Take me down under: Melbourne im Blut

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Kapitel 2



»… können uns das nur bis zu einem gewissen Punkt erklären. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als eine Untersuchung anzuleiern. Es gibt da einen Onlineanbieter, der schnell eine Crowd organisieren kann, die sich vor Ort umschaut. Wir können genau bestimmen, welche Geschäfte…«



Jordan wechselte zum nächsten Browsertab, scrollte durch die ausgestellten Möbelstücke und grinste, als er auf eine Chaiselongue mit weinrotem Samtbezug und lächerlich pompösen Goldborten und -fransen stieß. Er hätte eher eine Yogamatte auf eine Europalette geklebt, als sich ein solches Ungetüm in die Wohnung zu stellen. Aber wenn Katy – beziehungsweise Sasha beziehungsweise Ben – wollte, dass sich Raum Nummer 5 in ein französisches Lustschloss verwandelte, dann würde er dafür sorgen, dass das Red Vinyl vor Pomp platzte.



»… möglicherweise die Produktplatzierung. Würde mich nicht wundern, wenn Carlsons Schweinepriester die Einkaufsleiter geschmiert haben. Es kann kein Zufall sein, dass der Absatz unserer Vollkornprodukte gerade in Canberra und Umgebung fast vierzig Prozent niedriger ist.«



Jordan legte den Kopf schief. Sein Headset verrutschte und er rückte es mit einem Finger zurecht, während er gleichzeitig die Lieferzeiten der Chaiselongue prüfte. Sie waren genauso lang wie befürchtet, aber wenn sie mehrere Stücke vom selben Hersteller bestellten, konnten sie den Lieferanten vielleicht überreden, sich auf eine Sonderlieferung einzulassen. Es war nie gut, einen der Räume längere Zeit geschlossen zu halten. Am Wochenende waren sie fast immer ausgebucht, was bedeutete, dass sie während der Sanierung bares Geld verloren.



»Jordan? Jordan!«



Sein Schreibtischstuhl quietschte, als er sich aufsetzte. In diesem Moment war er froh, dass sie auf eine Videokonferenz verzichtet hatten. »Hab verstanden«, beeilte er sich zu versichern. »Unsere Bionudeln ohne Ei laufen überall hervorragend außer in der Hauptstadt. Marktforschung anleiern. Crowdsourcing-Firma beauftragen. Bei Carlson arbeiten nur Schweinepriester.«



Sein Vorgesetzter oder vielmehr seine Schnittstelle zu seinen Arbeitgebern grummelte ihm ins Ohr. »So ungefähr. Ich habe dir die Daten in die Cloud geschoben. Setz dich gleich dran, okay? Ich brauche zeitnah Ergebnisse, die überzeugend genug sind, dass der Chef mir freie Hand lässt.«



Jordan nickte und verzog gleichzeitig das Gesicht. »Klar, Francis. Aber dann muss ich die anderen Statistiken fürs Erste zurückstellen. Nur, dass du Bescheid weißt.«



»Sind die etwa noch nicht fertig?«



Jordan atmete tief durch und hoffte, dass man es am anderen Ende der Leitung hörte. »Die Deadline ist für nächste Woche Freitag angesetzt. Und ich habe auch sonst einen ziemlich vollen Schreibtisch, weißt du?«



Erneut grollte Francis wie ein verhindertes Sommergewitter. »Schon gut, schon gut. Aber ja, erst die Nudeln, dann Müsli und Porridge.«



»Aye, aye, Boss. Stets zu deinen Diensten.«



»Pfft, du mich auch.«



Eine Minute später setzte Jordan das Headset ab und rieb sich die heißen Ohren, während er mit einem raschen Klick auf den Bildschirm seine Spotify-Playlist startete. Sobald die Seekers ihm ihr Georgy Girl entgegenträllerten, besserte sich seine Laune. Es ging doch nichts über analog aufgezeichnete, vom Kratzen alter Aufnahmetechnik durchzogene Oldies, um sich aus der technisierten Welt zu verabschieden.



Jordan entschied, dass Francis' Nudeldebakel noch zehn Minuten Zeit hatte, holte sich aus der Küche einen frischen Kaffee und öffnete anschließend ein anderes Fenster, um Katy eine schnelle Nachricht zu schicken.



Hab eine Chaiselongue gefunden, für die du töten würdest. Soll ich dir den Link schicken oder sie dir erst heute Abend zeigen?



Drei zuckersüße tiefschwarze Schlucke später hatte er seine Antwort: Sofort natürlich. Er tat ihr den Gefallen und kopierte den Link. Die Reaktion erfolgte in Minuten und ließ ihn laut herauslachen: Stimmt, ich würde dafür töten. Aber kannst du mir mal sagen, wer das Ding wieder sauber machen soll, nachdem unsere Gäste damit fertig sind?



Es war jedes Mal dasselbe Gespräch, egal, welchen Raum sie einer Generalüberholung unterzogen. Katy/Sasha/Ben geriet in die Stimmung – die von ihren Mitarbeitern sowohl gefürchtet als auch bewundert wurde –, zerrte Jordan am Ärmel, der Hand oder auch am Gürtel in eine Ecke und überfiel ihn mit weitschweifenden Visionen für die Umgestaltung eines der Räume oder des Barbereichs des alten Clubs. Er hörte zu, wies auf Schwierigkeiten wie eben die Reinigung und Pflege gewisser Einrichtungsgegenstände hin, nur damit seine Argumente rigoros abgeschmettert wurden. Anschließend begab er sich auf die Suche nach entsprechenden Designerstücken und durfte sich hinterher genau die Argumente anhören, die zuvor entschieden zurückgewiesen worden waren.



Aber am Ende – und darauf kam es an – hatten sie hinterher jedes Mal einen atemberaubenden neuen Raum im Red Vinyl und konnten es kaum erwarten, ihn zum einen selbst auszuprobieren und zum anderen ihren Gästen vorzustellen. Dass sie jeder, der ihre Debatten während des Entstehungsprozesses mit anhörte, für verrückt hielt, war ein Preis, mit dem sie nicht nur leben konnten, sondern über den sie auch oft und gern lachten.



Jordan klickte sich noch einmal durch die zahlreichen Aufnahmen der Chaiselongue und speicherte die Seite, bevor er sie widerwillig schloss. »Bis später, Kleines«, murmelte er wehmütig. Er hätte sich lieber weiterhin der Jagd nach extravaganter Einrichtung gewidmet als der Frage, ob die Supermärkte in Canberra ihre Ware nicht in 1A-Lage präsentierten.



Beides war Teil seiner Arbeit, aber er schlug sich nicht halb so gern mit Verkaufsstatistiken wie mit den Kunden im Red Vinyl herum – Letzteres manchmal wortwörtlich. Aber das Erheben, Bebrüten und Auswerten von Zahlen für einen der größten Lebensmittelkonzerne des Landes finanzierte ihm nicht nur sein Apartment, sondern brachte ihm auch das nötige Kleingeld ein, um den Club nach und nach auf Vordermann zu bringen. Dass er dabei draufzahlte und es vielleicht immer tun würde, war nichts, was ihm nachts den Schlaf raubte.



Geld ließ sich beziffern. Wert hingegen nicht.



Jordan stürzte sich mit pflichtschuldigem Eifer in die neue Aufgabe. Er brauchte nicht lange, um sich einen Überblick über die Daten zu verschaffen, und erst recht nicht, um alle nötigen Prozesse anzustoßen.



Während er einen Formvertrag an die beauftragte Datenerhebungsfirma hochlud, biss er in einen Apfel und entsorgte das chinesische Essen aus dem Kühlschrank, das sich nach einer kurzen Geruchsprobe als nicht ganz koscher erwiesen hatte. Er spielte mit den Gedanken, sich beim Lieferdienst auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit Nasi Goreng zu versorgen. Dann zog es ihn jedoch unter die Dusche und hinterher vor den Kleiderschrank. Kurz darauf grinste er seinem Spiegelbild zu und versenkte die Daumen in den Gürtelschlaufen seiner engen Wildlederhose, damit sie ein wenig tiefer rutschte.



Keine Minute später schlug er die Wohnungstür hinter sich zu und lief die Treppen hinunter zu seinem Parkplatz in der Tiefgarage des Wohnkomplexes. Auf den Fahrstuhl zu warten, hätte zu lange gedauert.





***





Die Lichtampel sprang von Orange zu einem tiefen Rot, das sich auf dem Holz des altehrwürdigen, im letzten Jahr neu aufgearbeiteten Tresens fing. Die Hocker an der Bar waren alle besetzt, dasselbe galt für die meisten Tische. Nur ganz vorn, dort, wo bei jedem Öffnen des Haupteingangs ein Luftwirbel entstand, gab es noch ein paar freie Plätze.



Jordan ließ die Mitarbeitertür hinter sich zuschwingen, aufgekratzt und gut gelaunt wie jedes Mal, wenn er in die Atmosphäre des Clubs eintauchte. Schon früher hatte das Red Vinyl nur selten seine Wirkung auf ihn verfehlt, aber seitdem er vom Dauergast zum Teilhaber aufgestiegen war, begleitete ihn stets ein besonderer Kitzel, wenn er sein Revier betrat. Ein Flattern zwischen Bauch und Unterleib, das mit unerträglichem Durst einherging. Ein tiefes Verlangen, das nur gestillt werden konnte, wenn er sich auf ein Spiel oder auch nur auf ein Gespräch mit jemandem einließ, der ihm in Worten, Gestik und Taten zu verstehen gab: »Du und ich, wir wissen, dass du erst zufrieden sein wirst, wenn du vor mir kniest und mir versprichst, mir zu gehorchen. Oder meinen Schwanz im Mund hast.« Jordan sonnte sich in dem Kribbeln in seinem Nacken und zwischen seinen Beinen, in der konditionierten Reaktion seines Schwanzes auf die Umgebung und hoffte, dass der Zauber nie nachlassen würde.



Als er den niedrigen Tisch links neben der Bar passierte – die sogenannte Tafelrunde –, begrüßten die Stammgäste ihn mit Zurufen und erhobenen Gläsern. Einzige Ausnahme bildete Jerry, der zu Füßen seines Meisters kniete und den Kopf gesenkt hielt, als würde er sich schämen. Vielleicht tat er es, vielleicht befolgte er auch nur einen Befehl.



Es war jedes Mal ein köstlicher Anblick, ihn neben Kadek kauern zu sehen. Jerry war ein Bär von einem Mann und sein Goldlöckchen führte ihn mit eiserner Hand, ohne dass er jemals ausbrach. Nur, dass Kadek kein kleines blondes Mädchen war, das sich im Wald verirrt hatte, sondern ein schmalbrüstiger Geschäftsmann mit grauen Strähnen im vormals blauschwarzen Haar und den schmalsten Augen, die Jordan je außerhalb eines Cartoons gesehen hatte. Optisch hätten die beiden kaum weniger zueinanderpassen können, aber ihre Verbindung war so unübersehbar, dass sie die ewigen Singles unter den Clubbesuchern neidisch machten.



»Jordan, setz dich zu uns! Trink was mit uns!«, rief Kadek ihm zu und winkte ihn mit ausladenden Gesten herüber.



»Keine Chance! Heute ist erst Donnerstag.«



»Spielverderber!«



Jordan hatte sich irgendwann angewöhnt, unterhalb der Woche keinen Alkohol mehr zu trinken. Er war schon früher oft eingeladen worden, aber seitdem er zur Belegschaft gehörte und mehr denn je den Kontakt zu seinen Gästen pflegte, wurde er häufiger zum Mittrinken aufgefordert, als seiner Leber guttat. Von seinem Hintern ganz zu schweigen. Also hatte er sich eines Tages, nachdem er hatte feststellen müssen, dass seine Lieblingshose unangenehm kniff, entschieden, die Cocktails und den Wein fürs Wochenende aufzusparen und wenn möglich auch die Finger aus den Schüsseln mit Erdnüssen zu halten.

 



Er schob sich durch die Schwingtür hinter die Bar und unterzog der Person am Zapfhahn einer raschen Musterung. Flache Stiefel, gerade geschnittenes Satinhemd in Dunkelgrün, eine schmucklose schwarze Jeans, das braune Haar im Nacken zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengefasst. Kein sichtbares Make-Up, keine eingedrehten Locken und wenn überhaupt, dann nur farbloser Lipgloss.



»Hey, Sasha.« Er stieß seinen Geschäftspartner und Freund mit der Hüfte an und erntete dafür ein spitzbübisches Lächeln.



»Hey, Kleiner. Du bist spät dran. Francis?«



»Francis und das Vollkornnudel-Dilemma von 2020. Frag nicht.« Jordan griff in einen der Kühlschränke unter der Arbeitsfläche und nahm sich eine Zitronenlimonade.



»Garantiert nicht. Das klingt wirklich nicht sehr spannend.« Sasha lachte xies melodisches, rauchiges Lachen, das sich kaum einem Geschlecht zuordnen ließ, und Jordan zupfte an xiesem Halstuch, um xien zu ärgern.



Sein Geschäftspartner beziehungsweise -partnerin war in mehr als einer Hinsicht etwas Besonderes. Aber am augenfälligsten war, dass Sasha die einzige Person der Belegschaft war, die mehrfach auf ihrer Teamseite im Internet vertreten war. Einmal als Katy, die in Lack geschnürte Domina mit der wilden Lockenpracht, einmal als Ben mit Man Bun, angedeutetem Drei-Tage-Bart und Lederweste und einmal eben als Sasha, das androgyne Wesen, das Jordan in diesem Augenblick auf die Finger schlug, damit er vom Halstuch abließ.



Kaum jemand wusste, welches Geschlecht Katy/Sasha/Ben bei der Geburt gehabt hatte, und wer fragte, bekam keine Antwort. Tücher und andere Accessoires an passender Stelle verhinderten, dass das Geheimnis gelüftet wurde. Auch Jordan wusste nach all den Jahren immer noch nicht, ob sein Geschäftspartner bei der Gesundheitsvorsorge zum Gynäkologen oder zum Urologen ging.



Es war ihm nach anfänglicher Neugier auch nicht mehr wichtig. Alles, was für ihn zählte, war die Freude in Sashas Augen, dass Jordan xiese Identität richtig zugeordnet und sich die Mühe gegeben hatte, bei der Begrüßung den passenden Namen zu verwenden. Es war nur eine Kleinigkeit, aber er wusste, dass sie Sasha viel bedeutete.



»Sind die Bestellungen schon raus? Irgendwelche Vorkommnisse, von denen ich wissen sollte?«, erkundigte sich Jordan. Normalerweise bemühte er sich, vor Öffnung der Pforten im Club anzukommen, damit sie in Ruhe ein kurzes Briefing abhalten konnten. Aber öfter, als es ihm lieb war, kam er nicht dazu, sodass er sich die wichtigsten Informationen zwischen Tür und Angel – oder zwischen Zapfhahn und Kartenlesegerät – abholen musste.



Sasha zählte an den Fingern ab. »Ja, die Getränkebestellungen sind raus, aber ich habe den 389er von Penfolds von der Liste geschmissen. Die haben den Preis zu sehr angezogen. Ich hatte vorhin die Rechnung vom Heizungsbauer in der Post und sie war netterweise niedriger als gedacht. Ist schon bezahlt. Dann hat dieser Mensch von dem neuen Spirituosengeschäft seinen Termin für heute Abend bei dir abgesagt, weil seine Frau in den Wehen liegt. War ein ziemlich guter Grund, fand ich.« Sascha unterbrach sich kurz und zog die Nase kraus. »Ich fürchte allerdings, dass trotzdem jemand auf dich wartet. Du weißt schon wer. In Raum 3.«



Jordan setzte seine Limonadenflasche hart auf dem Tresen ab und unterdrückte jede Lautäußerung. Dabei hätte er zu gern aufgestöhnt, geflucht oder auch leise und schicksalsergeben gewimmert, bis Sasha ihm den Kopf tätschelte.



Er würde sich viel lieber mit einem möglichen Lieferanten über den Ankauf von Bier, Weinen und Whiskey unterhalten, als Raum 3 zu betreten. Und das hatte nichts damit zu tun, dass er ein Problem mit diesem Teil ihres Clubs gehabt hätte. Ganz im Gegenteil: Er liebte das Ambiente zwischen Industrie-Look und britischem Kolonial-Charme. Deshalb zog er sich ja so gern dorthin zurück, wenn er eine Verabredung hatte.



Doch heute war es weder ein Freund noch ein zeitweiliger Spielgefährte noch ein neuer Dom im Training, der ihn dort erwartete. Jordan fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Natürlich, es war Donnerstag. Er selbst hatte vorgeschlagen, dass sie sich heute noch einmal unterhalten würden. Er hatte es nur vergessen. Nein, verdrängt.



»Ich kann ihm sagen, dass er verschwinden soll. Dass du nicht so weit bist«, bot Sasha an. »Du musst dir das nicht antun.«



Jordan lächelte dünn. »Danke, aber das hat keinen Sinn. Es wäre nicht fair, ihn auflaufen zu lassen, nur weil ich Abschiede hasse.«



»Das heißt, ich soll ihm erst recht nicht ausrichten, dass du krank auf dem Sofa liegst, während du dich zur Hintertür rausstiehlst?« Sashas linker Mundwinkel wanderte nach oben.



Sie kannten beide die Antwort. In dieser Hinsicht waren sie sich sehr ähnlich. Sie konnten keine Konfrontationen leiden, waren aber zu dämlich – oder zu anständig –, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Jordan, weil er ungern Schutt und Asche hinterließ, Sasha, weil xier zu viele enttäuschende menschliche Erfahrungen hinter sich hatte, um sich anderen Leuten gegenüber wie ein gewissenloses Aas aufzuführen. Und manchmal bestand die einzige Gnade, die man jemandem gewähren konnte, in einem sauberen Schlussstrich.



»Mach mir einfach schon mal ein Lager auf«, murmelte Jordan resigniert. Dann ließ er Sasha stehen und ging durch den Hauptraum zu der Flügeltür mit der großen 3.



Die Tagesbeleuchtung war an; die, die während der Reinigung eingesetzt wurde und zu grell war, um Stimmung aufkommen zu lassen. Ein Mann hatte sich an den schmalen Behelfstresen an der Rückwand gesetzt und spielte mit einem Bierdeckel. Der Stoff seines dunklen Hemds spannte sich über dem breiten Kreuz und als er beim Schlagen der Tür den Kopf wandte, wusste Jordan wieder, warum Henry ihm bei ihrer ersten Begegnung so gut gefallen hatte.



Dieser von endlosen Stunden auf dem Surfbrett und im Fitnessstudio gestählte Körper, die Lässigkeit, mit der Henry auf einem Barhocker saß, der zu klein für ihn war, die hellblauen Augen, die aus seinem sonnengebräunten Gesicht hervorstachen, der volle Mund umrahmt von frechen Grübchen, das dichte dunkelbraune Haar, das an den Schläfen die ersten grauen Strähnen aufwies.



Henry hätte nicht nur jederzeit für eine Fitnesszeitschrift modeln können, er hatte sogar schon einmal ein entsprechendes Angebot bekommen. Nur die Befürchtung, dass es die Kollegen in seiner Kanzlei nicht gern sehen würden, wenn er sich nur mit einer Badehose bekleidet ablichten ließ, hatte ihn ablehnen lassen.



»Jordan«, sagte er leise und stand zur Begrüßung auf. Seine Arme hoben sich für eine Umarmung, doch Jordan ging hastig zum Tresen und brachte ihn als Barriere zwischen sie. Henrys Pokerface war gut. Jahre im Gericht hatten dafür gesorgt, dass er im Training war. Aber Jordan bemerkte dennoch das Zucken seiner Mundwinkel, das auf Enttäuschung hindeutete. »Du siehst gut aus.«



Ich weiß und ich wünschte, ich hätte unser Treffen nicht verdrängt. Dann hätte ich nicht ausgerechnet die Hose angezogen, die du mir immer mit Vorliebe runtergerissen hast, dachte Jordan halb bekümmert, halb verärgert. Ob er auf sich selbst oder auf Henry wütend war, wusste er nicht genau.



»Du auch«, gab er zurück. »Wartest du schon lange?«



Henry hob eine Schulter und ließ sie rasch wieder fallen. »Geht so. Ich war ein bisschen früh dran.«



»Und ich ein bisschen spät. Wie immer«, entgegnete Jordan.



Dieses Mal zuckten Henrys Mundwinkel nach oben. »Wieder mal am Schreibtisch hängen geblieben, ja? Lass mich raten: Du hast nicht einmal etwas gegessen, sondern bist sofort hergestürmt.«



Ein Außenstehender hätte wahrscheinlich angenommen, dass Henry sehr von sich überzeugt war, wenn er glaubte, dass Jordan mit leerem Magen zu ihrer Verabredung geeilt war. In Wirklichkeit war seine Bemerkung nur der Beweis, dass er Jordan in den vergangenen drei Monaten sehr gut kennengelernt hatte und um die Sogwirkung wusste, die der Club auf ihn ausübte.



Jordan bemühte sich um ein Lächeln. »Doch. Eine Kleinigkeit.«



»Eine Ecke Toastbrot? Eine Banane? Eine Handvoll Chips?«



»So ungefähr.«



Henry bettete beide Hände vor sich auf die Holzplatte, sodass sich seine Fingerspitzen berührten. »Ich weiß ja nicht, ob du dich heute Abend loseisen kannst, aber…« Er zögerte. »Wir könnten kurz zum Inder am Ende der Straße gehen. Etwas Anständiges essen. Und in Ruhe reden.«



Der lösungsorientierte Teil Jordans – namentlich sein Magen – wollte zustimmen. Letztendlich war es nicht wichtig, wo sie redeten. Das Ergebnis würde auf dasselbe hinauslaufen. Und wenn er bei der Gelegenheit noch eine Mahlzeit einschieben konnte, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber er wollte Henry nicht zumuten, ihre überfällige Unterhaltung in einem vollen Restaurant zu führen; gezwungen, seine Gefühle für sich zu behalten, damit kein Gast und auch niemand vom Personal merkte, was in ihm vorging.



»Ich glaube, wir sollten lieber hier reden.« Ohne es zu wollen, schaute Jordan zu der kleinen Bühne am anderen Ende des Raums. Dort hatte er vor nicht allzu langer Zeit am Andreaskreuz gestanden, aller Sinne beraubt, und Henry vor ausgewählten Gästen erlaubt, ihn zu quälen. Anschließend waren sie zu ihm nach Hause gefahren, Henry hatte ihn umsorgt wie einen Kranken, ihn festgehalten und ihm immer wieder zugeflüstert, wie stolz er auf ihn war. Es war befreiend und befriedigend gewesen, berauschend und belebend.



Aber es hatte sich nicht in das tägliche Leben übertragen lassen.



»Oh.« Der Barhocker unter Henry knirschte, als er sein Gewicht verlagerte. »Ich nehme an, das bedeutet, dass du zu einer Entscheidung gekommen bist. Und dass sie mir nicht gefallen wird.«



»Ich hoffe, dass sie dir langfristig schon gefällt. Wenn alles nicht mehr so frisch ist. Wir… wir sind nicht richtig füreinander, Henry«, sagte Jordan behutsam. Es kam ihm dennoch vor, als hätte er mit glühenden Schürhaken um sich geschlagen.



Ein kaum merkliches Nicken, gefolgt von einem Flackern in den ausdrucksstarken Augen. »Du hast das einmal anders gesehen.«



Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Jordan hatte gehofft, dass sie gut zueinanderpassen würden. Er hatte es sich gewünscht. Und er war genauso enttäuscht wie Henry, nur dass er seinen Teil an Trauerarbeit bereits hinter sich hatte.



»Ich habe dir nie etwas vorgemacht.« Jordan war es wichtig, diesen Punkt zu betonen. »Ich dachte, es könnte funktionieren. Dass wir in jeder Hinsicht andocken würden, falls du verstehst, was ich meine.« Wie sagte man jemandem, dass man ihn heiß fand, aber keine tieferen Gefühle entwickelt hatte? Dass man merkte, dass etwas Entscheidendes zwischen ihnen fehlte, etwas, das nichts mit Sex oder BDSM oder beidem zu tun hatte? »Es tut mir leid.«



»Ja«, entgegnete Henry schlicht. Jordan wünschte sich weit weg. »Ja, das glaube ich dir. Du bist alles Mögliche, aber kein Blender.« Es klang dennoch nach einem Vorwurf. Dann reckte er das Kinn und legte mit hörbarem Knacken den Kopf schief. Auf einmal traf sein Blick Jordan von oben herab. »Aber was, wenn ich es dir einfach befehle? Was, wenn ich jetzt und hier von dir verlange, dass du dich hinkniest und mir alle Entscheidungen überlässt, wie es sich für einen guten Sub gehört?«



Jordans Kehle verengte sich. Dasselbe galt für sein Herz, das sich in seiner Brust auf einmal winzig klein anfühlte. Oh, dieser Tonfall, dieser Blick. Er konnte das Verlangen nicht leugnen. Er reagierte mit jeder Faser seines Körpers. Nur sein Verstand zog nicht mit.



»Dann würde ich sagen, dass genau das einer der Gründe ist, warum wir nicht füreinander geschaffen sind«, sagte Jordan mit gesenkter Stimme, aber deutlich. »Weil du wissen müsstest, dass ich niemand bin, der Spielchen spielt, um dich oder ein Gespräch zu manipulieren.«



»Dann bin ich jetzt also nicht nur ein mieser Freund, sondern auch noch ein schlechter Dom?«



Es war ein Um-sich-schlagen, eine Unbeherrschtheit, die Jordan verstehen konnte. Aber sie verärgerte ihn. Er hatte sich Mühe gegeben, die Situation für sie beide so erträglich wie möglich zu gestalten. Er hatte versucht, anständig zu sein. Und er konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn man ihm die Worte im Mund verdrehte oder versuchte, ihn passiv-aggressiv zum Zurückrudern zu bringen.

 



Weil es funktionierte. Fast jedes Mal.



»Du bist weder ein mieser Freund noch ein schlechter Dom. Und das wirst du mich auch nie sagen hören. Können wir uns einfach darauf einigen, dass du super bist, aber trotzdem nicht der Richtige für mich? Und dass das überhaupt nichts über irgendeine deiner Eigenarten aussagt?«



Scheiß Harmoniesucht, glaubte Jordan Katy in seinem Kopf kichern zu hören.



»Nicht super genug für dich«, schoss Henry zurück. »Du kannst es drehen, wie du willst: Darauf läuft es hinaus. Und ich frage mich, auf wen du wartest. Mag sein, dass ich nicht der Hauptpreis bin, aber du bist es eindeutig auch nicht. Dein Arsch ist heiß, aber nicht so heiß.«



Jordan war beinahe dankbar. Nun, da das Gespräch unter die Gürtellinie geraten war, hatte er eine Ausrede es abzubrechen. »Ich glaube, es ist alles gesagt.« Seine Stimme kratzte vor Anstrengung und nicht zuletzt vor Enttäuschung. Da half es auch nicht, überzeugter denn je zu sein, sich richtig entschieden zu haben. »Ich gehe zurück an die Arbeit. Du tätest mir einen Gefallen, wenn du bald den Raum freigibst. Ich glaube, er ist in einer halben Stunde gebucht.«



»Oh natürlich. Der Club. Wie könnte es anders sein.«



Jordan reagierte nicht auf die Anspielung, dass er zu viel Zeit und zu viel Leidenschaft auf sein Herzensprojekt verschwendete. Sie war nicht neu für ihn und vielleicht war sogar etwas Wahres daran, aber Henry hatte definitiv das Recht verloren, sich dazu zu äußern. »Mach's gut. Falls ich noch Sachen von dir in meiner Wohnung finde, hinterlege ich sie dir am Tresen. Ich sag der Belegschaft Bescheid.«



Als Jordan seinen Platz hinter dem Tresen verließ, ging ein Ruck durch Henrys Körper, gefolgt von einer Vorwärtsbewegung, die Jordan daran erinnerte, wie viel größer und stärker Henry war als er. Das wagst du ja wohl nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Und Henry hielt sich tatsächlich zurück. Verzichtete darauf, nach Jordan zu greifen, sei es, um ihn anzuflehen oder um ihm wehzutun. Besser für ihn.



Jordan sah sich nicht noch einmal um, bevor er den Raum verließ. Dieses Mal hörte er die Begrüßungen durch neu eingetroffene Gäste kaum, nickte nur mechanisch nach rechts und links und lächelte hölzern. Sasha erwartete ihn hinter dem Tresen und zum zweiten Mal an diesem Abend verwendete Jordan eines ihrer Barmöbel als Barriere.



»Gib mir mein Bier«, murmelte er halblaut und schubste seine Limonade klirrend gegen die Kasse.



»Du hast mir mal gesagt, dass ich dich davon abhalten soll, unter der Woche etwas zu trinken«, erinnerte Sasha ihn, ohne ihn anzusehen.



Jordan knurrte leise. »Gib mir mein Bier oder ich klemme mich an die erste Whiskeyflasche, die ich in die Finger bekomme.«



»Oh, so gut ist es also gelaufen.«



»Genau.«



Ein Bierglas rutschte auf Jordan zu und er griff hastig danach. Die ersten Schlucke dienten in erster Linie dazu, seine ausgetrocknete Zunge zu befeuchten, die danach der Hoffnung, dass ein gutes Bier selbst einen solchen Abend besser machen konnte.



Als er absetzte, war nur noch Schaum im Glas. Er unterdrückte ein Aufstoßen. »Gut, das war's.«



Sasha nahm ihm das Glas ab und stellte es neben die Spüle. Xiese dunkelbraune Augen musterten Jordan halb prüfend, halb mitleidig. Dann schlich sich ein kräftiger Arm um Jordans Taille. »Dachte ich mir schon«, sagte Sasha so leise, dass es die Gäste an der Bar nicht hören konnten. »War die richtige Entscheidung, glaub mir. Man sollte sich freuen, wenn der neue Freund anruft. Nicht genervt das Handy beiseitelegen, weil man nicht weiß, was man ihm erzählen soll.«



Jordan verlagerte das Gewicht nach hinten, froh, dass Sasha heute Abend mit ihm Thekendienst schob. Er hatte Katy und Ben genauso gern, aber Sasha kam ihm einfühlsamer vor, etwas differenzierter. Deshalb war Sasha auch die Identität, mit der er am besten reden konnte.



»Du hast mich falsch verstanden.« Jordan sah hinüber zur Tafelrunde, zu Jerry, der die Wange an Kadeks Knie schmiegte und von seinem Dom im Nacken gestreichelt wurde. »Ich bin nicht nur mit Henry durch, sondern überhaupt mit der Sucherei. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Aber in die Männer, mit denen ich spielen will, kann ich mich nicht verlieben und andersherum funktioniert es erst recht nicht. Ich habe die Schnauze voll.«



»Du kl