Krähentanz

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Der junge Mann zog sich triefend auf den Kahn und Svain gab ihm mit seinem Sprung genug Schub, um abzulegen. Die beiden stakten sie mit zwei langen Stangen ein gutes Stück vom Ufer weg. Sobald die Strömung stärker und der Grund tiefer wurde, ließen sie davon ab und Svains Bande wickelte Ruder aus einer Kuhhautplane und begann, den Kahn mit kräftigen Zügen auf den Fluss hinauszuschippern.

Die Überfahrt würde eine Weile dauern. Kraeh streckte sich aus, so gut es ging. Jede Faser in ihm lechzte nach Ruhe und Erholung. Meine Güte, dachte er, bin ich alt geworden. Seine vor Müdigkeit tränenden Augen fielen zu; er ließ es geschehen. Sie öffneten sich erst wieder, als sie bereits auf der anderen Seite, in einen von Wasserpest bedeckten Seitenarm einliefen. Es war einer der wenigen im Einzugsgebiet Brisaks, welcher nicht der Flussbegradigung unter Brans Regentschaft zum Opfer gefallen war. Die ausladenden Wurzeln eines überhängenden Baumes diente ihnen als Anlegestelle. Der Kahn wurde vertäut und sie kletterten, an den klitschigen Wurzeln Halt suchend, an Land. Kraehs Magen fühlte sich flau an. Seine aus der Erschöpfung herrührende Konzentrationsschwäche hatte der unruhige Schlaf in dem Gasthaus nicht vertreiben können und sie war ihm nur allzu deutlich bewusst, als die sieben Burschen sich, sichtlich nervös, im Halbkreis um ihn und Arduhl herum gruppierten.

»Hier ist der Rest«, sagte Arduhl in seinem fremdländischen Akzent und warf Svain ein klimperndes Beutelchen zu.

Der Angesprochenen ließ es, ohne einen Blick darauf zu werfen, in einer Tasche verschwinden.

»Wir wollen das Doppelte. Und sein Schwert.«

Kraeh erinnerte sich, wie beim Erwachen sein Mantel von Lidunggrimms Scheide gerutscht war. Schon wieder Ärger wegen der kostbaren Klinge! Früher hatte sie einmal den Zweck gehabt, Ärger zu beseitigen …

Arduhl blieb stumm. Er schien ebenso wenig überrascht von der Wendung wie Kraeh selbst, nur hätte Kraeh, wäre er alleine gewesen, eher auf eine schnelle Flucht gebaut. Svain und seine Jungs hatten von Anfang an geplant, sie aus der Stadt zu bringen, um sie hier im mehr oder minder rechtlosen Raum in Ruhe auszunehmen. Waren eigentlich alle Menschen schlecht oder hatte er in der letzten Zeit einfach nur Pech? Der Südländer trat vor Kraeh, seine Hände waren unter den Falten seines Capes verschwunden. Auch die der anderen wanderten zu ihren Hüften.

Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse. Kraeh bemerkte die Bewegung am Rande seines Blickfeldes zu spät, um dem Knüppel ganz auszuweichen. Er traf ihn hart an der Schulter und schmetterte ihn mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes, durch dessen karge Krone das Mondlicht den Platz des Geschehens beleuchtete.

Als er sah, wie jener, der den Schlag gegen ihn geführt hatte, von der Wucht seines Hiebes leicht aus dem Gleichgewicht geraten, in Arduhls Schwert lief, das dort auf wundersame Weise wie aus dem Nichts aufgetaucht war, entschied er sich, dem Folgenden als Zuschauer beizuwohnen und seine Zurückhaltung nur aufzugeben, falls es nötig werden würde – wozu es nicht einmal im Ansatz kommen sollte.

Arduhls Bewegungen waren ein Liebesgeständnis an seine Klinge. Sie berührte die anderen Waffen nicht, sie waren es nicht wert, nur ihre Besitzer bekamen ihren Kuss zu spüren. In unglaublicher Schnelligkeit und Präzision tauchte sie in sie ein und wieder hinaus. Noch nie hatte Kraeh bei einem Schwertkampf so wenig Blut fließen sehen. Einer nach dem anderen, der den Kuss empfing, sackte in sich zusammen; den Boden noch nicht ganz erreicht, fiel schon der Nächste. Es war, wie einem Künstler des Todes zuzusehen.

Als er mit ihnen fertig war, wischte Arduhl den Stahl an Svains Weste sauber.

»Hast du ein Ziel, alter Mann, oder suchst du nur nach einem raschen Tod?« In seiner Stimme schwang ein Hauch von Verachtung mit.

»Ich bin auf dem Weg nach Erkenheim, zu einer alten Bekannten.«

Arduhls Miene zeigte auch jetzt kein Erstaunen, er schürzte nur die Lippen und bedeutete dem Alten – wie selbstverständlich davon ausgehend, dass sie gemeinsam reisen würden – vorauszugehen. Kraeh massierte sich die geprellte Schulter und kam mühsam auf die Beine. Er orientierte sich kurz am Nordstern und schlug dann eine ungefähre Richtung in den schlüpfrigen Untergrund des Auenwaldes ein.

Lidunggrimm schnurrte in ihrer Scheide, enttäuscht, den Tanz verpasst zu haben. Kraeh beruhigte sie in Gedanken matt: Unser Tag wird kommen.

* * *

Sie waren nicht lange gegangen, als Kraeh nicht mehr weiterkonnte. Wenig erfreut gestand Arduhl ihnen eine Rast bis zum Morgengrauen zu. Der Alte erstaunte ihn dadurch, einen Schlafplatz zu finden, der frei von Schlick und Schlingpflanzen war, über die man immerfort stolperte und deren Dornen Schlitze und Löcher in Arduhls Lederstiefel gerissen hatten, durch die nun die kühle Nässe seine Füße heimsuchte. Er war die rauen Höhen der Gebirge von Morak und die trockene Einsamkeit der Mura-Steppen gewohnt; diese klamme Sumpflandschaft aber, in der sie sich befanden, zehrte an seinen Nerven. Er wrang den Stoff aus, den er um seine Füße zu wickeln pflegte, und folgte dann mit kleinmütigem Widerwillen, den er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dem im Plauderton vorgebrachten Rat des Alten. Angewidert sah er seinen Händen dabei zu, wie sie die Stiefel dick mit dem Fett beschmierten, das er sonst gebrauchte, um seine Schwertscheide geschmeidig zu halten. Schließlich hängte er Stofflappen und nun matt glänzendes Schuhwerk an einem niedrigen Ast auf, dass der Wind damit spielen konnte.

Da der Alte auf die Frage, ob er in diesen Gebieten aufgewachsen sei, schon nicht mehr antwortete, bettete Arduhl seinen in die Kapuze gehüllten Kopf auf einen umgestürzten Baumstamm und schloss, obwohl er keine Müdigkeit verspürte, die Augen. Alles ist lediglich eine Sache des Willens, vergegenwärtigte er sich die Lehrworte seines Großneffen Idrahims, der damals das erste Viertel seiner Ausbildung übernommen hatte. Wir sind nicht mehr als die Summe jener Fähigkeiten, die wir uns in unserer Jugend zu eigen machen.

Ob der Greis, der mittlerweile geräuschvoll schnarchte, wohl ahnte, welche Kräfte sie zusammengeführt hatten? Es war gleich. Er würde sich von ihm aus diesem ungastlichen Landstrich führen lassen, der nicht besser geeignet hätte sein können, seine Spuren zu verwischen, und ihn dann seinem Schicksal überlassen.

Er konzentrierte sich darauf, sich auf nichts mehr zu konzentrieren, und schlief kurzerhand ein.

Die Sonne reizte seine Nase und ein heftiges Niesen ließ ihn schließlich hochfahren. Sie hatten verschlafen! Nicht sie, wie Arduhl kurz darauf aufging. Henfir oder wie auch immer der Alte heißen mochte, saß ein kleines Stück entfernt über einem knisternden Feuer, das kaum Rauch entwickelte. Auf einem aus hellen Zweigen errichteten Rost über der Feuerstelle, brodelte ein Sud in seinem Tonbecher, den der Alte ihm entwendet haben musste, als er noch geschlafen hatte.

Zerknirscht kam Arduhl auf die Beine, seine Nase war zu und in seinem Hals hatte sich über Nacht ein unangenehmes Kratzen eingenistet.

»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, fragte er schlecht gelaunt, während er neben das Feuer trat und von oben in seinen Becher schielte. Mit einer Geste, die ihm zu verstehen gab, dass das Getränk seinem Hals wohltun würde, bot Kraeh ihm den Becher an, nachdem er selbst einen Schluck daraus genommen hatte. Als Arduhl das dampfende Gebräu, immer noch auf eine Erwiderung wartend, an die Lippen setzte, hob Kraeh in provozierendem Tonfall zur Gegenfrage an: »Wieso habt Ihr, Arduhl ap Tulaf, die heilige Isabel an ihrem letzten Morgen nicht geweckt?«

Das hatte gesessen. Und Kraeh war besonders stolz darauf, den vollen Namen seines Gegenübers behalten zu haben, den er von einem der Zwillinge aufgeschnappt hatte, als er in dem Gasthaus der stille Zeuge ihrer Grausamkeiten geworden war.

Der Südländer nahm einen großen Schluck von dem bitteren Sud, ohne die Miene zu verziehen, kniete sich hin und gab dem Alten den Becher zurück. Ihre Gesichter waren einander nun so nah, dass sie sich beinahe berührten.

»Die Schnepfe konnte einfach den Mund nicht halten.« Seine Stimme war flach und ausdruckslos. Kraeh kannte diese Art zu sprechen von Sedain und er wusste ja auch so bereits, dass sein Gegenüber nicht zu jener Sorte Hund gehörte, die laut bellte, weil ihre Zähne stumpf waren.

»Am Ende«, fuhr Arduhl fort, »erging es ihr wie allen, die zu viel reden.« Es stand außer Frage, er wollte drohen, aber etwas in den dunklen Augen verriet Kraeh, dass ihm der Tod Isabels, obgleich sie ihm als Mittel zum Zweck gedient hatte, keinesfalls gleichgültig war. Auch deshalb, vor allem jedoch aus einer alten Charakterschwäche heraus, gegen die er längst aufgegeben hatte anzukämpfen, stichelte er weiter.

»Wie war das, all die Monde mit dieser Schönheit zu vögeln, nur um die eigene Haut zu retten?«

Kraeh provozierte, um die Wahrheit ans Licht zu locken, gleich wie hässlich oder unbarmherzig sie sein mochte. Ihre Blicke trafen sich erneut. Ein Windhauch strich durch die weißen und schwarzen Haare der beiden Männer. Kurz nur mahlten Arduhls Wangenknochen, dann fasste er sich wieder. Er war zu beherrscht, etwas Unüberlegtes zu sagen. Außerdem wusste der Alte schon zu viel; hätte er im Zorn noch mehr preisgegeben, wäre dessen Tod beschlossene Sache gewesen und aus irgendeinem Grund, den er noch nicht recht verstand, mochte Arduhl den greisen Sonderling.

»Wir brechen auf«, wandte er sich endlich ab, um seine Stiefel und Socken vom Baum zu pflücken; der Alte hatte seine anbehalten. Und das war ein Segen, auch so, vom Feuer angewärmt, verströmten sie einen bestialischen Gestank. Der Alte lachte über den Gesichtsausdruck des Jüngeren und Arduhl grinste zurück. Der alte Stinker hatte sich etwas Heiteres, Unbedarftes, ja Jugendliches bewahrt und das gefiel Arduhl.

 

* * *

Drei Tage waren sie mittlerweile unterwegs. Nach dem letzten Gespräch hatten sie, trotz gegenseitiger Gewogenheit, ihre Wortwechsel auf das Nötigste beschränkt. An einem Morgen hatte Kraeh sich schlafend gestellt und seinen Weggefährten dabei belauscht, wie er weniger zu einem Gott als zu einer allumfassenden schöpferischen Macht, einer Essenz des Lebens gebetet hatte. Sie befanden sich in einem merkwürdigen Abhängigkeitsverhältnis. Zuweilen musste Arduhl den Älteren stützen, wenn diesen die Kräfte verließen, zugleich kannte Kraeh in den Gefilden seiner Heimat viele nützliche Kniffe, die einem das Leben erleichterten. Zusätzlich gab er unterschwellig vor, den Weg zurück in die Zivilisation zu kennen. Wenn er ehrlich war, hatte er keine Ahnung, wo genau sie sich befanden. Immerhin wusste er, anscheinend im Gegensatz zu Arduhl, dass die Festung Erkenheim vor mehr als dreißig Jahren geschliffen worden war. Der Südländer verband mit dem Namen wohl einen Glanz längst vergangener Zeiten und kannte ihn vermutlich lediglich aus Sagen und Legenden. Kraeh sprach diesen Punkt natürlich nicht an, da er auf den anderen angewiesen war und dieser glücklicherweise auch nicht nachfragte.

Ein kleiner Bachlauf, der ihm vage bekannt vorkam, zerstreute zumindest ein wenig den Zweifel, ob sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Sie folgten ihm, bückten sich unter Astwerk hindurch, schlenderten vorbei an Pilzkolonien, stets begleitet vom Quaken der Frösche und Unken, die Arduhl suspekt waren, da man sie trotz ihrer nicht überhörbaren Masse so selten zu Gesicht bekam.

»Wo verstecken sich all diese Biester?«, fragte der Südländer mürrisch. Gleichwohl er mehr zu sich selbst gesprochen hatte, zeigte Kraeh ihm kurz darauf einen der Quäker. Vorsichtig am Rücken gepackt zeigte er den gelben Bauch des zappelnden Tiers.

»Man kann daran lecken«, meinte Kraeh, »bringt interessante Wachträume. Haben wir früher oft …« Er brach ab. Ein Geräusch hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er setzte die Kröte auf den Boden. Arduhl hatte die Hand schon am Schwertgriff. So leise wie möglich bewegten sie sich auf die Quelle des Klanges zu, der sich beim Näherkommen als Tonfolge entpuppte. Jemand sang. Eine Frau mittleren Alters, das wirre Haar zum Zopf hochgesteckt, pflückte, in ihre Weise versunken, in gebückter Haltung ein Kraut, das am Bachlauf wuchs. Als sie die beiden über und über mit Dreck beschmutzten Männer sah, fuhr sie erschrocken hoch.

»Es ist in Ordnung«, versuchte Arduhl, der ein wenig vorangegangen war, sie zu beruhigen. »Wir wollen dir nichts Übles.«

Kraeh, der etwas außer Puste hinzukam, lächelte der Frau, die nun versteift dastand, freundlich entgegen. »Wir wollen nach Erkenheim. Kannst du uns sagen, wo wir es finden?«

»Erkenheim, kein Stein, mehr auf dem andern steht«, trällerte sie in derselben leicht schiefen Melodie wie zuvor. Der Reim hatte sie offenbar mit dem Anblick der beiden Fremden versöhnt. Sie schien keine Angst mehr zu haben. Wenig feminin wischte sie ihre vom Pflücken nassen Hände an dem Latz ab, den sie über ihrer kurzen braunen Tunika und dem verblichenen Rock trug.

»Ja, ja sicher«, murmelte sie. »Besuch ist selten dieser Tage, müsst ihr verstehen.«

»Besuch?«, hakte Arduhl nach, doch sie hatte die Kräuter bereits verstaut und winkte den beiden, ihr zu folgen. »Kommt, kommt. Nach Erkenheim, mit Stock und Bein …« Sie sang und summte, den ganzen Marsch über Worte in unsinniger Reihenfolge aneinanderreimend.

Ohne dass sich an der Landschaft etwas merklich verändert hätte, zumindest nichts, was den beiden Männern aufgefallen wäre, breitete sie schließlich die Arme aus. »Willkommen in Erkenheim!«

Auch auf den zweiten Blick konnte Kraeh nichts erkennen, was seine Erinnerung wachgerufen hätte. Der Untergrund war hier vielleicht ein wenig trockener, aber überall wuchsen Farne und Sträucher sowie Bäume, von denen Lianen herabhingen. Er ging, ohne auf die beiden anderen zu achten, ein paar Schritte, und tatsächlich, als er mit seinem Stiefel Moos beiseitewischte, traf er auf etwas Hartes. Er kniete sich hin und machte mit den Händen weiter. Eine Platte. Und dort drüben, nicht weit von ihm entfernt, glänzte, von Grünzeug überwuchert, ein Stück weißen Steins aus einem Erdhaufen.

Sie waren also tatsächlich an ihrem Ziel angelangt. Unglaublich, wie schnell die Natur sich zurückgenommen hatte, was einst ihres war, ehe der Mensch seine Mühe darauf verwendet hatte, ihr Antlitz in seinem Sinne zu gestalten. Kraeh dachte unwillkürlich an den Pan, der ihm in diesen Wäldern Lidunggrimm und Pian Anam überreicht hatte.

»Folgt mir«, sagte die seltsame Frau in seinem Rücken, »die Herrin erwartet euch bestimmt schon.«

»Das ist also der Hochsitz der Drudenkönigin, die unbezwingbare Festung, zu der wir aufgebrochen sind?«, fragte Arduhl schneidend, während sie ihrer dem Anschein nach zielsicheren Führerin hinterhergingen. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich die Dinge verändert haben. Aber das hier …« Frust und Enttäuschung waren nicht zu überhören. »Das geschieht, wenn man dem Gerede des einfachen Volkes Glauben schenkt, das stets mehr im Gestern als im Heute lebt. Ich hätte es besser wissen sollen.«

Kraeh dachte sich seinen Teil, sagte aber nichts.

Die Frau bog um eine mistelübersäte Eiche, deren breiter Stamm gewiss älter als drei Dekaden war. Ihre Wurzeln hatten das steinerne Fundament gesprengt, dessen sie nun, da sie einem Trampelpfad hinab folgten, ansichtig wurden. Wo jetzt die Eiche stand, ging es Kraeh durch den Kopf, musste einst einer der hohen Türme, die durch hängende Bögen miteinander verbunden gewesen waren, gen Himmel geragt haben.

Die Frau klopfte, unnötigerweise, wie die beiden Männer fanden, an eine eingefallene, von Wurzeln und Efeu umrankte Tür und trat in einen abwärts führenden Gang. Der Geruch von Moder und Fledermauskot stieg ihnen in die Nase. Ihnen war es eher, als stiegen sie in eine vergessene Gruft denn in einen Thronsaal, um einer Königin ihre Aufwartung zu machen. Der Tunnel war nicht beleuchtet und so tapsten sie bald in völliger Finsternis voran, verfolgt von dem Echo ihrer eigenen Stöhnlaute, wenn sie sich an einem der aus dem Nichts auftauchenden Vorsprünge die Ellbogen stießen.

Die bis hierher verstummte Führerin bat sie, einen Moment zu warten. Sie klopfte erneut gegen Holz, dumpf hallte das Echo an ihnen vorbei und dann öffnete sich knarrend der Eingang zu einer kleinen Halle, die Kraeh sofort wiedererkannte. Nur hatte er sie das letzte Mal auf einer anderen Seite verlassen und der Eingang, den sie jetzt benutzt hatten, war entweder neu angelegt worden oder damals verborgen gewesen. Aber es war ohne Zweifel derselbe Raum, in dem er nach seiner Reise über den Styx erwacht war: derselbe jadesteinerne Boden, dieselbe grün-weiße Musterung an der kuppelförmigen Decke, welche in die gleichartig beschaffenen Wände überging. Vorsichtig betrat Kraeh den glitschigen Rand des Beckens, das den größten Teil des Raumes einnahm. Der einzige Unterschied zu seinem letzten Besuch hier bestand darin, dass das große Becken nicht mehr mit der golden schimmernden Flüssigkeit angefüllt war. Lediglich eine Pfütze Nass bedeckte den Grund, auf dem eine zusammengekauerte Gestalt hockte.

»Erkentrud«, stieß Kraeh aus, als er unter dem einstmals gülden fallenden Haar, das nun zu einem verfilzten Etwas verkommen war, die markanten Züge der Drudenkönigin erkannte. Sie war noch immer schön, wie sie zu den Besuchern nach oben blickte, aber etwas an der Art, wie diese sie ansah, stimmte nicht. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Mein Krieger ist zu mir zurückgekommen«, sagte sie kehlig.

Kraeh wollte sich schon freuen, dass sie ihn hinter all der faltigen Haut ebenfalls erkannte, doch auf einmal kamen ihm Zweifel, ob sie wirklich wusste, wer da vor ihr stand.

»Wieso gibt es kein Salz mehr auf die Eier, Lischa?« Traurigkeit mischte sich in Erkentruds Stimme. »Zu lange ließest du mich warten.«

Kraeh war sprachlos. Nun erst begriff er, die einst so stolze Königin war dem Wahnsinn anheimgefallen. Eine Woge des Mitleids überkam ihn. Noch bedauernswerter war, dass sich zumindest ein Teil von ihr ihres Irrsinns bewusst zu sein schien, wie er von ihren gläsernen Augen abzulesen glaubte, welche zu viele Jahre im Fackelschein gewohnt hatten, um einen einzelnen Punkt zu fixieren. Abrupt sprang sie auf. Sie schwankte kurz und raufte sich die Haare. »Wir brechen auf!«, rief sie aus. »Lou, lass meinen Streitwagen anspannen und meine Kriegerinnen antreten!« Mit einem Mal war sie aus dem Becken geklettert und rauschte, Arduhl beiseitefegend, an den verdutzt Dreinblickenden vorbei in den Tunnel.

»Ihr müsste verstehen, sie schläft schon lange im Schoß der Göttin«, erklärte die Dienerin das sonderbare Gebaren ihrer Herrin. Kraeh und Arduhl, denen sie ebenso verschroben vorkam wie Erkentrud selbst, nickten bloß und folgten den sich schnell entfernenden Schritten der Königin.

»Wo sind all die anderen Druden hin?«, fragte Kraeh über die Schulter hinweg, während sie durch den schmalen Gang nach oben liefen.

»Als die Barrieren brüchig wurden, hat Erkentrud sie entlassen, um ein Blutvergießen zu verhindern«, raunte Lischa, als gebiete die Schwärze um sie herum den Flüsterton. »Sie befahl ihnen, sich den Firsen anzuschließen, die das Gesetz der Göttin kennen.«

»Einzig ich bin geblieben«, fügte sie kaum noch vernehmbar hinzu.

Am Ende des Ganges holten sie Erkentrud ein. Die Finger in Stein und Erde gekrallt stand sie und schmiegte sich ins letzte Schutz gewährende Dunkel. Ihre Augen starrten weit aufgerissen in das fahle Sonnenlicht, das draußen herrschte, die Pupillen derart geweitet, dass sie nur einen kaum wahrnehmbaren Streifen der blauen Iris übrig ließen. Die beiden anderen waren schon an ihr vorüber, als Kraeh ihr seine Hand anbot: »Komm, ich helfe dir.«

Sie kicherte. »Aber wir sind zu früh.«

»Zu früh für was?«

Ihr Kopf wackelte, anscheinend belustigt über sein Unverständnis.

»Für die Männer, die ich habe kommen sehen, natürlich«, sagte sie immer noch spöttelnd.

»Königin«, setzte Kraeh an, einerseits, um nicht selbst völlig den Respekt vor ihr zu verlieren, andererseits, um sie daran zu erinnern, wer sie war, und sie somit vielleicht zur Besinnung zu bringen.

»Königin der Druden«, wiederholte er, »niemand wird kommen. Wir sind mitten …«

Das war unmöglich! Sich rasch nähernde Schritte drangen an ihre Ohren. Kettenhemden rasselten durchs Unterholz.

Es war zu spät, um sich zu verstecken. Man hatte sie bereits entdeckt. Ein Dutzend waffenstarrender Orks trampelte aus dem Wald. Sie nahmen einen offenen Halbkreis als Kampfformation an, in dessen Mitte der hässlichste und stärkste, auf dessen grünem Gesicht Narben und Kriegsbemalung prangten, sich ihnen bedrohlich näherte. »Gebt uns die Frauen und alles, was ihr sonst noch habt, dann lassen wir euch vielleicht am Leben«, grunzte er übellaunig.

»Die meinte ich nicht«, flüsterte Erkentrud, ihr Kichern erstarb. Und in einer Gebärde, in welcher sich die Stärke der einstigen Herrscherin offenbarte, schlug sie ihr schmutztriefendes Kleid beiseite und zog Pian Anam. Lidunggrimm sprang beinahe von selbst aus seiner Scheide, ebenso verblüfft und entzückt über die Präsenz der Schwesternklinge wie ihr Träger. Lischa flüchtete in den Tunneleingang zurück und Arduhl machte katzenhaft einen Sprung rückwärts. Schulter an Schulter standen nun er, Kraeh und die einstige Königin, während sich der Halbkreis um sie zuzog.

Einer, der sich wohl Lorbeeren verdienen wollte, hatte sein Schwert vorwitzig an Arduhls still in der Luft stehenden krummen Klinge schleifen lassen; im letzten Moment versuchte er, in Richtung des Handgelenks zu stechen – was ihn den Arm kostete, als Arduhl blitzschnell reagierte. Es gab immer einen Dummen in Lagen wie diesen, dessen Blut vergossen werden musste, um die anderen mutig zu stimmen. Die Ruhe vor dem Sturm war gebrochen. Pian Anam vollzog einen Bogen und drängte dabei drei der Angreifer zurück. Kraehs Arme waren zu schwach für Rundschläge, deshalb setzte er Lidunggrimm wie einen Speer als Stoßwaffe ein, wurde aber von einer Axt so hart pariert, dass es ihm gerade noch gelang, nicht mitten unter die Feinde gerissen zu werden. Er versetzte dem Axtschwinger einen Tritt in die Lenden, der von seinem knielangen Kettenhemd abgepolstert wurde. Wie er in die streitlustigen Fratzen der drei Orks, die ihm am nächsten standen, blickte, überlegte er, wer von ihnen der schwächste Gegner sein würde. Es war immer gut, erst einmal die Zahl des Feinds zu mindern und sich am Ende mit den wirklich harten Brocken auseinanderzusetzen. Hätte Erkentrud nicht in diesem Augenblick einem auf sie Eindringenden den gesamten Torso von unten bis zum Hals aufgeschlitzt, hätte er auch in Erwägung gezogen, einen tollkühnen Ausfall zu vollführen, um den beiden anderen die Gelegenheit einiger tödlicher Streiche zu bieten. Seine Überlebenschancen in diesem Kampf, so wurde ihm bitter bewusst, gingen ohnehin gegen null. Den nächsten Schlag parierte er direkt vor seinem Gesicht. Nach dem heftigen Aufprall nahm er die Linke vom Griff Lidunggrimms. Für einen Wimpernschlag war er dem stinkenden Atem des Orks ausgesetzt, währenddessen grapschte er an den Gürtel des Gegners, fand einen Dolch, zog ihn und rammte ihn dem Ork in den ungeschützten Oberschenkel. Grunzend drückte der Verletzte in blinder Wut die beiden Klingen runter auf Kraehs Schulter, dem es gerade noch gelang, Lidunggrimm auf die Breitseite zu drehen. Dennoch reichte die Wucht aus, ihn einknicken zu lassen. Er fand keine Zeit, auf die Beine des nun außer sich Geratenen einzustechen. Den eigenen Dolch im Oberschenkel, drosch der Ork, Schaum vorm Mund, immer wieder von oben auf Kraeh ein. Lange würde er nicht mehr aushalten können, dachte er verzweifelt, da zuckte die Spitze von Arduhls Krummschwert in die Brust des Feindes. Der Ork blickte an sich hinab, besah ungläubig die offenen Ringe seines Kettenhemdes und den roten Fleck, der sich langsam ausbreitete. Dann brach er in sich zusammen. Schon hatten zwei neue seinen Platz eingenommen. Kraeh fehlte die Kraft, sich aufzurappeln. Es war vorbei. Doch was war das? Hörte er bereits in die nächste Welt hinein, waren es die Rösser Donars, die da gegen seine Schläfen pochten?

 

Ein Morgenstern ließ den Kopf jenes Orks platzen, von dem er erwartet hatte, dass dieser ihm im nächsten Moment den Todesstoß versetzen würde. Ein Wurfspeer ragte plötzlich aus der Brust des nächsten.

Als er es schließlich doch noch schaffte, seinen Körper aufzurichten, waren alle Orks niedergemacht oder lagen sich windend in ihrem eigenen Blut.

Die Reiter stiegen nicht ab. Sie thronten auf ihren Streitrössern und gewährten den Sterbenden vom Sattel aus den Gnadenstoß. Erkentrud und Arduhl schienen unverletzt. Arduhl wog kurz ab, senkte dann aber seine Waffe. Nicht weil er sicher gewesen wäre, von Freunden errettet worden zu sein, sondern wegen der schieren Aussichtslosigkeit auf Erfolg gegen gut dreißig Männer auf Pferden.

»Die habe ich gemeint«, sagte Erkentrud schwer atmend.

Die Behandlung, welche sie von den mit Kreuzen geschmückten Soldaten erfuhren, war allerdings beinahe ebenso unerfreulich wie das Zusammentreffen mit den Orks. Auch wenn sie noch nicht wussten, was für einen bedeutenden Fang sie gemacht hatten, zeigten die Männer sich doch von Anfang an misstrauisch gegen den Südländer und seine seltsamen Gefährten. Dass man sie nicht in Ketten legte, war das Äußerste an Freundlichkeit, das man ihnen entgegenbrachte. Nachdem man sie grob ihrer Waffen entledigt hatte, stiegen auf Befehl hin zähneknirschend drei Männer von ihren Pferden ab, deren Zügel aneinandergebunden wurden, ehe Erkentrud, Kraeh und Arduhl harsch auf die Sättel befohlen wurden. Die drei Soldaten, die sie sich ohne eigenes Zutun zu Feinden gemacht hatten, schwangen sich hinter Kameraden in den Sattel.

Sie brachen auf. Kraeh und Arduhl taten keinen Mucks, Erkentrud hingegen entließ Lischa lautstark aus ihren Diensten. Als der Soldat zu ihrer Rechten wissen wollte, mit wem sie da redete, erschrak sie und sah zu Boden.

»Mit niemandem«, lenkte Kraeh ein, »ihr Geist ist verwirrt.«

Die Königin blinzelte dem Mann zustimmend entgegen, und sobald er wegsah, schenkte sie Kraeh einen vernichtenden Blick. Verstand sie nicht, dass er wahrscheinlich gerade das Leben ihrer Dienerin gerettet hatte? Aber wie er stumm auf dem Rücken des schnaubenden Tieres saß, überkam den Alten erneut das betäubende Gefühl, dass nun sowieso alles gleichgültig war. Was hatte er sich eigentlich vorgestellt? Dass er Erkentrud fand und sie ihm einfach so eine zweite Jugend schenkte? Aye, ungefähr das hatte er sich gedacht, gestand er sich ein. Was für ein Tor er doch war! Am besten wäre es wohl, sie würden ihn gleich hier aufknüpfen, ehe er sich der nächsten kindischen Hoffnung hingeben konnte. Während er den Blick über die grimmig dreinschauenden Soldaten schweifen ließ, die zuweilen lüstern auf Erkentrud starrten, zuweilen flugs die Hände auf ihre Waffen legten, wenn Arduhl auch nur seinen Kopf unerwartet drehte, ging ihm auf, dass eine Hinrichtung keineswegs eine abwegige Aussicht war.

Als einer, der als Kundschafter vorausgeritten war, zurückkehrte mit der Nachricht, er habe den Weg wiedergefunden, lockerte sich die Stimmung allerdings auf. Obgleich das Reich der Druden zerfallen war, flößten die Wälder dem, der die Geschichten kannte, immer noch Respekt, wenn nicht gar Angst ein. Da sie jetzt die Bestätigung hatten, wieder aus ihnen herausgeführt zu werden, brachen die Soldaten ihr Schweigen und die in Gewahrsam Genommenen erfuhren, dass sie vermutlich von Botlim-Orks, die aus ihrem Reservat ausgebrochen sein mussten, attackiert worden waren.

Ein fernes Donnergrollen brachte den kommandierenden Offizier dazu, seinen Leithengst in einen leichten Trab verfallen zu lassen, der von den übrigen Tieren in altem Herdenbewusstsein aufgenommen wurde. Trotzdem erreichten sie ihr Ziel nicht, ohne in einen heftigen Regenguss zu geraten. Durchnässt bis auf die Haut ritten sie auf ein aus massiven Holzpfeilern errichtetes Tor zu. Die ehemalige Garnison war zu einem Städtchen herangewachsen, dessen Bewohner, als der Platz im Inneren der Palisade nicht mehr ausreichte, ihre Hütten und Häuser doch immerhin so nahe wie möglich an den Sicherheit ausstrahlenden Wall gedrängt hatten, was dem Ganzen einen etwas seltsamen Anblick verlieh.

Kraeh bemerkte, wie gut Erkentrud die Nässe stand, während sie durch das nach außen aufschwingende Tor ritten. Das Haar klebte ihr auf Stirn und Wangen und die durchtränkte Kleidung betonte ihre immer noch beeindruckenden weiblichen Formen. Direkt hinter dem Tor wurden sie schon von noch mehr Männern in Waffen erwartet, von denen einer deutlich herausstach. Er war nicht eben groß zu nennen, doch sein mit Gold überzogener Flügelhelm und sein mit dem Bullen Brisaks bestickter Überwurf wiesen ihn als denjenigen aus, der über ihr Schicksal entscheiden würde.

»Eli!«, entfuhr es Arduhl.

Nach einer kurzen Musterung, die ein sardonisches Lächeln auf den Mund des Befehlshabers zauberte, machte er eine Handbewegung, die unverzüglich zur Folge hatte, dass man sie unsanft von den Pferden zog.

»Bringt sie zu den anderen Gefangenen«, sagte Eli in einem Tonfall, der Widerworte weder kannte noch jemals geduldet hätte. »Und verdoppelt in Anbetracht unseres berüchtigten Besuchs die Wachen – auch wenn er kaum von Dauer sein wird.« Dabei nahm er den Helm ab und fixierte Arduhl in einer Weise die keinen Zweifel daran ließ, dass er ihm am liebsten auf der Stelle das Herz aus der Brust geschnitten hätte.

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