Homer und Vergil im Vergleich

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3. Seneca d.Ä., Suasoriae und Controversiae
3.1 Klassizistische imitatio-Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d.Ä.

Die kanonische Stellung Vergils war durch die frühen Plagiatsschriften nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Vielmehr war der Dichter der Aeneis schon vor oder bald nach seinem Tode als ein lohnenswertes Studienobjekt zum Gegenstand stilkritischer Debatten geworden, die auch im Bereich des professionellen Rhetorikunterrichts geführt wurden. Dabei dürfte es gerade seine selbstbewusste imitatio Homers gewesen sein, die das Interesse der Rhetoriklehrer auf ihn lenkte: Vergil hatte ja gewissermaßen das Problem literarischer Nachahmung selbst zum Thema gemacht, indem er mit seiner Aeneis an das in Rom seit den Neoterikern traditionelle Tabu einer offenen Homernachfolge gerührt hatte. Wer fortan in Rom über imitatio nachdachte, konnte an Vergil kaum mehr vorbei.

Der Rhetorik war es spätestens seit Isokrates ebenfalls grundsätzlich um die Problematik der Nachahmung zu tun, gründete sie ihr Ausbildungskonzept doch neben anderen Prinzipien auch auf dasjenige der μίμησις bzw. imitatio, der Nachahmung anerkannter Musterautoren zum Zweck der rednerischen Vervollkommnung.1 Wie bereits skizziert, knüpften nicht nur die Klassizisten um Dionysios von Halikarnassos an diese isokrateische Vorgabe an; die Frage nach einer angemessenen Nachahmung der literarischen Hinterlassenschaft früherer „klassischer“ Zeiten – anerkannter Redner oder Musterautoren aus dem Bereich der Historiographie, Philosophie oder Dichtung – beschäftigte die Theoretiker der Rhetorik wie der Poetik seit augusteischer Zeit eminent. Wie unterschiedlich aber noch in der frühen Kaiserzeit die Perspektiven auf den Themenkomplex der Nachahmung ausfallen konnten, wie abhängig die konkrete Einschätzung einer literarischen Anleihe vom theoretischen Horizont des Rezipienten war, und welche Rolle Vergil in diesem Zusammenhang spielen konnte, lässt sich aus den stilkritischen Urteilen im Werk Senecas d.Ä. ersehen, der in seinen Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores2 viele zentrale praktische Aspekte literarischer Kritik in der frühen Kaiserzeit berührt.

Über die Absichten, die Seneca d.Ä. mit seiner wohl unter Caligula3 zusammengestellten Schrift verfolgt, gibt er in der Vorrede zum ersten Buch der Kontroversiennachschriften Auskunft. Auf die Bitte seiner drei Söhne hin möchte er kritische Einschätzungen über die Vorträge derjenigen Deklamatoren geben, die er noch selbst als junger Mann in den Rhetorenschulen gehört hat. Um seine Ausführungen so anschaulich wie möglich zu machen, sollen zu diesem Zweck auch konkrete Beispiele aus den Übungsreden in Form von wörtlichen Zitaten beigebracht werden.4 Der Nutzen, den sich seine Söhne vom Studium der so entstandenen Sammlung erhoffen können, ist ein zweifacher. Die Beschäftigung mit den berühmten Rednern der Vergangenheit bewirkt nicht nur, wie im zweiten Teil des Abschnitts zum Ausdruck gebracht, historische Einsicht in die negative Entwicklung der Redekunst, der Seneca eine Verfallstendenz im Sinne des Dekadenzmodells5 unterstellt, sondern sie hat, gewissermaßen als positiven Ertrag, eine quantitative Ausweitung der potentiellen Vorbildautoren für den angehenden Redner zur Folge:Seneca d.Ä.contr. 1 praef. 6–7

Facitis autem, iuvenes mei, rem necessariam et utilem, quod non contenti exemplis saeculi vestri priores quoque vultis cognoscere; primum quia, quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur. non est unus, quamvis praecipuus sit, imitandus, quia numquam par fit imitator auctori. haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo. deinde, ut possitis aestimare, in quantum cotidie ingenia decrescant et nescio qua iniquitate naturae eloquentia se retro tulerit. quidquid Romana facundia habet, quod insolenti Graeciae aut opponat aut praeferat, circa Ciceronem effloruit; omnia ingenia, quae lucem studiis nostris attulerunt, tunc nata sunt. in deterius deinde cotidie data res est … (Sen. contr. 1 praef. 6–7)6

Bei Dionysios von Halikarnassos war diese quantitative Ausweitung an Vorbildautoren für die Epigonen nachklassischer Zeit die Bedingung der Möglichkeit literarischen Wettstreits mit der Vergangenheit gewesen. Auch für Seneca d.Ä. gilt es gleich einem Naturgesetz, dass der nur ein Vorbild Nachahmende dieses Vorbild nicht übertreffen kann: haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo.7 Je mehr Vorbildautoren er aber imitiert, umso sicherer kann der rednerischen Anstrengung Erfolg prognostiziert werden: quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur. Auch wenn sich Seneca d.Ä. verhaltener als Dionysios äußert, spricht aus diesen Worten doch ein grundsätzlicher Optimismus: Dem gegenwärtigen Missstand wäre eigentlich abzuhelfen.

Doch ist für Seneca d.Ä. nicht nur der Mangel an geeigneten zeitgenössischen Vorbildern verantwortlich für den Verfall, auch die Unfähigkeit zur Nachahmung seitens der jungen Redner ist ein Grund für den Abstieg. Statt sich ihre Vorbilder kreativ anzueignen, flüchte sich die jüngere Generation in plumpe Plagiate, weil sie nicht mehr über die notwendige geistige Disposition – hier mit dem von Cato d.Ä. repräsentierten Ideal der Einheit von rednerischer und moralischer Integrität bezeichnet – verfügt. Plagiate gelten demnach als Krisensymptome einer Zeit, die die ihr innewohnende rednerische Kraft nicht mehr aktualisieren kann:Seneca d.Ä.contr. 1 praef. 10

ite nunc et in istis vulsis atque epolitis et nusquam nisi in libidine viris quaerite oratores. merito talia habent exempla qualia ingenia. quis est qui memoriae studeat? quis est qui non dico magnis viribus sed suis placeat? sententias a disertissimis viris factas facile in tanta hominum desidia pro suis dicunt et sic sacerrimam eloquentiam, quam praestare non possunt, violare non desinunt. (Sen. contr. 1 praef. 10)

Wie schon bei Dionysios von Halikarnassos begegnen wir bei Seneca d.Ä. in den wenigen Paragraphen der ersten praefatio einem auffälligen Nebeneinander von „modernem“ imitatio-Begriff und „traditionellem“ Plagiatsvorwurf.

Wo ordnen sich die Stellungnahmen Senecas d.Ä. demnach in der zeitgenössischen Diskussion über die Nachahmung ein? So wie Seneca d.Ä. in contr. 1 praef. 6–7 das Thema behandelt, schließt seine Konzeption gelungener Nachahmung an die Forderungen an, wie sie von Autoren wie Dionysios von Halikarnassos formuliert worden waren: Die pessimistische Einschätzung über die Grenzen der imitatio einzelner ausgewählter Musterautoren in contr. 1 praef. 6 mündet in dieselbe Forderung nach einer Kombination der Vorbilder, wie sie bei Horaz mit der Biene, die ihren Honig aus zahlreichen Blüten sammelt, und bei Dionysios mit den Gleichnissen von der Bauersfrau und von Zeuxis ins Bild gebracht worden war, wo auch jeweils eine größere Zahl schöner Gegenstände der Betrachtung die Schönheit des natürlichen bzw. künstlerischen Produkts gewährleistet.8 Wer hingegen wie die modernen Deklamatoren aus dem Vorgegebenen nichts Neues zu schaffen weiß, übernimmt nur wörtliche Zitate und macht sich auf diese Weise des Plagiats schuldig.

Plagiate werden aber nach Seneca d.Ä. auch von Seiten des Publikums begünstigt, weil sich infolge des konstatierten Verfalls der Redekunst niemand mehr um die Ausbildung seines Gedächtnisses (memoria) kümmere und man mithin allgemein die Fähigkeit verloren habe, unlautere Übernahmen auch nur zu erkennen.9 Seneca verknüpft also Plagiats- und Dekadenzgedanken in doppelter Weise, nämlich sowohl auf der Ebene des Produzenten wie auf der Ebene des Rezipienten: Die hohe rhetorisch-literarische Bildung des Publikums zu Zeiten Ciceros war ein natürlicher Schutz gegen literarischen Diebstahl gewesen, weil man sich furta vor einer so gut informierten Zuhörerschaft nicht hätte erlauben können. Das Aufkommen der Plagiate in jüngerer Zeit wird als Symptom einer moralischen und rhetorischen Verkommenheit gewertet, die nicht nur den Plagiator kennzeichnet, sondern auch im Publikum bzw. der Gesellschaft vorliegt, dessen kritisches Vermögen so weit reduziert ist, dass es sich von Plagiatoren täuschen lässt. In suas. 2, 19 wird dieser Verfallsprozess auf Seiten des Publikums im Zusammenhang mit einem Plagiatsvorwurf gegen Abronius Silo dargestellt, der eine Sentenz seines Lehrers Latro (si nihil aliud, erimus certe belli mora) übernommen hatte:10Seneca d.Ä.suas. 2, 19

postea memini auditorem Latronis Abronium Silonem … recitare carmen, in quo agnovimus sensum Latronis in his versibus: ‘ite agite, <o> Danai, magnum paeana canentes, | ite triumphantes: belli mora concidit Hector.’ tam diligentes tunc auditores erant, ne dicam tam maligni, ut una syllaba surripi non posset; at nunc quilibet orationes in Verrem tuto dicet pro suo. (suas. 2, 19)

Früher hätte man keine Silbe unbemerkt entwenden können, während das Publikum zur Entstehungszeit der Sammlung es nicht einmal registrieren würde, wenn ein moderner Redner einen Klassiker wie Ciceros Verrinen als sein Werk ausgäbe.

Andererseits finden sich aber auch Stellen, an denen Plagiatsvorwürfe vom Publikum gegen einen Deklamator erhoben, von Seneca d.Ä. oder einem der beteiligten Sprecher hingegen nachdrücklich als ästhetisch unbegründete Wertungen zurückgewiesen werden.Seneca d.Ä.suas. 3, 7 In suas. 3, 7 berichtet Gallio davon, dass Ovid in seiner Medea einen berühmten Ausdruck Vergils (plena deo)11 verwendet habe, der zuvor schon seine Runde in den Rhetorenschulen gemacht hatte und sich großer Beliebtheit erfreute.12 Gallio muss explizit klarstellen, dass Ovid hier wie auch sonst bei seinen zahlreichen Vergilanleihen (quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat) nicht unlauter als Plagiator gehandelt habe (non subripiendi causa), sondern dass er mit der Möglichkeit der Entdeckung nicht nur gerechnet, sondern eine solche sogar gewünscht habe (sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci).

 

Ähnlich ist demnach auch der Hinweis auf Vergils Bearbeitung der zitierten Sentenz Silos in suas. 2, 20 zu deuten (s.o.). Statt wie Silo den Ausdruck belli mora aus Latro wörtlich zu übernehmen, wandelt ihn Vergil in der Rede, in der er den Unterhändler Venulus im elften Buch der Aeneis vor Latinus die Antwort des Diomedes wörtlich referieren lässt, in manu … | haesit um:

sed ut sciatis sensum bene dictum dici tamen posse melius, non †prae ceteris† quanto decentius Vergilius dixerit hoc, quod valde erat celebre, ‘belli mora concidit Hector’: ‘quidquid ad adversae cessatum est moenia Troiae, | Hectoris Aeneaeque manu victoria Graium | haesit.’ <Aen. 11, 288–290>

Der Gedanke, dass der siegreiche Ausgang des Krieges für die Griechen durch die Hand des Hektor und Aeneas verzögert wird, entspricht inhaltlich dem abstrakteren Ausdruck belli mora. Hervorzuheben ist, dass Seneca d.Ä. an Silos belli mora concidit Hector nicht wirklich etwas aussetzt: Der Ausdruck fügt sich rhetorisch wirkungsvoll in Silos Verse ein und wird kurz darauf auch als „wohlformulierte Sentenz“ (sensum bene dictum) bezeichnet. Nur die Tatsache, dass es sich um ein wörtliches Zitat handelt, wird von den Zuhörern erkannt (agnovimus): Silo setzt sich auf diese Weise dem Plagiatsvorwurf aus – den sich Seneca d.Ä. freilich nicht zu eigen macht! – und schmälert damit seine Leistung. Vergil wird als Beleg angeführt, dass man eine gelungene Vorbildstelle auch unter Vermeidung wörtlicher Übernahme in sein Werk integrieren kann, nämlich indem man den Ausdruck noch optimiert (sensum bene dictum dici tamen posse melius).13 Die Verbesserung ist darin zu sehen, dass Vergil die Drastik des Abstraktums belli mora durch den konkreten körperlichen Instrumentalausdruck manu … | haesit ersetzt und der Vorbildstelle so die Schärfe nimmt (vgl. quanto decentius Vergilius dixerit hoc).

Der Imitator ist also in zweierlei Hinsicht von seinem Publikum abhängig: Einerseits muss es literarisch hinreichend informiert sein, um das imitierte Muster erkennen zu können, andererseits muss es die Nachahmung als künstlerische Tätigkeit schätzen und nicht einfach als Plagiat abtun. Dass hier immer wieder Diskussions- und Klärungsbedarf bestand, zeigt contr. 9, 1, 12–14:14Seneca d.Ä.contr. 9, 1, 12–14 Arellius Fuscus hatte eine griechische Sentenz des Asianers Adaeus im Lateinischen nachgeahmt und dabei leicht verändert. Als ihm dies zum Vorwurf gemacht wurde, soll er entgegnet haben: do … operam, ut cum optimis sententiis certem, nec illas corrumpere conor sed vincere (contr. 9, 1, 13). Nicht Geltungssucht oder die Bequemlichkeit des Plagiators haben ihn zur Übersetzung (transtulisse … in Latinum) veranlasst, sondern die rednerische Übung (exercitatio).15 Dann verallgemeinert er: multa oratores, historici, poetae Romani a Graecis dicta non subripuerunt sed provocaverunt.16 Arellius Fuscus zitiert zum Beweis seiner Ansichten eine Sentenz des Thukydides, die Sallust imitiert und dadurch übertroffen habe, dass er ihre spezifische stilistische Qualität – die brevitas – nachzuahmen und zu steigern versuchte (in suis illum castris cecidit). Der doppelte Vorwurf, der dann im Anschluss in contr. 9, 1, 14 von Livius gegen Sallust erhoben wird, besteht einerseits darin, dass er übersetzt, andererseits, dass er stilistisch verschlechtert hat. Aus dem erstgenannten Vorwurf lässt sich ersehen: Der Übersetzer, der seine Quellen nicht kenntlich macht, handelt für Livius verwerflich. Die Argumentation des Arellius, es handle sich eben nicht um Plagiat (surripere), sondern um künstlerischen Wettstreit, will Livius nicht gelten lassen.

An einer weiteren Stelle wird deutlich, dass kleinere Korrekturen der Vorlage nicht hinreichen, um die Nachahmung gelingen zu lassen.Seneca d.Ä.contr. 10, 5, 20 In contr. 10, 5, 20 wird der Fall des Triarius berichtet, der eine griechische Sentenz des Glycon „stiehlt“ (subriperet), d.h. übersetzt, und dabei nur geringfügig ändert (ex aliqua parte … inflexit).17 Severus Cassius habe dieses Vorgehen trotz der Änderung als Plagiat bezeichnet, indem er die Deklamatoren, die so handelten, mit den Herstellern schlechter Vasenimitate verglich.18 Künstlerische Nachahmung im Sinne der imitatio erfordert demnach nicht ein notdürftiges Kaschieren einzelner Spuren der Vorlage, sondern muss in einer wirklichen Verbesserung des Modells bestehen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt kommt in contr. 7 praef.Seneca d.Ä.contr. 7 praef. 4 4 zum Tragen, wo Seneca d.Ä. vom Deklamator Albucius berichtet. Dieser Redner folgt zwar in gewisser Weise der Forderung nach der Wahl mehrerer Vorbilder (vgl. contr. 1 praef. 6), doch weist er Mängel im Bereich einer anderen Kategorie auf, nämlich beim rhetorischen iudicium. Albucius habe sich bei der Wahl seiner Vorbilder von allzu schnell gefassten Meinungen leiten lassen und schwankend im Urteil habe er einmal diesen, einmal jenen nachgeahmt: quem proxime dicentem commode audierat, imitari volebat. Das ging so weit, dass er sich sogar an Vorbilder anschloss, die jünger als er selber waren, wie etwa den Philosophen Fabianus. Als Grund macht Seneca d.Ä. also ein Defizit an Urteilsvermögen geltend (inconstantia iudicii), das bei Albucius zu der beanstandeten stilistischen Ungleichmäßigkeit führt.19

Besonders aufschlussreich für das Imitationsverständnis Senecas d.Ä. ist schließlich der bereits erwähnte plena-deo-AbschnittSeneca d.Ä.suas. 3, 4–7 suas. 3, 4–7.20 Wieder wird hier Arellius Fuscus als Beispiel für eine umstrittene Art der Nachahmung präsentiert. Diesmal gibt Seneca d.Ä. erkennbar seine Ablehnung zu erkennen: Arellius hätte Verse aus Vergils Georgica nachahmen wollen, allerdings ohne dass die Wahl dieses Vorbilds durch die Thematik der Suasorie gerechtfertigt gewesen wäre (valde autem longe petit et paene repugnante materia, certe non desiderante). Vergil dagegen hätte seine Beschreibung – es geht um die Schilderung des Mondlichts inVergilgeorg. 1, 427–433 georg. 1, 427–429 und 432–433 – zugleich einfacher (simplicius) und geglückter (beatius) in den Gang seines Gedichts integriert. Ausschlaggebend waren für Arellius Fuscus demnach nicht die inhaltlichen Erfordernisse seines Gedichts, sondern ein anderer Grund, den Seneca d.Ä. direkt im Anschluss explizit macht – er wollte Maecenas mit seinen Vergilimitationen imponieren: solebat autem Fuscus ex Vergilio multa trahere, ut Maecenati imputaret. Hier wird Arellius Fuscus also eben jene commendatio unterstellt, die er im Zusammenhang mit dem Plagiatsvorwurf in contr. 9, 1, 13 noch abgestritten hatte. Als positives Gegenbeispiel wird ihm der Deklamator Gallio gegenübergestellt, der die vergilische Phrase plena deo zwar überaus häufig, doch auch sehr geschmackvoll angewandt habe. Wie eigens vermerkt wird, habe Gallio die Phrase so verinnerlicht, dass er sie unwillkürlich und ohne es selbst zu merken in seine Rede einbaute (hoc ipsi iam tam familiare erat, ut invito quoque excideret), womit er ganz auf der Linie der von Dionysios geforderten Internalisierung der Vorbildautoren liegt.

Seneca d.Ä. gibt keinen kompakten Kriterienkatalog, der Aufschluss darüber geben könnte, was er sich konkret unter gelungener imitatio vorstellt. Er argumentiert fallgebunden, lässt in den besprochenen Beispielen aber seine Nähe zum klassizistischen Nachahmungsbegriff erkennen, der u.a. auf der internalisierten Vertrautheit mit den Musterautoren, auf der Gabe zur Kombination von Vorbildern sowie auf einer Neigung zum Wettstreit mit dem Modell beruht.21 Was die Frage nach Originalität und Plagiat betrifft, so hat man zurecht auf einen Widerspruch zwischen der dargestellten literarischen Öffentlichkeit und den eigenen Ansichten Senecas d.Ä. aufmerksam gemacht.22 Wie sich den Publikumsreaktionen entnehmen lässt, war der ästhetische Eigenwert bewusster Rückgriffe auf anerkannte Muster in der augusteischen Periode und der frühen Kaiserzeit noch in der Diskussion begriffen und musste seitens der Deklamatoren als Anspruch oft genug noch explizit formuliert und durchgesetzt werden, um sich nicht dem Vorwurf des Plagiats auszusetzen. Demgegenüber vertritt Seneca ein moderneres, an der klassizistischen Ästhetik geschultes Nachahmungsverständnis und einen entsprechend engeren Plagiatsbegriff, der sich auf unlautere Übernahmen mit der Intention zur Verschleierung und dem Wunsch nach Steigerung des persönlichen Ruhms beschränkt.

3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern nach dem Kriterium der Glaubwürdigkeit
3.2.1 Ein Urteil des Maecenas und die Kategorie der sachlichen ὑπερβολή (suas. 1, 12)

Seneca d.Ä. unterbricht zuweilen den Gang seiner Darstellung und fügt in Form von Exkursen ergänzende, thematisch zugehörige Anekdoten und kritische Einlassungen – mitunter aus dem Mund bekannter Persönlichkeiten – ein.1 Zu dieser Gruppe von Stilurteilen gehört auch der folgende Abschnitt, der von einer Homermetaphrase des griechischen Deklamators Dorion handelt. Maecenas vergleicht sie mit einer Stelle in der Aeneis, an der Vergil dieselben Homerverse imitiert, und kommt zu einem für Dorion ungünstigen Urteil. Der griechische Deklamator sei in den Stilfehler des „Schwulstes“ verfallen, wenn er Polyphem „einen Berg vom Berg abreißen“ und „eine in seiner Hand befindliche Insel <auf Odysseus> schleudern“ lässt:2

corruptissimam rem omnium, quae umquam dictae sunt ex quo homines diserti insanire coeperunt, putabant Dorionis esse in metaphrasi dictam Homeri, cum excaecatus Cyclops saxum in mare deiecit: *** haec quomodo ex corruptis eo perveniant, ut et magna et tamen sana sint, aiebat Maecenas apud Vergilium intellegi posse. tumidum est ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται. Vergilius quid ait? Rapit ‘haud partem exiguam montis.’VergilAen. 10, 128 <Aen. 10, 128> ita magnitudini [scedat] studet, <ut> non imprudenter discedat a fide. est inflatum καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος. Vergilius quid ait [qui] de navibus? ‘credas innare revolsas | Cycladas.’VergilAen. 8, 691–692 <Aen. 8, 691b–692a> non dicit hoc fieri sed videri. propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur antequam dicitur.3

Methodisch lässt sich das angewandte Verfahren etwa so beschreiben: Zwei Texte, die als Nachahmungen eines gemeinsamen Prätextes – hier nicht zitiert, sondern nur durch ein kurzes inhaltliches Resümee bestimmt – identifiziert worden sind, werden mit ihrer Vorlage verglichen. (Im konkreten Fall wird man zwischen den beiden Homerimitationen Dorions und Vergils trotz haec quomodo ex corruptis eo perveniant kein eigenes Abhängigkeitsverhältnis annehmen.4) Seneca d.Ä. bzw. Maecenas präsentiert mit Dorion5 und Vergil zwei Homernachahmer, von denen der eine der beklagten rednerischen Verfallsperiode angehört (ex quo homines diserti insanire coeperunt), der andere hingegen die Kunst der Nachahmung in exemplarischer Weise repräsentiert. Dass es sich dabei um einen griechischen Deklamator und einen lateinischen Epiker handelt, wird nicht eigens problematisiert.

Wie verhalten sich die Texte aber zu ihren jeweiligen Vorlagen? Die Zitate aus Dorions Paraphrase nehmen Bezug auf die homerische Kyklopenepisode (Od. 9, 106–566), genauer auf den Schlussteil der Erzählung, wo der geblendete Polyphem dem zu Schiff fliehenden Odysseus einen Stein nachwirft, der vor dem Schiff im Wasser auftrifft und dieses durch die entstehende Welle zur Küste zurückwirftHomerOd. 9, 481–486 (Od. 9, 481–486):6

ὣς ἐφάμην, ὁ δ’ ἔπειτα χολώσατο κηρόθι μᾶλλον· | ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο, | κὰδ δ’ ἔβαλε προπάροιθε νεὸς κυανοπρῴροιο | [τυτθόν, ἐδεύησεν δ’ οἰήϊον ἄκρον ἱκέσθαι.] | ἐκλύσθη δὲ θάλασσα κατερχομένης ὑπὸ πέτρης· | τὴν δ’ ἂψ ἤπειρόνδε παλιρρόθιον φέρε κῦμα, | πλημυρὶς ἐκ πόντοιο, θέμωσε δὲ χέρσον ἱκέσθαι.7

(„So sprach ich. Doch der ergrimmte darauf noch mehr im Herzen, riss ab die Kuppe von einem großen Berge, schleuderte sie, und nieder schlug sie vorn vor dem Schiff mit dem dunklen Bug. Da wallte das Meer auf unter dem herniederfahrenden Felsen, und zurück zum Lande trug es die rückbrandende Woge, die Flutwelle aus dem Meer, und versetzte es, dass es an das trockene Land gelangte.“ ÜS Schadewaldt)

 

Seneca d.Ä. bzw. Maecenas erkennt – ohne dass der homerische Prätext zitiert wird – in der vergilischen Formulierung haud partem exiguam montis (Aen. 10, 128a) eine Imitation von ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο (Od. 9, 481).8 Bei Vergil ist es der Lyrnesier Acmon, also ein Trojaner und Gefährte des Aeneas, der den schweren Stein hebt, um das Lager gegen die belagernden Rutuler zu verteidigen. Der Unterschied zu Dorions Ausdruck ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται liegt darin, dass Vergil zwar die Größe des in die Höhe gewuchteten Felsblocks durch die Nennung des Berges betont, gleichzeitig – und im Unterschied zu Dorion – aber der Wahrscheinlichkeit Rechnung trägt, indem er Acmon nur einen Teil eines Berges tragen lässt. Diese beiden Punkte hebt Maecenas hervor, wenn er das Streben nach magnitudo9 anerkennt, gleichzeitig aber die fides gewahrt sieht.

Der Bezug des zweiten Vergilzitats (Aen. 8, 691–692: pelago credas innare revulsas | Cycladas) zu Homer ist weniger deutlich. Die Stelle entstammt der Schildbeschreibung (Aen. 8, 626–728), die das achte Buch der Aeneis abschließt. Im zentralen Bereich des Schildes ist die Seeschlacht bei Actium dargestellt (Aen. 8, 675–713), bei der Octavian und Agrippa ihre Gegner Antonius und Kleopatra überwältigen. Beide Parteien benutzen Schiffe, auf denen hohe, turmartige Aufbauten angebracht sind.10 Die Vorstellung von den hoch aufgeführten Schiffstürmen veranlasst Vergil, sie mit den Kykladen (pelago credas innare revolsas | Cycladas) und – in einer allgemeineren Wendung – mit hohen Bergen (aut montis concurrere montibus altos) zu vergleichen. Vergils Vergleich hebt also auf die Höhe der Substruktionen ab – obwohl die Höhe nur selten als besondere Qualität der Inselgruppe genannt wird.11 Eine direkte Verbindung zu den zitierten Homerversen lässt sich hier jedoch nicht herstellen. Das Verbindungsglied ist vielmehr Dorions Metaphrase: Mit καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος wird der vom Kyklopen geworfene Fels mit einer Insel gleichgesetzt, um seine gewaltige Größe zu kennzeichnen. Vergil wählt ebenfalls den Vergleich mit einer Insel, allerdings um die Größe der Schiffe vor Actium zu bezeichnen.

Vor welchem Hintergrund trifft Seneca d.Ä. bzw. Maecenas aber nun sein stilkritisches Urteil, wenn er die fragmentierten Wendungen des Dorion, die er zitiert, als tumidum bzw. inflatum bezeichnet? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage den stilkritischen Kontext, in dem die homerische Kyklopenepisode steht, um die spezifischen Herausforderungen, die sich einem Homernachahmer hier stellten, näher zu bestimmen.Demetrioseloc. 115

Der Passus über den frostigen Stil (τὸ ψυχρόν) aus der Schrift περὶ ἑρμηνείας, die unter dem Namen des Demetrius überliefert ist und meist ins 1. Jhdt. v. bzw. n. Chr.12 datiert wird, führt bei der theoretischen Standortbestimmung weiter. Für Demetrios ist der frostige Stil als korrespondierende Fehlausprägung zum erhabenen Stil (χαρακτὴρ μεγαλοπρεπής)13 entsprechend in drei Bereiche zu unterteilen, nämlich in ‘Frostigkeit’ hinsichtlich der Gedanken (διάνοια)14, hinsichtlich der Wortwahl (λέξις)15 und hinsichtlich der Wortfügung (σύνθεσις)16. Um seine Ausführungen zum ψυχρόν im Bereich der διάνοια zu belegen, wählt Demetrios ein Beispiel, das den bei Seneca d.Ä. zitierten Wendungen des Dorion auffallend ähnelt:

Γίνεται μέντοι καὶ τὸ ψυχρὸν ἐν τρισίν, ὥσπερ καὶ τὸ μεγαλοπρεπές. ἢ γὰρ ἐν διανοίᾳ, καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κύκλωπος λιθοβολοῦντος τὴν ναῦν τοῦ Ὀδυσσέως ἔφη τις· φερομένου τοῦ λίθου αἶγες ἐνέμοντο ἐν αὐτῷ. ἐκ γὰρ τοῦ ὑπερβεβλημένου τῆς διανοίας καὶ ἀδυνάτου ἡ ψυχρότης. (Demetr. eloc. 115 = 28, 3–7 Radermacher.)

(„Der frostige Stil entsteht aus drei Ursachen, wie auch der hohe. Die eine liegt im Gedanken, so wie einer bei der Beschreibung des Kyklopen, der Steine auf das Schiff des Odysseus wirft, gesagt hat: ‘Während der Stein flog, weideten noch Ziegen darauf.’ Die Frostigkeit entsteht auch durch den übertriebenen Gedanken und das Unmögliche.“)

Man hat wegen der inhaltlichen Nähe sogar angenommen, dass es sich bei den von Demetrios angeführten Worten um ein weiteres Zitat aus Dorions Homermetaphrase handelt.17 Die Darstellung von sachlich nicht nachvollziehbaren und somit unglaubwürdigen Begebenheiten – wie hier der Vorstellung, der vom Kyklopen geworfene Stein sei so groß gewesen, dass noch Ziegen darauf weiden konnten – wird bei Demetrios jedenfalls für die besagte ‘frostige’ Wirkung verantwortlich gemacht.Demetrioseloc. 124–127

Bei den anschließenden Ausführungen zur Übertreibung (ὑπερβολή) in eloc. 124–127 = 29, 25–30, 14 Radermacher wird dem Aspekt des ἀδύνατον dann sein systematischer Ort zugewiesen: Die Hyperbole hält Demetrios für die schlimmste Ausprägung des frostigen Stils, und macht für sie neben dem Vergleich (καθ’ ὁμοιότητα; Bsp.: Il. 10, 437: θείειν δ’ ἀνέμοισιν ὁμοῖοι „im Lauf wie die Winde“) und der Überbietung (καθ’ ὑπεροχήν; Bsp.: Il. 10, 437: λευκότεροι χιόνος „weißer als Schnee“) das besagte Unmögliche (κατὰ τὸ ἀδύνατον; Bsp.: Il. 4, 443: οὐρανῷ ἐστήριξε κάρη καὶ ἐπὶ χθονὶ βαίνει „sie stemmte das Haupt gegen den Himmel“) als Quelle aus.18

Was hat man sich unter der Darstellung unmöglicher Sachverhalte genau vorzustellen und welcher Stellenwert kommt diesen ἀδύνατα in der epischen Dichtung zu? Ein Abschnitt in der Poetik des Aristoteles gibt hier nähere Auskunft. Bekanntlich entwickelt Aristoteles seine Theorie vom Epos, indem er sie kontrastiv der zuvor dargelegten Tragödientheorie gegenüberstellt und besonders auf die Unterschiede der beiden Dichtungsformen eingeht.Aristotelespoet. 1460a11–b2 Eine der sechs Hauptunterschiede besteht in der Verwendung des Wunderbaren (τὸ θαυμαστόν)19, für das er das Ungereimte (τὸ ἄλογον) als Hauptquelle identifiziert.20 Für Aristoteles gilt die anthropologische Grundannahme, dass das Wunderbare Gefallen erregt.21 Im neunten Kapitel hatte er ausgeführt, dass der Tragödiendichter seine bekannten Wirkungsabsichten vor allem durch überraschende Handlungsverläufe erreichen kann, wobei die innere Logik der handelnden Charaktere, d.h. die Wahrscheinlichkeit, gewahrt bleiben muss. Das ist ein Hinweis auf die Funktion, die dem θαυμαστόν zugewiesen wird: Das Wunderbare soll die Aufmerksamkeit des Publikums erwecken, um dem gewünschten psychologischen Effekt zu umso größerem Durchschlag zu verhelfen.22 Wenn Aristoteles nun auf das Staunenswerte im Epos zu sprechen kommt, so geht es ihm nicht um diese eindeutig als positiv gewerteten überraschenden Handlungsverläufe, sondern um tatsächliche logische Inkonsistenzen, die aber um ihrer Wirkung willen erlaubt sind und denen er besonders in der epischen Dichtung einen Platz einräumt, weil der epische Dichter nicht auf die besonderen realistischen Erfordernisse des Bühnengeschehens Rücksicht zu nehmen hat.23 Im Epos hat das Widersprüchliche seinen Platz, insofern es nur die beabsichtigte überraschende Wirkung erreicht. Aristoteles zitiert einige Beispiele für Inkonsistenzen im Drama und im Epos, u.a. aus der Odyssee.24 Als wichtigstes Kriterium gilt dabei, dass der epische Dichter den Eindruck der Wahrscheinlichkeit erweckt, auch wenn er – was Aristoteles freilich eigentlich ablehnt – eine inkonsistente Handlungsabfolge konstruiert hat.25

Eng mit der Frage, welche sachlichen Unstimmigkeiten ein Dichter in Kauf nehmen darf, hängt die Vorstellung zusammen, dass der Poesie anders als etwa der Geschichtsschreibung eine besondere Freiheit (ποιητικὴ ἐξουσία) zustände.26IsokratesEuag. 9–10 Die Idee ist bereits bei Isokrates zum Ausdruck gebracht, der im Euagoras die Unterschiede zwischen Prosaautoren und Dichtern sowohl auf der Ebene der Gedanken – Gegenstand der Dichtung sind etwa die Handlungen der Götter – wie auch auf der der Sprache festmacht: Den Dichtern werden auf beiden Gebieten Sonderrechte zugestanden.27 Der Terminus ποιητικὴ ἐξουσία bzw. ἄδεια wird zwar meist gebraucht, um morphologische oder stilistische Idiosynkrasien zu bezeichnen.28 Doch beruft man sich auch auf ποιητικὴ ἐξουσία, wenn es gilt, sachliche Ungenauigkeit oder Widersprüche bei Dichtern zu entschuldigen. Polybios etwa unterscheidet in dem bei Strabo 1, 2, 17 überlieferten Fragment zwischen μεταβολή (zufällig unterlaufene Vertauschung), ἄγνοια (Unkenntnis) und ποιητικὴ ἐξουσία (bewusst in Anspruch genommene dichterische Freiheit), um sachliche Ungereimtheiten bei Dichtern zu erklären.29 Auch andere Ausdrücke in den Scholien verweisen auf Erklärungen dieser Art, wie etwa der Hinweis auf ποιητικὴ ἀρεσκεία oder darauf, dass der Dichter etwas κατ’ ἐπιφοράν („ohne ersichtlichen Grund“) gesagt habe.