Homer und Vergil im Vergleich

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2.2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil im Kontext der zeitgenössischen imitatio-Debatte

Asconius Pedianus berichtet in seiner Schrift gegen die obtrectatores, Vergil habe sich gegen den Vorwurf (crimen) des Homerplagiats mit dem Hinweis verteidigt, seine Ankläger müssten beim Versuch, es ihm gleichzutun, feststellen, dass es leichter sei, dem Herkules die Keule als Homer einen Vers zu stehlen. Den literarischen Aneignungsprozess beschreibt Vergil hier zwar mit einer Diebstahlsmetapher (surripere), er hebt aber zu seiner Verteidigung die mit einem solchen furtum verbundene (künstlerische) Anstrengung hervor.1 Offensichtlich soll damit ausgedrückt werden, dass Vergils Verwendung von homerischen Einzelstellen2 mit den Begriffen furtum bzw. κλοπή nicht adäquat umschrieben ist. Ob Vergil den Ausspruch tatsächlich so getan hat, ist eine Frage. Unabhängig davon aber ist es wichtig zu verstehen, wie die Anekdote als Argument gegen den Plagiatsvorwurf in der augusteischen bzw. frühkaiserzeitlichen Vergilkritik Plausibilität beanspruchen konnte.

Werfen wir zur Beantwortung der letzteren Frage zunächst einen Blick auf einen Zeitgenossen Vergils: Wenn sich Horaz in epist.Horazepist. 1, 3, 15–20 1, 3, 15–20 nach seinem Dichterkollegen Albinovanus Celsus erkundigt, der sich ungeniert aus den Bücherschätzen der von Augustus gegründeten palatinischen Bibliothek bedient und seine dichterischen Machwerke wie die sprichwörtliche Krähe mit „fremden Federn“ schmückt, so spricht aus diesen Versen ein reflektiertes Bewusstsein über literarische Appropriation.3 Horaz stellt dem Celsus seinen Briefadressaten Florus gegenüber, indem er seine rednerische oder dichterische Tätigkeit zwar ebenfalls mit der Metapher des Zusammensammelns bezeichnet – hier ins Bild der Biene gefasst, die ihren Honig aus verschiedenen Blüten zusammenmischt –, ihm aber als spezifische unterscheidende Qualität non … parvum | ingenium, non incultum zuspricht, das seinen Produkten den ersten Rang unter den Konkurrenten sichert.4 Die natürliche Anlage und ihre Ausbildung sind demnach Voraussetzung für erfolgreiche imitatio – es findet sich aber keine Spur einer Abwertung der Nachahmung als solcher bei Horaz. Stattdessen erscheint der ständige Rekurs auf dichterische Vorbilder gewissermaßen als die Ausgangssituation des Dichtens: Den Unterschied macht das wie.5 Im Bienengleichnis liegt ein entscheidender Hinweis auf das Kriterium, das die Qualität des Produkts bestimmt: So wie der gute Honig auf der gelungenen Mischung der Blütensäfte beruht, zeichnet sich das Dichtwerk, das Einflüsse aus verschiedenen Autoren aufnimmt, vor allem durch Einheitlichkeit und Integration der Einzelelemente aus. Entsprechend ist auch der Originalitätsanspruch, den Horaz in epist.Horazepist. 1, 19, 19–34 1, 19, 19–34 erhebt, zu verstehen: Er rechnet sich nicht zum servom pecus der Nachahmer, die sklavisch ihrem Vorbild in Form und Inhalt folgen.6 Zwar orientiert er sich in seiner Epodendichtung in der metrischen Gestalt und dem Ethos an den archilochischen Jamben, doch weicht er inhaltlich von ihnen ab (epist. 1, 19, 24–25: numeros animosque secutus | Archilochi, non res et agentia verba Lycamben). Sappho und Alkaios geben ihm ein Muster an die Hand, wie man formal an ein Vorbild anschließen, hinsichtlich des Gegenstands aber eigene Wege gehen kann. Indem sich Horaz das alte Vorbild auf diese Weise eigenständig aneignet, kann er sich als „Archegeten“ der jambischen Gattung in Rom bezeichnen. An anderer Stelle wertet es Horaz sogar als Fehler, wenn man sich immer streng an sein Vorbild hält und wortwörtlich der Maßgabe griechischer Vorbilder, nicht aber dem eigenen ingenium folgt.7 Die schöpferische Potenz realisiert sich also nicht vornehmlich in der Erfindung neuer Inhalte, sondern in der gekonnten Anverwandlung alter Muster.

Dass man einen ähnlichen Grundsatz, wie ihn Horaz hier für die Dichtung formuliert, auch in der Rhetorik vertrat, zeigt der Verfasser der ps.-dionysischen Rhetorik: μίμησις γὰρ οὐ χρῆσίς ἐστι τῶν διανοημάτων, ἀλλ’ ἡ ὁμοία τῶν παλαιῶν ἔντεχνος μεταχείρισις. καὶ μιμεῖται τὸν Δημοσθένην οὐχ ὁ τὸ <Δημοσθένους λέγων ἀλλ’ ὁ> Δημοσθενικῶς, καὶ τὸν Πλάτωνα ὁμοίως καὶ τὸν Ὅμηρον.8Dionysios Hal.ars 10, 19 Hier ist die horazische Lehre zur bündigen Schulformel geronnen: Nicht die wörtliche Anleihe an Demosthenes, Platon oder Homer sichern die Qualität der μίμησις, sondern die sprachliche Gestaltung im Geist der genannten Autoren. Besonderes Gewicht liegt auf der Forderung, dass es sich um einen regelgeleiteten Rückgriff auf die kanonischen Autoren handeln muss (ἔντεχνος μεταχείρισις).9

Auch Dionysios von Halikarnassos10 weist der τέχνη einen wichtigen Stellenwert zu, wenn er im Dinarchus die μίμησις in zwei Typen untergliedert:Dionysios Hal.Din. 7

ὡς δὲ καθόλου εἰπεῖν, δύο τρόπους τῆς διαφορᾶς ὡς πρὸς τὰ ἀρχαῖα μιμήσεως εὕροι τις ἄν· ὧν ὃ μὲν φυσικός τέ ἐστι καὶ ἐκ πολλῆς κατηχήσεως καὶ συντροφίας λαμβανόμενος, ὃ δὲ τούτῳ προσεχὴς ἐκ τῶν τῆς τέχνης παραγγελμάτων. περὶ μὲν οὖν τοῦ προτέρου τί ἄν τις καὶ λέγοι; περὶ δὲ τοῦ δευτέρου τί ἂν ἔχοι τις εἰπεῖν <ἢ> ὅτι πᾶσι μὲν τοῖς ἀρχετύποις αὐτοφυής τις ἐπιπρέπει χάρις καὶ ὥρα, τοῖς δ’ ἀπὸ τούτων κατεσκευασμένοις, κἂν ἐπ’ ἄκρον μιμήσεως ἔλθωσι, πρόσεστίν τι ὅμως τὸ ἐπιτετηδευμένον καὶ οὐκ ἐκ φύσεως ὑπάρχον. (Din. 7 = V.1 307, 8–17 Usener-Radermacher)

(„Man wird wohl zwei Arten der Nachahmung hinsichtlich der alten Muster finden: Die eine ist natürlich und wird erworben durch viel mündlichen Unterricht und gemeinsame Erziehung, die andere ist dieser ähnlich, fußt aber auf technischen Lehrsätzen. Was soll man über die erste schon sagen? Was aber die zweite betrifft, was muss man da sagen, außer, dass aus den originalen Mustern wie von selbst eine gewisse Anmut und Schönheit ausgeht, wohingegen bei den nach ihnen gefertigten Kopien, auch wenn sie den Gipfel der Nachahmungskunst erreicht haben, immer Reste von Fleißarbeit und Unnatürlichkeit bleiben.“)

Dionysios differenziert am Beispiel des Redners Dinarchos zwei Formen der Nachahmung. Die eine, umstandslos positiv bewertete, war nur zu einer Zeit erreichbar, als man noch in unmittelbaren persönlichen Kontakt zu den bewunderten Vorbildautoren treten konnte. Bei Dinarchos war das in der ersten Lebenshälfte vor dem Tod Alexanders im Jahr 323 v. Chr. gegeben. In der zweiten Phase seines Lebens, als die klassischen Muster aus Athen vertrieben oder tot waren, musste sich Dinarchos an die rhetorischen Handbücher halten, ohne die Qualität seiner früheren Produkte jemals wieder zu erreichen.11 Regelgeleitete, technische Mimesis ist für Dionysios demnach die Methode, die zeitliche Distanz zu der als klassisch anerkannten Musterepoche des 5./4. Jhdt. zu überbrücken. Zwar werden die Produkte ihre Musterautoren niemals ganz erreichen, doch ist so zumindest die maximal mögliche Annäherung zu erhoffen.

Der besondere Stellenwert dieser Definition ergibt sich, wenn man den Mimesisbegriff mit der Geschichtskonzeption des Dionysios verbindet. Das klassizistische Programm des Dionysios ist nicht in erster Linie als ein rein literarisches oder ästhetisches Konzept zu verstehen, sondern erhebt einen weitreichenden soziokulturellen Anspruch. Grundlage seines Programms ist eine triadische Geschichtsauffassung, derzufolge die Blütezeit der attischen Beredsamkeit mit Alexanders Tod untergegangen ist und nun – im klassizistischen Rückgriff auf diese ideale Urzeit und in konsequenter Ablehnung der dazwischenliegenden Verfallsepoche – wiederbelebt werden soll.12 Klassischer attischer Stil, so besonders deutlich in der Isokratesschrift ausgesprochen, geht Hand in Hand mit klassischer attischer Identität. Der Redner bzw. sein Stil und der Mensch bzw. seine Einstellungen und Haltungen sind in Dionysios’ Konzeption nicht zu trennen. An dieser Stelle kommt das Konzept der Mimesis als Nachahmung der klassischen Muster ins Spiel: Dionysios sieht in ihr mehr als ein rein technisches Verfahren der Redegestaltung, sondern ein Mittel, wie der Redner in einer existentiellen Grenzüberschreitung über die Epochengrenzen hinweg gleichsam zu einem Menschen des 4. Jhdt. wird und seine Rede tatsächlich zu einem πολιτικὸς λόγος machen kann.13Dionysios Hal.de imit.

Dionysios fasst seine Anschauungen über die Nachahmung am Beginn des zweiten Buches der verlorenen Schrift De imitatione mit zwei Anekdoten ins Bild.14 Beide geben einen Eindruck davon, wie man sich den Vorgang der Mimesis psychologisch konkret vorzustellen hat. Die erste Erzählung vom hässlichen Bauern, der seine Frau während des Zeugungsaktes verschiedene schöne Bilder betrachten lässt, damit auch die später geborenen Kinder eine schöne Gestalt hätten, wird von Dionysios auf den Bereich der stilistischen Imitation übertragen: Ebenso wie die Bauersfrau die schönen Bilder, solle sich der Redner gelungene Beispiele aus den alten Musterautoren vor Augen halten.15 Diese Vorbilder würden sich dann in seinem Geist wie Zuflüsse zu einem Strom vereinigen und zu einem einheitlichen Stil verbinden.16 Die zweite Anekdote schließt unmittelbar an: In ähnlicher Weise sei es nämlich dem Maler Zeuxis gelungen, Helena, die schönste der Frauen, zu malen, indem er die Mädchen der Stadt Kroton betrachtet und jeweils die besten Einzelheiten ihrer Körper zu einem neuen Ganzen verbunden habe. Offensichtlich geht es Dionysios in beiden Fällen darum, die Bedeutung der genauen Beobachtung bzw. – auf den Redner übertragen – der Lektüre zu betonen.17 Durch einen psychologischen Prozess der Aufmerksamkeitssteuerung werden die Merkmale der Vorlage vom Redner aufgenommen und in seiner Seele zu einem eigenen Produkt amalgamiert. Das wichtigste Qualitätsmerkmal dieses neuen Produkts ist die vollständige Integration der fremden Einflüsse zu einem einheitlichen Ganzen: Man darf der Rede nicht anmerken, dass sie auf heterogenen Einflüssen basiert. Dionysios prägt für diese Stilqualität der Rede den Begriff der ὁμοείδεια. Im Dinarchos wird ὁμοείδεια im Sinne der Einheitlichkeit des Stils sogar als Echtheitskriterium für die Reden klassischer Autoren wie Lysias gebraucht.18 Dinarchos mangele dagegen dieser Vorzug, daher könne man seine Produkte (zumindest diejenigen aus seiner späteren Schaffensphase) von den gelungenen Mustern der klassischen Meister gut unterscheiden.19

 

Die griffigen Vergleiche bei Dionysios boten geeignete Bilder, um auch den Begriff des Plagiats neu zu verhandeln. Das zeigt eine einschlägige Stelle bei Ps.-Longinus, die wohl direkt auf die bei Dionysios verwendete Analogie von Malerei und Dichtung rekurriert. Ps.-Longinus führt als einen Weg zum Erhabenen die Nachahmung der großen Dichter der Vergangenheit ein.20 Insbesondere Homer wird als Muster sowohl von Prosaautoren (Herodot, Platon) wie auch von Dichtern (Stesichoros, Archilochos) genannt. Am Beispiel Platons lässt sich diese Form der Abhängigkeit am besten studieren. Doch stellt sich gerade hier die Frage nach der Bewertung dieser literarischen Nähe:Ps.-Longinosde subl. 13, 4

ἔστι δ̓ οὐ κλοπὴ τὸ πρᾶγμα, ἀλλ̓ ὡς ἀπὸ καλῶν εἰδῶν ἢ πλασμάτων ἢ δημιουργημάτων ἀποτύπωσις. καὶ οὐδ̓ ἂν ἐπακμάσαι μοι δοκεῖ τηλικαῦτά τινα τοῖς τῆς φιλοσοφίας δόγμασι, καὶ εἰς ποιητικὰς ὕλας πολλαχοῦ συνεμβῆναι καὶ φράσεις εἰ μὴ περὶ πρωτείων νὴ Δία παντὶ θυμῷ πρὸς Ὅμηρον, ὡς ἀνταγωνιστὴς νέος πρὸς ἤδη τεθαυμασμένον, ἴσως μὲν φιλονεικότερον καὶ οἱονεὶ διαδορατιζόμενος, οὐκ ἀνωφελῶς δ̓ ὅμως διηριστεύετο … (Ps.-Long. de subl. 13, 4)

(„Dabei handelt es sich nicht um Plagiat; es ist, wie wenn man schöne Gestalten in einer künstlerischen Plastik nachprägt. Und mir scheint, Platon hätte seine philosophische Lehre nicht zu solcher Blüte entfaltet und wäre nicht so häufig in die Vorstellung und Sprache der Dichtung gedrungen, hätte er nicht, beim Zeus, leidenschaftlich mit ihm um den Siegespreis gerungen – als noch junger Streiter gegen einen Rivalen, den bereits alle bewunderten. Vielleicht war er zu kampflustig und griff gleichsam zur Lanze, aber er kämpfte nicht ohne Gewinn um den Vorrang …“ ÜS nach Reinhard Brandt)

Mit dem Terminus ἀποτύπωσις greift Ps.-Longinus die Analogie von bildender Kunst und Rede, von der schon Dionysios bei seinem Zeuxisvergleich ausgegangen ist, auf. Doch ist hier am Beispiel des prototypischen Nachahmers Platon die Vorstellung zu einem anspruchsvollen Inspirationsmodell erweitert, das den psychologischen Prozess der künstlerischen Anregung mit der Begeisterung die Pythia durch die delphischen Dämpfe gleichsetzt. Ps.-Longinus erklärt den durch die Lektüre bewirkten ἐνθουσιασμός davon ausgehend in analoger Weise: οὕτως ἀπὸ τῆς τῶν ἀρχαίων μεγαλοφυΐας εἰς τὰς τῶν ζηλούντων ἐκείνους ψυχὰς ὡς ἀπὸ ἱερῶν στομίων ἀπόρροιαί τινες φέρονται.21

Im Vergleich mit Dionysios wird deutlich, dass Ps.-Longinus das Nachahmungskonzept um den Aspekt des Wettkampfes mit dem Vorbild erweitert. Zwar differenziert auch Dionysios ζῆλος und μίμησις22, indem er mit dem ersten Begriff einen psychischen Vorgang meint, unter μίμησις aber eine Nachbildung auf der Basis genauer Beobachtung versteht, doch ist das Erreichen des Vorbilds oder gar ein Wettstreit im Sinne einer aemulatio seiner streng klassizistischen Konzeption nach eigentlich ausgeschlossen.23 Schon Isokrates hatte eingeräumt, dass man über dieselben Themen sprechen dürfe, die schon frühere Autoren behandelt haben – wenn man es mit der Absicht tut, sie zu übertreffen! –, doch konnte er diese Aussage ohne die Voraussetzung des strengen Kanonbegriffs und des triadischen Geschichtsverständnisses, wie es für Dionysios Gültigkeit besitzt, tun.24 Für Dionysios kann das Ziel der Nachahmung nur die maximal mögliche Annäherung an das Vorbild sein. Ps.-Longinus dagegen erweitert die Vorstellung zur selbstbewussten Auseinandersetzung – in seinem Beispiel Platons mit Homer.

Der offen geforderte Anschluss an die besten Autoren der Vergangenheit ist ein Aspekt, der die Klassizisten – vielleicht weniger in der Dichtungs- bzw. Redepraxis als auf theoretisch-programmatischer Ebene – von den poetologischen Stellungnahmen früherer hellenistischer Dichter abhebt. Dass sich daraus eine Bedeutungsverschiebung des Plagiatsbegriffs ergeben musste, ist nur folgerichtig: Wenn ein Autor gegen einen kanonischen Autor vor einem wie bei Ps.-Longinus imaginierten „Publikum aller Zeiten“25 antritt, so geht er davon aus, dass die Vorbilder identifiziert werden können – sonst hätte der Wettkampfgedanke keinen Sinn. Nachahmung ist darauf angelegt, als solche erkannt zu werden. Die Täuschungsabsicht, die mit den Begriffen furtum bzw. κλοπή sonst immer auch bezeichnet ist26, musste vor dem Hintergrund des emphatischen klassizistischen imitatio-Begriffs gerade in ihr Gegenteil verkehrt werden: Wer sich durch entsprechende Lektüretechniken und psychologische Annäherungsprozesse so sehr in die klassische Zeit hineinversetzt, dass er nicht mehr nur die Worte, sondern ganz in der Art etwa eines Demosthenes sprechen konnte, bei dem war im Idealfall kaum mehr zu entscheiden, ob es sich nun um authentisch-wörtliche oder gut erfundene stilistische Anleihen handelt. Der neue Akzent, den der Plagiatsbegriff bei den römischen Klassizisten erhält, liegt demnach darin, dass mit κλοπή oder furtum eine ästhetisch mangelhafte Verwendung fremden Guts bezeichnet werden kann, ohne dass damit aber eine Abwertung der literarischen Anleihe als solcher verbunden wäre. Nur durch intensive, mit Anstrengung und Methode erreichte Vertrautheit mit dem Modell lässt sich ein neues Werk als einheitliches Ganzes schaffen; ist diese enge Vertrautheit nicht gegeben, so wirken die entlehnten Versatzstücke auf den Leser wie die sprichwörtlichen gestohlenen Federn, die Horaz an Albinovanus Celsus tadelt. Die nötige Anstrengung kann wie bei Ps.-Longinus im Bild des Wettkampfes mit dem Vorbild oder wie bei Horaz in Analogie zum Fleiß der Bienen ausgedrückt werden, wobei im einen Fall das neue Selbstbewusstsein in der Auseinandersetzung mit den Alten zum Ausdruck kommt, im anderen die Neubewertung künstlerischer Originalität, die in der gelungenen Mischung verschiedener Vorbilder zu einem einheitlichen, neuen Ganzen besteht.

Wendet man das bisher Ausgeführte auf die Vergilanekdote an, wie sie bei Sueton bzw. Asconius Pedianus und bei Macrobius überliefert ist, so ergibt sich ein stimmiges Bild: Wenn Vergil sagt, es sei leichter, Homer einen Vers als dem Herkules die Keule heimlich zu entreißen, so dass er – gemeint ist Homer bzw. Herkules, gedacht ist aber auch an den Leser – davon nichts merkt, so wertet er den Täuschungsvorwurf um, indem er auf die Schwierigkeiten hinweist, den „gestohlenen“ Vers so zu verwenden, dass er sich organisch ins Werk einfügt und seine Einheitlichkeit nicht stört. Man möge die Anleihe also in dem Sinne „nicht bemerken“, dass man keine Brüche und Uneinheitlichkeiten entdeckt – die künstlerische Leistung soll man aber wohl wahrnehmen und schätzen. Zum anderen betont der bei Macrobius (s.o.) überlieferte erklärende Nachsatz die persönlichen Qualitäten des Dichters, die für eine gelungene Nachahmung notwendig sind. Der Imitator (= Vergil) muss demnach vergleichbare Qualitäten wie der Autor des Vorbildtextes (= Homer) unter Beweis stellen, so wie der, der Jupiter den Blitz oder Herkules die Keule stiehlt, auch über die Kraft verfügen muss, Blitz und Keule einzusetzen. Zwar geht Vergil in der Anekdote nicht soweit, hinsichtlich seiner persönlichen Qualitäten im Sinne einer aemulatio Überlegenheit über Homer zu beanspruchen, doch lässt sich der Wettkampfaspekt aus der behaupteten qualitativen Äquivalenz mit dem kanonischen Vorbild immerhin ableiten.

Die Plagiatsthematik war unter Augustus und Tiberius zu einem bestimmenden Diskurs der Literaturkritik geworden. Sie stellt gewissermaßen die Kehrseite der von den Klassizisten um Dionysios vorangetriebenen Theoretisierung der μίμησις bzw. imitatio dar. Damit war allerdings, wie Horaz und Ps.-Longinus zeigen, eine Neuakzentuierung des Begriffs verbunden: Wenn man die imitatio explizit zum Programm der Dichter und Redner erhob, konnte man sprachliche Übernahmen aus den mittlerweile kanonisch gewordenen Autoren kaum mehr nach Art der frühen Komödiendichter als Verstoß gegen ein wie auch immer aufgefasstes Urheberrecht betrachten. Stattdessen war die imitatio dann schlecht realisiert, wenn man sich wie Albinovanus Celsus zwar aus Ruhmsucht der alten Dichter bediente, dem entlehnten Material künstlerisch aber nicht Herr werden konnte. Wer ungeschickt entlehnte, machte sich des Diebstahls schuldig – die geglückte Verwendung des übernommenen Gutes sicherte dem Imitator auch das Besitzrecht.27 Dieser theoretisch fundierte Anspruch scheint sich auch in der philologischen Literatur über loci similes niedergeschlagen zu haben, die – wie gezeigt – die schon immer geübte Praxis literarischer Bezugnahmen gerade jetzt nicht mehr nur in Form tendenzloser Parallelensammlungen, sondern unter dem Kampfbegriff des Plagiats reflektieren. Auch wenn wir über diese Werke wenig mehr als das, was ihre Titel preisgeben, aussagen können, so spricht aus ihnen doch ein chronologisch auf die Prinzipats- bzw. frühe Kaiserzeit eingrenzbares gesteigertes Interesse an Fragen der gelungenen Nachahmung, dessen Ursprung bei den römischen Klassizisten um Dionysios von Halikarnassos recht wahrscheinlich ist.28 Vergils Werk wäre demnach im Laufe der ersten Hälfte des 1. Jhdt. n. Chr. zu einem wichtigen Gegenstand für die Theoretiker der μίμησις bzw. imitatio avanciert. Seine Leistung wurde anfangs kontrovers beurteilt; spätestens in der Mitte des Jahrhunderts war sein Ruf als Homernachahmer aber soweit gefestigt, dass Plinius schon auf die Vergiliana virtus als Schlagwort für den siegreichen Wettstreit mit einem Vorbildautor in der Vorrede zur Naturalis historia Bezug nehmen konnte.29Plinius d.Ä.nat. praef. 22

2.3 Zusammenfassung

Der von Sueton wohl aus der Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus übernommene Katalog von Vergilkritikern erweist sich in beinahe allen Stücken als eine nach Sparten geordnete Adaption der entsprechenden Phänomene aus der Homerrezeption: Parodien wie die des Numitorius konnten dabei mit Bezug auf die rhapsodischen Epenparodien als ein Analogon nicht nur zum parodistischen Umgang mit Literatur bei den Griechen überhaupt, sondern im Besonderen mit den Epen Homers interpretiert werden. Auch die Aeneidomastix des Carvilius Pictor besetzt mit ihren – wahrscheinlich auch methodischen – Bezügen ein Kritikfeld, das über den prototypischen Kritiker Zoilos von Amphipolis speziell mit Homer verbunden ist, wofür nicht nur der Titel dieser Schrift, sondern auch eine auf Carvilius anspielende Stelle bei Ovid zeugt. Ähnliches gilt für die wohl sprachkritische Schrift des Herennius, die methodisch zwar enger an ihre Entstehungszeit gebunden gewesen sein dürfte, für die sich aber ebenfalls Entsprechungen in der Homerkritik finden. (→ Kap. 2.1)

Anders ist die Situation bei den Plagiatsvorwürfen, wie sie die Sammlung des Perellius Faustus (furta) enthielt. Die überlieferten Zeugnisse lassen erkennen, dass monographische Abhandlungen, in denen literarische Übernahmen oder Anleihen durch Dichter als Plagiate angegriffen wurden, erst etwa seit augusteischer Zeit entstanden. Zuvor verzeichnete man entsprechende sprachliche oder inhaltliche Parallelen, ohne einen polemischen Vorwurf damit zu verbinden. Die zwei bei Sueton genannten Titel – die furta des Perellius Faustus und die Ὁμοιότητες des Avitus – repräsentierten wohl beide Typen von Schriften. (→ Kap. 2.2.1)

Dass die systematischen Plagiatsvorwürfe gegen Dichter ein relativ spätes Phänomen sind, ist nicht nur aufgrund der überlieferten Titel anzunehmen, sondern erklärt sich auch aus der aktuellen literaturkritischen Diskussion. Schon Vergil selbst sah sich Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Das Bild vom Diebstahl der Keule des Herkules, das er angeblich zu seiner Verteidigung bemüht hat, lässt sich, was die zum Ausdruck gebrachte Bewertung von imitatio betrifft, in die Nähe des etwa zeitgleich von Dionysios von Halikarnassos formulierten Programms der sog. „römischen Klassizisten“ rücken. Der Plagiatsvorwurf und seine Entkräftung – wie sie etwa in der Schrift des Asconius Pedianus, aber auch schon in der Replik Vergils unternommen wurde – sind demnach zwei komplementäre Beiträge in einer Diskussion, die letztlich auf eine programmatische Aufwertung der Nachahmung hinauslief. Vergil steigt – so zeigt die spätere Rede von der imitatio als Vergiliana virtus – im Zuge dieser Diskussion geradezu zum Muster für die gelungene künstlerische Auseinandersetzung mit einem anerkannten Vorbild auf. (→ Kap. 2.2.2)