeit bezeichnet werden, maßgeblich interessiert?

3. Inwiefern lassen sich Theorien der Sozialen Arbeit auch als Großtheorien bezeichnen?

4. Wo liegen Nutzen und Grenzen von Theorien der Sozialen Arbeit, wenn es darum geht, Antworten auf eine konkrete praktische Handlungsfrage zu finden?

1.3 Zusammenfassung: Zum Theorieverständnis des vorliegenden Bandes


Das folgende Teilkapitel dient dazu, unsere bisherigen Überlegungen zum Wert einer Beschäftigung mit Theorie innerhalb des Studiums der Sozialen Arbeit zusammenzufassen. Dabei werden wir verdeutlichen, welche Besonderheiten von Theorien der Sozialen Arbeit in einer ersten Annäherung erkennbar sind, und darauf aufbauend herausarbeiten, welchen theoretischen Blick das vorliegende Buch auf Theorien der Sozialen Arbeit richtet. Auch dies erachten wir als notwendig, um unsere Argumentation transparent, und damit zugleich verständlich zu machen, warum die folgenden Kapitel dieses Buches so aufgebaut sind, wie sie aufgebaut sind.

Wir haben im Kap. 1.1 dargestellt, dass Theorie und Praxis zwar als logische Gegensätze begriffen werden können, es aber gerade deshalb durchaus einen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis gibt. Denn Theorie braucht, um überhaupt als Theorie auftreten zu können, immer auch ein Gegenüber, auf das sie beziehbar ist. Während das in vielen anderen Wissenschaften Momente sind, welche als „Empirie“ bezeichnet werden, dienen im Bereich der Sozialen Arbeit oft Momente der „Praxis“ als ein solcher Gegenpol. Für Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne gilt das in besonderem Maße.

Das gilt logischerweise auch umgekehrt, also auch für die Rede von der Praxis. Denn – so haben wir ebenfalls in Kap 1.1 herausgearbeitet – ohne Theorie wäre es keiner/m PraktikerIn möglich, sich überhaupt selbst als SozialarbeiterIn oder SozialpädagogIn zu bezeichnen, oder auch nur einfach von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ berichten zu können. An jeder Stelle, an der man das tut, braucht man sowohl eine theoretische Vorstellung von „Praxis“, als auch noch eine – bewusste oder unbewusste – „Theorie der Sozialen Arbeit“, die ein generelles Bild davon liefert, was Soziale Arbeit ist. Denn erst so kann man die konkret gemachte Erfahrung überhaupt als „Soziale Arbeit“ fassen.

Dieser Theoretisierungsprozess ist (wir erinnern noch einmal an die Erkenntnisse des in Kap. 1.1 zitierten Philosophen Charles S. Peirce) notwendig für jedwede Art der Thematisierung einer bestimmten Beobachtung. Theoretisierungsprozesse geschehen also ständig und überall, und zwar gerade auch da, wo von „Praxis“ die Rede ist. Am ausführlichsten, geduldigsten und damit in der Regel auch am gründlichsten werden solche Theoretisierungsprozesse jedoch in wissenschaftlichen Theorien vollzogen.

Es lohnt sich daher aus unserer Sicht gerade auch für praktisch interessierte Studierende und engagierte PraktikerInnen, sich mit wissenschaftlichen Theorien auseinanderzusetzen. Für Theorien der Sozialen Arbeit gilt das in besonderem Maße, da mit ihnen explizit darauf gezielt wird, ein Bild von der Praxis der Sozialen Arbeit zu entwerfen.

Wie wir in Kap. 1.2 deutlich gemacht haben, sollte man daraus jedoch keine Hoffnung ableiten, mithilfe von Theorien der Sozialen Arbeit auf konkrete Handlungsrezepte für einzelne Situationen zu stoßen. Denn diejenigen Theorien, die in der Regel als Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne verhandelt werden und somit auch im Rahmen unseres Buches Berücksichtigung finden (Kap. 3), werden zwar durchaus auf konkrete Phänomene hin ausgerichtet, die als „Praxis Sozialer Arbeit“ beschrieben werden. Dies geschieht jedoch nicht, um mithilfe der Theorien dann selbst Lösungen für die beschriebenen Situationen anzubieten, sondern um aus der Beobachtung konkreter Momente Sozialer Arbeit allgemeine Schlussfolgerungen für „den Zusammenhang des Ganzen, seiner Beschreibung, Begründung und Aufklärung“ ziehen zu können (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743). Das gilt selbst für diejenigen Theorien, deren Interessensfokus auf ein im Großen und Ganzen „richtiges“ Handeln in der Sozialen Arbeit gelegt wird: Auch hier geschieht das in der Regel in Form von Aussagen zu „fachlichem“ oder „professionellem“ Handeln.Auch diese Art von Theorien der Sozialen Arbeit trifft damit nicht systematisch Aussagen zu konkret richtigem Handeln in allen möglichen Situationen, die einem „in der Praxis“ begegnen können. Eher finden sich hier etwa Umschreibungen von grundsätzlichen Haltungen, die dann an seltenen Stellen auch einmal beispielhaft illustriert werden.