Homer und Vergil im Vergleich

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Ein aufschlussreiches Beispiel für einen Fall von dichterischer Lizenz – ebenfalls in der homerischen Kyklopenepisode – gibt die Diskussion über die IterataHomerOd. 3, 72–74 Od. 3, 72–74 undHomerOd. 9, 253–255 Od. 9, 253–255. Aristarch begründete seine Entscheidung, die zweite Stelle als ursprünglich homerisch anzuerkennen und deshalb allein in den Text aufzunehmen gegen Aristophanes von Byzanz mit dem Argument, dass die Worte Nestors, der Telemachos und Peisistratos gefragt hatte, ob sie etwa Piraten seien, entgegen der Meinung des Aristophanes nicht in den Kontext von Od. 3 passten. Bei der zweiten Stelle hingegen ergäben sich zwar auf den ersten Blick einige Widersprüche, doch müsse man dabei die Freiheit des Dichters in Rechnung stellen und die Verse anerkennen:

ὁ δὲ Ἀρίσταρχος οἰκειότερον αὐτοὺς τετάχθαι ἐν τῷ λόγῳ τοῦ Κύκλωπός φησιν· οὐδὲ γὰρ νῦν οἱ περὶ Τηλέμαχον λῃστρικόν τι ἐμφαίνουσι. δοτέον δέ – φησί – τῷ ποιητῇ τὰ τοιαῦτα· καὶ γὰρ ναῦν αὐτὸν παράγει εἰδότα, “ἀλλά μοι εἴφ’ ὅπη ἔσχες ἰὼν εὐεργέα νῆα” [ι 279], καὶ συνίησιν Ἑλληνίδα φωνήν. (schol. DHMa ad Od. 3, 71a = II 30, 6–10 Pontani)

(„Aristarch aber sagt, dass man sie passender in die Rede des Kyklopen einfügt. Hier nämlich erwecken Telemachos und seine Gefährten nicht den Anschein, als wären sie Piraten. Er sagt, man müsse dem Dichter das zugestehen: Er lässt ihn ja auch das Schiff kennen, ‘Sage mir aber, wo du dein gut gebautes Schiff hast’, und er versteht die griechische Sprache.“)

Daneben kann sich die Freiheit des Dichters auch auf weitere Bereiche beziehen, etwa auf die Möglichkeit, tradierte Mythen abzuwandeln und den Erfordernissen der eigenen Dichtung anzupassen, oder auf eine spezifische Freizügigkeit, wenn sich der Dichter an die Götter wendet.30 Die zahlreichen diesbezüglichen Scholiennotizen und das breite Anwendungsfeld der Kategorie der dichterischen Freiheit dürfen dabei aber nicht den Eindruck erwecken, dass den Dichtern tatsächlich alles erlaubt war. Die Zeugnisse geben vielmehr zu erkennen, dass die Grenzen der Freiheit dichterischer Darstellung ein notorisches Thema kritischer Diskussionen war: Nicht alles war den Dichtern erlaubt und das Diktum des Eratosthenes ἀλλ’ ἔξεστι πλάττειν τοῖς ποιηταῖς ἅ βούλονται („und die Dichter dürfen gestalten, was sie wollen“)31 darf – wie auch aus den gleich zu zitierenden Stimmen zur homerischen Kyklopenszene zu ersehen – nicht als repräsentativ für die antike Literaturkritik angesehen werden.32

Auch in der Kyklopenepisode in der Odyssee wurde nämlich eine stilistische Entgleisung hinsichtlich der Plausibilität der Handlung diagnostiziert. Am deutlichsten stellt Hermogenes, der Autor verschiedener Schriften über Teilgebiete der Rhetorik33, in seinem Traktat περὶ εὑρέσεως im Kapitel über das κακόζηλον34 die Anstößigkeit des Kyklopensteinwurfs in Od. 9, 481 heraus – und belegt dabei gleichzeitig die Popularität und Exemplarität der Verse als Schulbeispiel für eine unrealistische Darstellung. Das Hauptproblem ist demnach darin zu sehen, dass die Darstellung durch ihre Übertreibungen unglaubwürdig (ἄπιστον) wird. Hermogenes gibt verschiedene Gründe an, warum man eine Stelle als κακόζηλον verwerfen konnte:Hermogenesinv. 4, 12

Τὸ δὲ κακόζηλον γίνεται ἢ κατὰ τὸ ἀδύνατον ἢ κατὰ τὸ ἀνακόλουθον, ὃ καὶ ἐναντίωμά ἐστιν, ἢ κατὰ τὸ αἰσχρὸν ἢ κατὰ τὸ ἀσεβὲς ἢ κατὰ τὸ ἄδικον ἢ κατὰ τὸ τῇ φύσει πολέμιον, καθ’ οὓς τρόπους καὶ ἀνασκευάζομεν μάλιστα τὰ διηγήματα ἐκβάλλοντες ὡς ἄπιστα. (Hermog. inv. 4, 12 = 202, 4–8 Rabe)

(„Der Stilfehler [τὸ κακόζηλον] entsteht entweder durch die Darstellung von Unmöglichem [τὸ ἀδύνατον] oder von Unzusammenhängendem [τὸ ἀνακόλουθον], was dann auch ein Widerspruch [τὸ ἐναντίωμα] ist, oder durch die Darstellung von etwas Hässlichem [τὸ αἰσχρὸν] oder etwas Gottlosem [τὸ ἀσεβὲς] oder von etwas Unrechtem [τὸ ἄδικον] oder von etwas, das der Natur widerspricht [τὸ τῇ φύσει πολέμιον]. Diesen Gesichtspunkten folgend verwerfen wir bestimmte Erzählungen, indem wir sie als unglaubhaft aussondern.“)

Der zuletzt genannte Vorwurf der Unglaubwürdigkeit dichterischer Darstellung ist für Hermogenes der entscheidende: Das Kriterium der Plausibilität (τὸ εἰκός) erlaubt ein Urteil darüber, ob eine dichterische Unternehmung (διασκευή) als akzeptabel gewertet werden kann oder nicht.35

Um einen gewagteren, die Grenzen der Glaubwürdigkeit überschreitenden Gedanken dennoch zu formulieren, aber zugleich dem Vorwurf des κακόζηλον zu entgehen, schlägt Hermogenes als Strategie die Vorbereitung (προκατασκευή bzw. προθεραπεία) durch den Dichter vor:Hermogenesinv. 4, 12

Ἰστέον μέντοι, ὅτι τὰ κακόζηλα ἔστι πολλάκις ἰᾶσθαι τῇ προκατασκευῇ καὶ προθεραπείᾳ· τὰ γὰρ προμαλαχθέντα τῇ ἑρμηνείᾳ νοῦν εἰσάγει, ὅθεν καὶ τὸ τόλμημα προσδοκᾶται τοῖς ἀκούουσιν, ὃ καὶ πρὶν λεχθῆναι ἀσφαλὲς εἶναι δοκεῖ, γυμνὸν δ’ ἂν τεθῇ πρὸ τῆς κατασκευῆς τοῦ λόγου, κακόζηλον ἔδοξεν ἢ τῷ νῷ ἢ τῷ λόγῳ. (Hermog. inv. 4, 12 = 202, 16–203, 1 Rabe)

(„Man muss freilich wissen, dass Stilfehler [κακόζηλα] häufig durch Vorbereitung [προκατασκευή] und Vorsorge [προθεραπεία] geheilt werden: Was nämlich durch die Wortwahl vorher abgeschwächt wurde, erregt einen Gedanken, von dem seitens der Hörer ein Wagnis erwartet wird, das, noch bevor es ausgesprochen wurde, den Anschein der Glaubwürdigkeit erweckt, wenn es aber ungeschützt gesagt wurde, bevor noch die Rede entsprechend ausgerüstet wurde, so erscheint es entweder als gedankliches oder sprachliches κακόζηλον.“)

Um dies zu illustrieren, zitiert Hermogenes die Kyklopenepisode aus der Odyssee:

καὶ σκόπει, πῶς καὶ Ὅμηρος ἐποίησεν· ὡς γὰρ λέξειν ἔμελλεν: ‘ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο’ <Od. 9, 481>, φοβούμενος τούτου τὸ ἀδύνατον προκατασκευάζει τοιοῦτον ἄνδρα τῷ λοιπῷ διηγήματι, ὡς μηδὲ τὸν περὶ τούτου λόγον ἄπιστον καταστῆναι λεχθέντα, τῷ τε τροφὰς αὐτῷ παραθεῖναι μείζονας ἢ κατὰ ἄνθρωπον τῷ τε ἀποδοῦναι αὐτῷ ῥόπαλον βαστάζειν, οἷον οὐκ ἄνθρωπος, καὶ λίθον καὶ τῷ τὴν ἰδέαν αὐτοῦ διελθεῖν ὡς μεγάλην καὶ φοβερὰν καὶ τῷ εἰπεῖν ‘οὐδὲ ἐῴκει | ἀνδρί γε σιτοφάγῳ, ἀλλὰ ῥίῳ ὑλήεντι’ <Od. 9, 190–191>· πάντες γὰρ οἱ περὶ τούτου προγυμνασθέντες λόγοι πιστὸν ἐποίησαν εἶναι δοκεῖν τὸ παράδοξον τὸ περὶ τοῦ Κύκλωπος ῥηθὲν τὸ ‘ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο’ <Od. 9, 481>· εἰ γὰρ καὶ τοιοῦτος ἦν, οἷον αὐτὸν προκατεσκεύαζεν, οὐδὲν ἦν τὸ καὶ τοιοῦτον αὐτὸν ποιῆσαι δυνηθῆναι. (Hermog. inv. 4, 12 = 203, 1–18 Rabe)

(„Und schau, wie auch Homer das bewerkstelligt hat. Er wollte nämlich sagen ‘er riss ab die Kuppe von einem großen Berg’, fürchtete aber die Unmöglichkeit dabei und leitete deshalb in der restlichen Erzählung auf einen solchen Mann hin, sodass das, was über ihn gesagt wurde, nicht unglaubwürdig würde, indem er ihm nämlich Nahrung zuwies, die über das Menschenmaß ging, und indem er ihn eine Keule tragen ließ, die kein Mensch tragen könnte, und einen Stein, und indem er seine Gestalt als groß und furchteinflössend beschrieb, und indem er sagte: ‘und er glich nicht einem brotessenden Manne, sondern einer bewaldeten Felsenkuppe’. Alle diese vorbereitenden Reden aber über ihn bewirkten, dass das Paradoxon, das vom Kyklopen ausgesagt wurde, nämlich ‘er riss ab die Kuppe von einem großen Berg’, glaubhaft erscheine. Wenn er nämlich so war, wie er ihn vorbereitend geschildert hatte, so war es für ihn ein Leichtes, etwas von dieser Art tun zu können.“)

Vorbereitung durch den Dichter – Hermogenes verwendet nicht den üblichen Terminus προδιόρθωσις36 – kann also dem Eindruck mangelnder Glaubhaftigkeit vorbeugen.37 Eben diese vorbereitende Strategie identifiziert nun ein Scholion zuHomerOd. 9, 187 Od. 9, 187, wo eine Beschreibung des Kyklopen gegeben wird:

ἔνθα δ’ ἀνὴρ] εἰκότως προσυνίστησι τὸ μέγεθος, ἵνα ἀξιόπιστος φανῇ τὰ <Od. 9, 287–293> δύο σώματα σιτούμενος. πλείστας δὲ παραβολὰς ποιεῖται τοῦ μεγέθους αὐτοῦ. διὸ καὶ ὄρει ἄνθρωπον εἴκασεν ὡς ὑπερβάλλοντα παντὸς ζῴου μέγεθος, καὶ οὐδ’ ὄρει ἁπλῶς, ἀλλὰ <Od. 9, 191> ῥίῳ ὑλήεντι, ὅ ἐστιν ὄρει τῷ ὑψηλοτέρῳ καὶ τούτῳ ὑλήεντι. τοῦτο δέ ἐστιν ὑπερβολὴ ὑπερβολῆς. (schol. Q ad Od. 9, 187 = 421, 10–15 Dindorf)

(„Seine Größe stellt er im Voraus dar, wobei er Wahrscheinlichkeit erzeugt, nämlich damit es glaubwürdig erscheint, dass er zwei Menschenleiber frisst. Die meisten Gleichnisse macht er bezüglich der Größe. Deswegen vergleicht er auch einen Menschen mit einem Berg, weil er die Größe jedes Lebewesens übertrifft, und nicht einfach mit einem Berg, sondern mit einem bewaldeten Gipfel, also mit einem höheren und bewaldeten Berg. Das ist die Übertreibung der Übertreibung.“)38

Homer hat demnach den an sich anstößigen, weil unrealistischen Gedanken vom losgerissenen Berggipfel durch den Gang der Erzählung und die vorbereitenden Schilderungen des Kyklopen, die dem Publikum die übermenschliche Kraft Polyphems eindrucksvoll vor Augen gestellt hatten, erträglich gemacht.39 Das war möglich, weil Homer sein Kyklopenabenteuer in einem langen, beinahe das ganze neunte Buch der Odyssee umfassenden Narrativ entwickelt. Bei der ersten von Seneca d.Ä. bzw. Maecenas zitierten Vergilstelle stellen sich die Dinge hingegen anders dar: Acmon ist eine Nebenfigur, außer den wenigen in Aen. 10, 127–129 gegebenen Information erfahren wir nichts weiter von ihm – eine umständliche Vorbereitung wie bei Homer war hier nicht möglich. Vergil musste den hyperbolischen Gedanken durch die Litotes haud partem exiguam montis abschwächen, um dem Vorwurf eines Stilfehlers zu entgehen.

Dass auch bei der zweiten von Seneca d.Ä. bzw. Maecenas zitierten Vergilstelle eine stilistische Steigerung vorliegt, wurde schon in der Antike vermerkt. Quintilian zitiertQuintilianinst. 8, 6, 68 in inst. 8, 6, 68 die Verse Aen. 8, 691–692 als Beispiel für eine Hyperbel (= decens veri superiectio; vgl. Quint. inst. 8, 6, 67), ohne dass er dabei aber einen negativen Hyperbelbegriff zugrundelegt.40 Auch bei Quintilian wird die fides, die Wirklichkeitstreue, als die sensible Bezugsgröße eingeführt, gegen die die Hyperbel tendenziell verstößt.41 Ähnlich wie Seneca d.Ä., der eigens hervorhebt, dass es sich bei den Schiffen nicht tatsächlich um Inseln gehandelt habe und Vergil die imaginäre Qualität seines Vergleichs durch credas hinreichend markiert habe, ordnet Quintilian die Vergilstelle in seiner Typologie der Formen der Hyperbel der Kategorie per similitudinem zu und bringt damit zum Ausdruck, dass der Gleichniswert des Bildes erhalten bleibt.42 Seneca d.Ä. bzw. Maecenas hingegen verteidigt Vergil mit dem Hinweis auf die legitime Strategie der προδιόρθωσις, wenn er in credas eine Vorbereitung des Hörers auf einen unter handlungslogischen Gesichtspunkten problematischen, hinsichtlich seiner Wirkung aber effektvollen Gedanken erkennt: propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur antequam dicitur.

 

3.2.2 Ein Urteil Ovids und die Kategorie der psychologischen πιθανότης (contr. 7, 1, 27)

Seneca d.Ä. gibt keine systematische Übersicht über die Kriterien gelungener Nachahmung, sondern legt seinen Söhnen die ästhetischen Grundbegriffe, denen er folgt, anhand von Einzelbeispielen dar. Vergil wird dabei durchweg als stilistisches Muster vorgestellt, der die Kunst der Nachahmung in vorbildhafter Weise repräsentiert.1 So auch in contr. 7, 1, 27, wo der von Seneca d.Ä. hoch geschätzte Julius Montanus auf eine Vergilimitation des Cestius zu sprechen kommt. Zwar handelt es sich hierbei nicht um einen Homer-Vergil-Vergleich im engeren Sinne, doch sind, wie noch zu zeigen sein wird, das homerische Modell und die daran anschließenden kritischen Diskussionen bei den besprochenen Texten präsent, sodass eine Behandlung in unserem Zusammenhang geboten erscheint.

In contr. 7, 1 verlangte der Fall die Schilderung einer nächtlichen Meeresszenerie.2 Cestius3 hatte sich daran versucht, doch mangelte es dem Deklamator, der kein lateinischer Muttersprachler war, nach dem Urteil Senecas d.Ä. an der copia verborum.4 Dieser Umstand hinderte seinen Redefluss insbesondere dann, wenn er sich mit den großen literarischen Vorbildern messen wollte. In contr. 7, 1, 27 wird dies an einem Beispiel vorgeführt. Cestius schildert in einer narratio die Stille der Nacht: nox erat concubia, et omnia luce canentia <sub> sideribus muta erant („Tiefe Nacht war, und alles, was bei Tageslicht sang, schwieg <unter> den Sternen.“). Julius Montanus, selbst ein gewandter Dichter tiberischer Zeit und Verehrer Vergils,5 erkennt darin die Nachahmung einer Passage im achten Buch der Aeneis (Aen.VergilAen. 8, 26–27 8, 26–27). Ein stilistisches Urteil des Julius Montanus findet sich bei Seneca d.Ä. nicht, doch zeigt die einleitende Partikel des Folgesatzes at, dass Montanus die Nachahmung des Cestius für misslungen hält. Vergil habe in den zitierten Versen nämlich ebenfalls einen Dichter imitiert, dabei jedoch weit mehr Erfolg als Cestius gehabt. Als Vorbild Vergils gibt Julius Montanus einen Abschnitt aus den Argonautae des P. Terentius Varro Atacinus an.6 Der Passus schließt ab mit einem Verbesserungsvorschlag, den Ovid zur zitierten Varrostelle gemacht hat:

Soleo dicere vobis Cestium Latinorum verborum inopia <ut> hominem Graecum laborasse, sensibus abundasse; itaque, quotiens elatius aliquid describere ausus est, totiens substitit, utique cum se ad imitationem magni alicuius ingeni derexerat, sicut in hac controversia fecit. nam in narratione, cum fratrem traditum sibi describeret, placuit sibi in hac explicatione una et infelici: ‘nox erat concubia, et omnia luce canentia <sub> sideribus muta erant.’ Montanus Iulius, qui comes fuit <Tiberii>, egregius poeta, aiebat illum imitari voluisse Vergili descriptionem: ‘nox erat et terras animalia fessa per omnis | alituum pecudumque genus sopor altus habebat.’ <Aen. 8, 26–27> at Vergilio imitationem bene cessisse, qui illos optimos versus Varronis expressis<set> in melius: ‘desierant latrare canes urbesque silebant; | omnia noctis erant placida composta quiete.’ <Varro At. carm. frg. 8 FPL4> solebat Ovidius de his versibus dicere potuisse longe meliores, si secundi versus ultima pars abscideretur et sic desineret: ‘omnia noctis erant.’ Varro quem voluit sensum optime explicuit; Ovidius in illius versu suum sensum invenit. aliud enim intercisus versus significaturus est, aliud totus significat.

Gewöhnlich wird Ovids Vorschlag, den zweiten Halbvers bei Varro zu streichen, mit Verweis auf die auf diese Weise erzielte brevitas (= durch Kürzung verstärkte stilistische Prägnanz) erklärt.7 Zweifel an dieser einfachen Erklärung weckt aber schon die Präsentation durch Seneca d.Ä., der als unterscheidendes Merkmal zwischen Varro und Ovid herausstellt, dass in den beiden Versionen jeweils ein anderer Gedanke zum Ausdruck gebracht wird (Varro quem voluit sensum optime explicuit; Ovidius in illius versu suum sensum invenit). Seneca d.Ä. bescheinigt Ovid also geradezu das Gegenteil, nämlich den stilistisch gelungenen Ausdruck eines anderen Gedankens (optime explicuit). Lassen sich also alternativ anstelle der bislang vermuteten stilistischen auch sachliche Gründe für die Änderung ausmachen? Um dieses Frage zu beantworten, sind die Prätexte, auf die Varro und Vergil bei ihren Nachtschilderungen zurückgreifen – insbesondere Apollonios und Homer – und die Zeugnisse für die daran anschließende kritische Diskussion heranzuziehen. Auch hier wird eine präzise definierbare und bereits in der Antike reflektierte Schwachstelle in den Vorlagen auszumachen sein, welche eine genauere Bestimmung der ästhetischen Herausforderung, der sich die Imitatoren jeweils gegenübersahen, und einen besseren Nachvollzug ihrer Entscheidungen erlaubt.

Zunächst ist von der Vorlage Varros, der entsprechenden Stelle in den Argonautika des Apollonios Rhodios, auszugehen und zu ermitteln, welchen dichterischen Erfordernissen der hellenistische Epiker bei seiner Nachtschilderung zu genügen hatte. Apollonios’ Darstellung lässt den Einfluss der kritischen Auseinandersetzung mit bestimmten homerischen Nachtszenen, nämlich mit denen am Beginn des zweiten und zehnten Buches der Ilias, erkennen. Doch betrachten wir zunächst die Schilderung des Apollonios im ZusammenhangApollonios3, 744–748 (Apoll. Rhod. 3, 744–748):

νὺξ μὲν ἔπειτ᾽ ἐπὶ γαῖαν ἄγεν κνέφας: οἱ δ᾽ ἐνὶ πόντῳ | ναῦται εἰς Ἑλίκην τε καὶ ἀστέρας Ὠρίωνος | ἔδρακον ἐκ νηῶν: ὕπνοιο δὲ καί τις ὁδίτης | ἤδη καὶ πυλαωρὸς ἐέλδετο: καί τινα παίδων | μητέρα τεθνεώτων ἀδινὸν περὶ κῶμ᾽ ἐκάλυπτεν: | οὐδὲ κυνῶν ὑλακὴ ἔτ’ ἀνὰ πτόλιν, οὐ θρόος ἦεν | ἠχήεις, σιγὴ δὲ μελαινομένην ἔχεν ὄρφνην …

(„Die Nacht nun brachte Dunkelheit über die Erde, und die Seeleute auf dem Meer blickten von ihren Schiffen zum Großen Bären und zum Sternbild des Orion; auf Schlaf hoffte auch schon mancher Wanderer und Türhüter; selbst manche Mutter, deren Kinder gestorben waren, umfing tiefer Schlaf. Auch Hundegebell war in der Stadt nicht mehr zu hören, und auch kein Geräusch von Stimmen: Schweigen herrschte in dem schwärzer werdenden Dunkel.“ ÜS Glei/Natzel-Glei)

Im zitierten Passus werden, bevor die Sprache auf Medea selbst kommt, eine Reihe von Personengruppen genannt, die nachts keine Ruhe finden. Es scheint, dass Apollonios schrittweise von der sorgsamen Wachsamkeit der Seeleute über die Schläfrigkeit der Wanderer und Türhüter zu den „vom Schlaf eingehüllten“ Müttern, die ihre Kinder verloren haben, fortschreitet, das allmähliche Einschlafen der ganzen Welt also dichterisch nachzuvollziehen versucht.8 Alle, die zuvor noch von Sorgen gequält waren, umfängt nach und nach tiefer Schlaf; nur Medea, die kontrastiv am Ende der Reihe steht, bleibt wach. Apollonios verleiht mit dieser narrativ steigernd strukturierten Darstellung den Sorgen der Verliebten besonderen Nachdruck: Das nächtliche Schweigen hat eine solche Gewalt9, dass ihm eigentlich niemand widerstehen kann. Medea hingegen ist von einer solchen inneren Unruhe gequält, dass sie sogar der Macht des Schlafes standhält.

Wie aber sind das Schlafen der Vielen und das Wachen des Einzelnen zu bewerten? Wenn Schlaf in Situationen geschildert wird, in denen sich die Ruhe wegen einer drohenden Gefahr o.ä. eigentlich verbietet, so provoziert dies vor allem zwei Reaktionen seitens der antiken Kritiker: Entweder sie tadeln auf der Handlungsebene die schlafenden Personen selbst, indem sie ihnen Vorhaltungen wegen ihres unpassenden Verhaltens machen, oder sie kritisieren den Dichter, der seinem Publikum eine psychologisch unglaubwürdige Darstellung zumutet. Beide Formen der Kritik begegnen in den antiken Homerkommentaren – entweder als explizit geäußerter Tadel oder implizit in Form einer Verteidigung Homers gegen bestimmte Vorwürfe – im Zusammenhang mit Szenen, die sich im weiteren Sinne als Vorlagen für die Nachtschilderungen bei Apollonios, Varro und Vergil auffassen lassen.

Kritik an den handelnden Figuren findet sich in einer Kommentarnotiz zuHomerIl. 2, 1–4 Il. 2, 1–4, wo nach der Auseinandersetzung zwischen Hera und Zeus, die den Abschluss des ersten Buches der Ilias bildet, der Schlaf der Götter und Menschen geschildert wird:

Ἄλλοι μέν ῥα θεοί τε καὶ ἀνέρες ἱπποκορυσταὶ | εὗδον παννύχιοι, Δία δ’ οὐκ ἔχε νήδυμος ὕπνος, | ἀλλ’ ὅ γε μερμήριζε κατὰ φρένα ὡς Ἀχιλῆα | τιμήσῃ, ὀλέσῃ δὲ πολέας ἐπὶ νηυσὶν Ἀχαιῶν.10

(„Da schliefen die anderen Götter und die pferdegerüsteten Männer | Die ganze Nacht. Aber den Zeus hielt nicht der süße Schlaf, | Sondern er überlegte in seinem Sinn, wie er den Achilleus | Ehre und viele der Achaier verderben sollte bei den Schiffen.“ ÜS Schadewaldt)

Im ersten Buch wird zwar keine akute Bedrohung durch den Krieg beschrieben. Dennoch findet der Schlaf der Krieger – die Götter bleiben von der Kritik ausgenommen – den Tadel der Philologen:

ἱπποκορυσταί] οὓς ἀγρυπνεῖν ἔδει διὰ τὴν τοῦ πολέμου πρόνοιαν. οἱ δὲ τοὺς βασιλεῖς ἤκουον. (schol. bT ad Il. 2, 1c = I 175, 7–8 Erbse)

(„roßgerüstet] Sie hätten wachen müssen, weil sie den Kampf schon vorhersahen. Sie hatten ja die Anführer gehört.“)

Die Einlassung gilt den Achaiern selbst, die am Tag zuvor der Beratung beigewohnt hatten, bei der die Rücksendung der Chryseis und die Überstellung der Briseis an Agamemnon beschlossen worden war (Il. 1, 54–305). Der anonyme Kommentator hat insbesondere die Worte des Achilles im Blick, der den Achaiern unter Eid seine Enthaltung vom Kampf und vielfachen Tod unter den Händen Hektors für den Fall in Aussicht gestellt hatte, dass ihm das Ehrgeschenk genommen würde (Il. 1, 233–244). Nach einer solchen Szene war es dem antiken Kritiker zufolge als unangemessen zu tadeln, dass die Achaier sorglos schliefen.

Wenn nicht die handelnden Figuren für ihr inkonsequentes Verhalten, sondern der Dichter und seine Darstellung getadelt werden, so richtet sich die Kritik auf die fehlende Plausibilität der Darstellung. Auch dafür findet sich in den Homerscholien ein treffendes Beispiel, nämlich am Beginn des zehnten Buches der Ilias (Il.HomerIl. 10, 1–4 10, 1–4):

Ἄλλοι μὲν παρὰ νηυσὶν ἀριστῆες Παναχαιῶν | εὗδον παννύχιοι μαλακῷ δεδμημένοι ὕπνῳ· | ἀλλ’ οὐκ Ἀτρεΐδην Ἀγαμέμνονα ποιμένα λαῶν | ὕπνος ἔχε γλυκερὸς πολλὰ φρεσὶν ὁρμαίνοντα.

(„Da schliefen die anderen bei den Schiffen, die Ersten der All-Achaier, | Die ganze Nacht hindurch, vom weichen Schlaf bezwungen. | Doch den Atreus-Sohn Agamemnon, den Hirten der Völker, | Hielt nicht der süße Schlaf, denn viel bewegte er in dem Sinn.“ ÜS Schadewaldt)

Legt man wieder die zur Parallele im zweiten Buch genannten Kriterien an, so wäre ein Schlafverbot an das achaische Kriegsvolk an dieser Stelle noch eher am Platz als dort. Nach der abgebrochenen Schlacht (Il. 8, 53–349) und der misslungenen Gesandtschaft an Achilles (Il. 9, 182–668) ist der Mut der Achaier geschwunden; an Schlaf sollte in dieser Situation nicht zu denken sein. Der anonyme Kommentator muss also eigens betonen, dass hier eine glaubhafte Darstellung vorliegt, um Homer zu rechtfertigen:

ἄλλοι μὲν παρὰ νηυσὶν ἀριστῆες Παναχαιῶν | <εὗδον παννύχιοι>] εἰκότως· ἀμφότερα γὰρ ὕπνου ἀγωγά, καὶ ὁ ἐκ τῆς μάχης κάματος καὶ ἡ ἐπὶ τῇ ἥττῃ δυσθυμία. (schol. A ad Il. 10, 1–2 = III 1, 7–8 Erbse)

 

(„Das stellt er glaubwürdig dar: Die beiden Dinge nämlich führen den Schlaf herbei, sowohl die Anstrengung des Kampfes wie auch die Mutlosigkeit infolge der Niederlage.“)

Die Achaier sind nach einem Tag voller Kämpfe und der von Achill abgeschlagenen Bitte um Unterstützung vom Schlaf wie überwältigt (vgl. Il. 10, 2b: μαλακῷ δεδμημένοι ὕπνῳ).11 Diese Gewalt des Schlafes über alle Menschen ist ein Gemeinplatz:

μαλακῷ] τῷ πάντας μαλάσσοντι, ὅθεν καὶ <Il. 24, 5; Od. 9, 373> ‘πανδαμάτωρ’ καλεῖται. (schol. bT et b ad Il. 10, 2b = III 2, 21–22 Erbse)

(„vom weichen] von dem, der alle weich macht, weswegen er auch ‘Allbezwinger’ genannt wird.“)

Die negative Wertung des Schlafes als bedrohliche Macht, die von den Menschen Besitz ergreift, hat ihr Pendant in der positiv besetzten Tugend der ἀγρυπνία, die man besonders von den homerischen Führungsgestalten Agamemnon und Achill einforderte. Am Beginn der homerischen Dolonie wird diese Qualität im Kontrast zu den Achaiern an Agamemnon betont (vgl. Il. 10, 3–4). Die Scholien bemerken dazu:

<ἀλλ’ οὐκ Ἀτρείδην –/ὕπνος ἔχε>] ἀγρυπνεῖ ὁ στρατηγός, πρῶτα μὲν ὅτι τοὺς πρώην πολιορκουμένους πολιορκοῦντας ὁρᾷ, καὶ ὅτι ἡ εἰς Ἀχιλλέα ἐλπὶς ἐξεκέκοπτο, ἧς μάλιστα τὴν αἰτίαν εἶχεν. ἀκήκοε δὲ καὶ τοῦ ὀνείρου λέγοντος· <Il. 2, 24> ‘οὐ χρὴ παννύχιον εὕδειν βουληφόρον ἄνδρα’· τὰ μὲν γὰρ ἄλλα τῆς τύχης, τοῦ δὲ ἀμελεῖν ἡ αἰτία ἀπαραίτητος τοῖς στρατηγοῖς. … (schol. bT ad Il. 10, 3–4 = III 2, 25–36 Erbse)

(„Der Feldherr aber schläft nicht, erstens weil er die kürzlich noch Eingeschlossenen nun angreifen sieht und weil sich seine Hoffnung auf Achilles zerschlagen hat, zu der er die größte Veranlassung hatte. Den Traumgott aber hat er sagen hören: ‘Nicht gebührt es dem richtenden Manne die Nacht zu durchschlummern.’12 Das andere ist den Umständen geschuldet; hart aber ist der Vorwurf der Sorglosigkeit für Feldherren.“)

Dass man auch in Rom epische Texte vor dem Hintergrund dieser homerischen Wertevorstellungen las, zeigen die antiken Vergilkommentatoren. In der Aeneis hat das Motiv des schlafenden Anführers eine wichtige Funktion bei der Charakterisierung der Figuren. Ein Scholion des Servius zeigt, dass man den Schlaf des Aeneas bei der Wegfahrt aus Karthago als anstößig empfand. Servius schreibt zu Aen.VergilAen. 4, 555 4, 555:

carpebat somnos] hoc est quod et paulo post culpat Mercurius, dicens <Aen. 4, 560> ‘nate dea, potes hoc sub casu ducere somnos’? sed excusatur his rebus: nam et certus eundi fuerat, et rite cuncta praeparaverat: aut certe prooeconomia est, ut possit videre Mercurium. rite] recte et ex ordine compositis. et diligenter virum strenuum non ante facit requiescere, quam rite omnia paravisset. ([D]Serv. ad Aen. 4, 555 = I 562, 27–563, 3 Thilo-Hagen)

Servius wendet zwei unterschiedliche Strategien an, um einen potentiellen Tadel an der Stelle, der vielleicht schon in einer der frühen Obtrektationsschriften gegen Vergil erhoben worden war, zu entkräften: Mit dem Stichwort prooeconomia ist der erzählstrategische Aspekt angesprochen, der im Schlaf des Helden die logische Voraussetzung für die folgende Traumerscheinung des Mercurius erkennt, wodurch die narrative Kohärenz gewährleistet wird.13 Das erste apologetische Argument, das Servius vorbringt, bewegt sich hingegen auf einer anderen Ebene, nämlich derjenigen der ethischen Qualität des Helden. Der Schlaf des Helden sei gerechtfertigt, weil Aeneas sicher mit seiner Abreise rechnen konnte und zuvor alle nötigen Vorkehrungen getroffen habe: Seine Sorglosigkeit ist begründet – anders als bei den Achaiern an den oben behandelten Homerstellen.14

Auch im Zusammenhang mit der Nachtszene, dieVergilAen. 8, 26–27 mit Aen. 8, 26–27 eingeleitet wird, finden wir Hinweise, dass das Thema des Schlafes hier von den Vergilkommentatoren mit Bezug auf die homerischen Vorbildszenen behandelt wurde. Servius bringt eine Erklärung, die der oben in dem Scholion zu Il. 2, 1 referierten Kritik vom Ansatz her erstaunlich ähnelt:

seramque dedit per membra quietem] tardam, quippe in bellicis curis. (Serv. ad Aen. 8, 30 = II 203, 21–22 Thilo-Hagen)

Deutlicher wird der anonyme Verfasser eines Veroneser Scholions, der die bekannten Worte des Schlafgottes aus dem zweiten Buch der Ilias mit einem Hinweis auf ihre ethische Relevanz für den dux zitiert:

<seramque – quietem>] Ut dictum est: Οὐ χρὴ παννύχιον εὕδειν βουληφόρον ἄνδρα <Il. 2, 24> quod duci convenit. (schol. Ver. 439, 13–14 Hagen = 117, 16–19 Baschera)

Diese Besonderheiten des epischen Verhaltenskodex, den die antiken Kritiker an die Texte von Homer, Apollonios bzw. Varro und Vergil in vergleichbarer Weise anlegten, sind zu berücksichtigen, wenn man den Vorschlag Ovids, Varros zweiten Halbvers zu tilgen, richtig verstehen will. Vergleicht man die Übertragung Varros und stellt sie in den aus Apollonios zu rekonstruierenden Kontext, so ergibt sich nach antiker Vorstellung ein Widerspruch. Man kann nämlich schwerlich davon sprechen, dass die genannten Personengruppen, die trotz ihrer schweren Sorgen vom Schlaf überwältigt wurden, nach ihrem Einschlafen einen „friedlichen“ Schlaf genossen hätten. Ähnliches gilt auch für die Situation der Argonauten in dieser Nacht: Jason hatte kurz zuvor von den Aufgaben erfahren, die er zu vollbringen hat, und sich auf das risikoreiche Zaubermittel Medeas eingelassen. In dieser Situation wie Varro davon zu sprechen, dass sich „alles in friedlicher Ruhe niedergelegt“ hätte, erscheint nach den Maßstäben der Figurenpsychologie unglaubwürdig.

Dass placidus als Adjektiv für die nächtliche Ruhe der besorgten Bevölkerung nicht passen kann, zeigt auch Seneca d.J., der denselben Varrovers zitiert, der schon bei seinem Vater kritisiert wurde. Nach Seneca schließen sich nämlich innere Erregtheit und die in noctis placida quies zum Ausdruck kommende Vorstellung aus:Seneca d.J.ep. mor. 56, 5–6

… Nam quid prodest totius regionis silentium, si affectus fremunt? ‘Omnia noctis erant placida composta quiete.’ Falsum est: nulla placida est quies nisi quam ratio composuit; nox exhibet molestiam, non tollit, et sollicitudines mutat. (Sen. ep. mor. 56, 5–6)

Seneca d.J. will sagen: Nur die durch ratio erworbene Ruhe ist wirklich friedlich; die Beseitigung äußerer Störfaktoren trägt nichts zur inneren Ruhe bei. Wen die Nacht überwältigt hat, obwohl er eigentlich an Ruhe nicht denken kann – wie die Argonauten oder die anderen bei Apollonios genannten Personengruppen –, der genießt nicht eigentlich eine friedliche Ruhe, sondern tauscht nur die Unruhe am Tage mit der Drangsal bei Nacht ein.

Werfen wir abschließend einen kurzen Blick auf die vergilischen Schlafszenen und die hier verwendeten Adjektive, um die bisher vorgebrachten Überlegungen zu überprüfen. An der von Seneca d.Ä. zitierten Stelle Aen. 8, 27, die der Szenerie bei Apollonios bzw. Varro an Gespanntheit und innerer Dramatik entspricht, verwendet Vergil – wie sich nun sagen lässt: stilistisch begründet – das Adjektiv altus – und nicht placidus –, um den Schlaf zu charakterisieren. – Nach der Abfahrt des Aeneas besteht – außer für Dido – kein Grund zur Sorge mehr. Dass die Männer des Aeneas bei der Abfahrt froh gestimmt waren, hat die Königin selbst ihrer Schwester Anna berichtet (Aen. 4, 418). Und wenn man sich erinnert, welches Skandalon die Verbindung zwischen Aeneas und Dido bei der karthagischen Bevölkerung und bei den angrenzenden Völkern darstellte15, erscheint es plausibel, dass nach der Abfahrt der trojanischen Gäste auf Seiten der Karthager ein begründetes Gefühl der Sorglosigkeit vorherrschend war. Hier passen also die Wendungen, die Vergil in bewusstem Anklang an Varros Neugestaltung des Apollonios verwendet.16 – Aufschlussreich ist schließlich im Kontrast zu den zuletzt genannten Stellen Aen. 1, 247–249, wo Venus zu Jupiter von Antenor spricht, der – im Gegensatz zu Aeneas – das Ziel seiner Reise erreicht und Padua gegründet hat, demnach also auch keine Sorgen mehr leidet und seine friedliche Ruhe genießen kann. Auch hier finden sich – im letzten Vers – eindeutige Bezüge zu Varro (Aen. 1, 247–249): Hic tamen ille urbem Patavi sedesque locavit | Teucrorum, et genti nomen dedit, armaque fixit | Troia; nunc placida compostus pace quiescit.