Take me down under: Melbourne im Blut

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Kapitel 3



Der Wagen sprang an, die Warnleuchten flammten auf und erloschen eine nach der anderen wieder. Doch erst, als auch die letzte schwarz wurde, schlug Phoenix triumphierend auf das Lenkrad. »Hah! Geht doch!«



Jetzt noch eine Testfahrt und er konnte ihrer steinalten Kundin hoffentlich sagen, dass sie ihren nicht ganz so alten, aber ähnlich hinfälligen Toyota Camry doch noch einmal über den Berg gebracht hatten.



Phoenix war zufrieden. Gleich in seiner ersten Woche Ersatzteile beschaffen zu können, die normalerweise ein Vermögen gekostet hätten, hatte ihm bei den neuen Kollegen einen Stein im Brett verschafft. Dass er sich trotz seiner beruflichen Laufbahn nicht sträubte, sich die Finger dreckig zu machen, ebenfalls.



So sollte es sein. Er brauchte diesen Neuanfang und er wollte, dass er so glatt wie möglich verlief. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es ihm tatsächlich guttun würde, wieder in einer Werkstatt zu arbeiten.



Wie sehr hatte er nach seinem Schulabschluss getobt, als sein Dad darauf bestanden hatte, dass er ihr Handwerk von der Pike auf lernte, bevor er sich einen Platz in der Geschäftsführung des Familienkonzerns erhoffen durfte. Und wie schwer hatte er es den Jungs in der ersten Werkstatt gemacht.



Er hatte verdammt lange gebraucht, um zu kapieren, dass er sich mit seinem Benehmen etwas verdarb, das ihm eigentlich Spaß machte. Insofern sollte es ihn wahrscheinlich gar nicht wundern, dass er zwischen Kompressoren, Reifen und Ölwannen einmal mehr zeitlich begrenzten Frieden fand.



Er schaltete die Automatik auf D und ließ den Camry behutsam auf den Hof rollen. Tatiana, die sich gerade mit einem Kunden über dessen verunfalltes Motorrad unterhielt, stieß einen Jubelruf aus. »Da geht sie ab, die alte Gurke! Gute Arbeit!«



Phoenix winkte ihr zu und gab vorsichtig Gas. Der Motor schnurrte und auch in den folgenden Minuten, in denen er den Camry durch das Industriegebiet und ein Stück über die Landstraße lenkte, stieß er auf keine Probleme.



Zurück in der Werkstatt ging er zum Büro. Die Tür stand offen, aber er klopfte dennoch kurz an den Rahmen. Randy saß mit langem Gesicht auf seinem Schreibtischstuhl, Josephine hatte sich neben ihm aufgebaut und hielt ihm eine Gardinenpredigt. Die anderen hatten Phoenix bereits erzählt, dass Jo eher aus Notwendigkeit als aus Überzeugung ihr Hausdrache war; in erster Linie deshalb, weil Randy Büroarbeiten aus tiefster Seele hasste und sich nur dann damit befasste, wenn man ihn rigoros antrieb.



Entsprechend hellte seine Miene sich auf, sobald er Phoenix entdeckte – jede Ablenkung war ihm recht. »Was gibt's?«



»Einen fahrenden Camry, bei dem endlich alle Warnanzeigen aus sind. Und bevor du fragst: Nein, ich habe sie nicht einfach abgeklemmt«, antwortete Phoenix grinsend.



Randy erwiderte sein Lächeln. »Großartig. Hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ich rufe Mrs. Dixon sofort an. Sie wird erleichtert sein. Stell dich schon mal darauf ein, dass wir morgen mehr selbst gebackenen Kuchen hier stehen haben werden, als wir essen können. Macht sie immer, wenn wir ihr noch mal erspart haben, einen neuen Wagen zu kaufen.«



Jo schmunzelte. »Wahrscheinlich wird ihr die Karre eines Tages genau deshalb zusammenbrechen: weil sie ihn als Kuchenschwerlasttransporter verwendet. Eine meiner Schwiegertöchter wohnt bei ihr in der Straße und sagt, es vergeht kein Tag, ohne dass eine Springform auf dem Fensterbrett auskühlt.«



Phoenix hatte nichts gegen Kuchen einzuwenden, egal, ob er einer Massenproduktion entsprang. Sein Speiseplan war derzeit etwas dürftig. Teils, weil der von Randy angekündigte Kühlschrank doch nicht funktioniert hatte, teils, weil Phoenix zu faul war, um sich in der Personalküche etwas zu kochen, und zu geizig, um auswärts zu essen. »Solange sie die Rechnung nicht auch in Naturalien begleichen will, kann ich damit leben.«



»Na, das fehlte uns noch«, stöhnte Josephine, zwinkerte ihm jedoch zu. »Wo wir gerade dabei sind, Chef…«



Randys Lächeln erlosch wie eine Kerze unter Feuerlöschschaum. »Ja, ich weiß. Zu viele Außenstände, zu viele Kunden mit niedrigen Ratenzahlungen.«



Phoenix zog sich eilends zurück. Von Geld und ausstehenden Rechnungen wollte er nichts hören. Er war schon halb den Flur hinunter, als Randys Stimme hinter ihm her donnerte: »Ach, Kleiner?«



Er blieb stehen, den Blick auf die Wand mit alten Nummernschildern aus aller Welt gerichtet. »Ja?«



»Mach mal Feierabend! Wenn du weiter so viele Überstunden kloppst, bin ich in einer Woche pleite!«



Phoenix seufzte. »In Ordnung.« Er hätte lieber diskutiert oder geflucht. Es gab mehr als genug Arbeit, um Überstunden zu rechtfertigen, und natürlich würde Randy nicht Pleite machen, wenn Phoenix weitere Stunden einbuchte. Immerhin kam mit zusätzlicher Arbeit auch mehr Geld ins Haus. Randy wollte einfach verhindern, dass Phoenix vierzehn Stunden am Tag malochte. Wahrscheinlich hätte er sich mies gefühlt, dabei zuzusehen, wie der Sohn eines alten Freunds sich den Rücken krumm arbeitete.



Letztendlich war es dieser Gedanke, der Phoenix widerwillig nachgeben ließ. Er rief den Kollegen zu, dass er für heute fertig sei, dann ging er langsam hinauf in seine Unterkunft. Dort hatte sich im Verlauf seiner ersten Woche in Melbourne-Altona nicht viel verändert. Er hatte lediglich seine Koffer auf den Schrank gelegt und in einer Ecke stand nun ein altes Regal, in dem er ein paar Lebensmittel verstaut hatte. Darüber hinaus war alles beim Alten geblieben.



Vermutlich war es ein Fehler, nicht für ein Mindestmaß an Gemütlichkeit zu sorgen. Sich keine Topfpflanze aufs Fensterbrett zu stellen und sich keines der zahlreichen Poster von ihren Zuliefererfirmen an die Wand zu pinnen. Aber irgendwie war Phoenix noch nicht so weit. Dies war nicht sein Zuhause. Es war eine Bleibe, nicht besser als ein Motelzimmer, und die gestaltete man schließlich auch nicht um.



Er duschte, schrubbte sich den Schmutz von den Fingernägeln und ließ sich gerade so viel Zeit, wie es ihm der Warmwasserboiler erlaubte. Anschließend rasierte er sich übertrieben gründlich, schlüpfte in frische Kleidung und dann…



… stand er da. Mitten im Zimmer. Mit leerem Magen und noch leererem Kopf. Ohne eine Aufgabe, ohne einen Plan, wie er den Abend verbringen könnte. Ohne etwas, worauf er sich freuen konnte oder das ihm das Gefühl gab, ein Ziel zu haben.



All die Überlegungen, Sorgen, Schuldgefühle, die ihm die Werkstatt zuverlässig nahm, kehrten mit einem Schlag zurück. Er stand nicht länger auf fleckigem Linoleum, sondern schwamm in einem Meer, das ihn zu verschlingen drohte. Ob es jenseits der brachialen grauen Wellen Land gab, wusste er nicht. Er wusste nicht einmal, ob es Nacht war oder ob der Sturm einfach die Sonne verschluckt hatte.



Phoenix kniff die Augen zusammen. Das Wanken war nicht echt. Sein Kreislauf war stabil, das Gebäude erst recht. Das Gefühl niederschmetternder Haltlosigkeit existierte einzig in seinem Kopf. Niemand mehr, der von ihm abhängig war. Niemand, der ihm Kleinigkeiten wie Wäschewaschen oder Fensterputzen abnahm. Niemand, der zu ihm aufsah.



Und all das war eine Erleichterung, denn es bedeutete, dass er auch niemanden mehr ins Unglück reißen konnte. Aber Gott, sein altes Leben fehlte ihm. Sydney. Die vertrauten Kreise. Die Sorglosigkeit. Sogar die Notwendigkeit, für andere Entscheidungen zu fällen, selbst wenn sie ihn dafür hassten.



Ich kann das nicht, ging ihm auf. Ich kann hier nicht sitzen und darauf warten, dass es Zeit zum Schlafengehen ist. Ich muss irgendetwas tun.



Er entschied sich so schnell, dass Zweifel und Gewissenhaftigkeit keine Zeit hatten, ihre Argumente vorzutragen. Er schnappte sich seine gefütterte Jeansjacke, steckte die Autoschlüssel ein und ging nach kurzem Zögern an das Bargeld, das er in einer Blechkiste mit doppelseitigem Klebeband an die Unterseite seines Schranks gepappt hatte.



Zwei Minuten später fuhr er vom Hof. Das Verdeck des Spitfire war offen, obwohl es erst Ende August war. Phoenix ärgerte sich jetzt schon über das verschwendete Benzin, aber er trat dennoch das Gaspedal durch und schoss mit quietschenden Reifen davon.





***





Der Wind peitschte über das Wasser und trieb es über die übliche Uferlinie hinaus ins Naturschutzgebiet. An manchen Stellen waren die Wege überschwemmt und unter dem ständigen Angriff der Feuchtigkeit matschig geworden.



Phoenix war nicht weit gekommen. Sein erster Impuls war gewesen, nach Melbourne in die City zu fahren, vielleicht zu den Docklands, dorthin, wo das Leben tobte. Aber dann hatte er sich umentschieden. Ihm war nicht danach, vom Riesenrad aus über die Stadt zu blicken oder den Pinguinen bei St. Kilda dabei zuzusehen, wie sie an Land gewatschelt kamen. Also war er noch vor Williamstown rechts abgebogen und befand sich nun westlich der Stadt; dort, wo man Fauna und Flora etwas Platz zur Entfaltung gelassen hatte.



Es war eine gute Entscheidung gewesen. Phoenix sah die fernen Lichter von Williamstown und wusste, dass sich dahinter ein paar der beliebtesten Strandabschnitte Melbournes verbargen. Aber ihm war nicht nach Menschen zumute. Die wenigen Spaziergänger und Jogger, mit denen er sich die Dämmerung im Naturschutzgebiet teilte, reichten ihm.



Der Südwind strich ihm über die glatt rasierte Wange. Die Brise vom Meer war bissig, aber nicht angriffslustig, und sie schmeckte bereits nach dem kommenden Frühling. Phoenix nahm sich vor, an einem der ersten warmen Abende hierher zurückzukommen, aufs Wasser zu blicken, vielleicht ein Eis zu essen und den Wandel willkommen zu heißen.



Es war falsch zu glauben, dass der Frühling stets etwas Neues mit sich brachte, dass aller Kummer und alle Sorgen vom übersprudelnden Erwachen der Natur fortgespült wurden. Schon Lady Macbeth hatte feststellen müssen, dass man Blut nicht abwaschen konnte.

 



Aber Phoenix hatte jedes Mal das Gefühl, dass der Frühling etwas mit ihm anstellte, ihn mit neuer Energie versorgte und ihm zuraunte, dass jetzt, genau jetzt der rechte Zeitpunkt sei, um etwas zu bewegen. Hoffentlich würde er dieses Jahr seine geflüsterten Versprechen halten. Es musste sich dringend etwas tun. Phoenix musste sich bewegen.



Fröstelnd stellte er den Kragen seiner Jacke auf und zog den Kopf zwischen die Schultern. So schön das Naturschutzgebiet mit seinen Freiflächen, dem niedrigen Uferbewuchs und dem allgegenwärtigen Plätschern der Wellen war, Phoenix war für einen längeren Spaziergang nicht richtig angezogen.



Er verbuchte seinen Ausflug dennoch als Erfolg. Immerhin kannte er nun nicht nur die Werkstatt, einen Supermarkt und einen Friseur in seiner neuen Wahlheimat, sondern auch einen Ort, an dem man in der Sonne sitzen oder ein bisschen laufen konnte, falls er sich dazu aufraffen konnte.



Auf dem Rückweg zu der Straße, an der er sein Auto geparkt hatte, kam Phoenix ein Pärchen entgegen. Sie hielten sich an den Händen, schienen sich jedoch zu streiten oder wenigstens zu kabbeln. Drei knöchelhohe Winzhunde tobten vor ihnen her und jedes Mal, wenn der junge Mann versuchte sie zurückzurufen, belehrte seine Freundin oder Frau ihn, dass die Hunde ihm nie gehorchen würden, wenn sein Tonfall eine höfliche Bitte statt eines Befehls ausdrückte.



Irgendetwas an dieser Debatte begleitete Phoenix zurück zum Wagen, hallte in seinem Hinterkopf wider, während er über die Beifahrertür hinweg das Handschuhfach öffnete und eine Zigarettenschachtel hervorholte. Er wusste weder, wie alt die Packung war, noch warum er auf einmal das Bedürfnis hatte zu rauchen.



Als er mit der Zigarette zwischen den Lippen an der Tür lehnte und den ersten Zug nahm, hatte er zumindest eine Antwort: Die Packung musste steinalt sein, da die Zigaretten eher nach Handschuhfach als nach Tabak schmeckten, und seine Lunge verpasste ihm ob des ungewohnten Rauchs das Äquivalent zu einem Schlag auf den Hinterkopf. Phoenix hustete, rang nach Atem und trat die Zigarette ebenso schnell aus, wie er sie angezündet hatte.



Nein, das war nicht der richtige Weg, um sich besser zu fühlen. Essen war derzeit auch kein Heilsbringer, da sein Magen nach wie vor Zicken machte, Alkohol kam aus denselben Gründen nicht infrage. Zigaretten hatten sich ebenfalls erledigt und von Drogen hielt er nichts. Selbst wenn, hätte er sich derzeit davon ferngehalten. Es gab wohl kaum einen schlechteren Zeitpunkt, um Kokain oder Amphetaminen zu verfallen, als wenn man vergessen wollte.



Was blieb, war… Sex.



Guter, hemmungsloser Sex mit jemandem, der mithalten konnte. Mit jemandem, der sich ihm entgegenwarf. Mit und für ihn lachte und stöhnte. Jemand, der ihn vergessen ließ.



Für einen verrückten Moment wollte Phoenix nach dem Handy greifen und Kyle oder Paxton anrufen. Er hatte sich in den letzten Jahren regelmäßig mit ihnen getroffen, um Dampf abzulassen. Manchmal auch mit beiden auf einmal. Bodenständige Jungs Ende zwanzig, Anfang dreißig, die über die Probierphase hinaus waren und genau wussten, was und wen sie wollten. Und manchmal war es eben Phoenix gewesen, den sie in ihrem Bett haben wollten.



Es war für alle eine gute Lösung gewesen. Für Kyle, weil er neben seiner offenen Beziehung Auslauf bekam, ohne sich und seinen Freund durch allzu viele Partnerwechsel zu gefährden. Für Paxton, weil er nach einer anstrengenden Schicht im Krankenhaus immer wusste, wen er anrufen konnte, um sich gründlich durchvögeln zu lassen. Und für Phoenix, weil niemand Erwartungen an ihn stellte, die über ein gemeinsames Wochenende und ein offenes Ohr bei Sorgen hinausgingen.



Er hatte nichts gegen Beziehungen. Tatsächlich hielt er sogar sehr viel von ihnen. Nur war er überzeugt, dass eine Beziehung Zeit und Aufmerksamkeit brauchte und man es sich und seinem Partner schuldig war, sein Bestes zu geben. Phoenix' Bestes hatte jedoch jahrelang Webber's Workplaces gehört. Die Firma war eine gierige Geliebte gewesen, die ihn bis aufs Mark ausgesaugt hatte. Wahrscheinlich hätten seine ehemaligen Angestellten sich totgelacht, wenn er sich entsprechend geäußert hätte, aber er war nicht bereit, jemandem mit einem Du, es tut mir leid. Ich glaube, wir wären ein tolles Paar, aber ich habe einfach keine Zeit für dich das Herz zu brechen.



Nun hatte er Zeit. Und so viel Aufmerksamkeit zu verschenken wie nie zuvor. Darüber hinaus hatte er jedoch nicht mehr viel zu bieten.



Also belassen wir es bei Sex. Bei Sex und… etwas anderem.



Es lag Phoenix auf der gedanklichen Zunge, aber er konnte es nicht formulieren. Alte Sehnsüchte, Vorstellungen, mit denen er bisher nur gespielt hatte, wenn er allein war. Auch etwas, das einen gewissen Einsatz forderte und aus denselben Gründen zurückgestellt worden war wie die Suche nach einem Lebensgefährten.



In Gedanken sah er Paxton vor sich, wie er auf dem Bett kniete, der feste, leuchtend weiße Hintern hoch erhoben, der flehentliche Blick über die Schulter, der sagte: »Nimm mich heute Abend auseinander, Phoenix. Ich kann erst schlafen, wenn du mir den Verstand geraubt hast. Lass mich vergessen, was ich heute im OP gesehen habe. Kümmer dich um mich.«



Phoenix hatte es genossen und gewusst, dass er seinen Job gut gemacht hatte, wenn Paxton anschließend in seiner Armbeuge gelegen und selig geschnarcht hatte. Am nächsten Morgen hatte er sich jedes Mal halb verlegen, halb verschmitzt bedankt. Phoenix hatte das immer für überflüssig gehalten. Er hatte nichts geleistet oder verschenkt, sich nicht geopfert, sondern Paxtons Hingabe und Vertrauen geliebt – und hatte die Nase für den Rest des Tages noch ein wenig höher getragen als sonst.



Ein Stich zog sich durch seinen Unterleib, heiß, wohlig und mehr als willkommen. Geben, indem er forderte. Sich kümmern. Ja…



Als Phoenix eine halbe Stunde später in seine Unterkunft zurückkehrte, kam ihm das Zimmer nicht halb so schäbig und nicht ein Viertel so klein vor wie zuvor. Er verteilte eine lächerlich dicke Schicht Erdnussbutter auf zwei Brotscheiben und hatte sie verschlungen, bevor er sich fragen konnte, ob das die beste Diät für einen ungehaltenen Magen war.



Aber falls seine Innereien an diesem Abend noch einmal aufbegehrten, bekam er es nicht mit. Er schlief, bevor ihr Protestschreiben ihn erreichen konnte.





Kapitel 4



Waynes Rücken war gewölbt, Hände und Füße mit Ledermanschetten an die Beine des Bocks gefesselt. Sein überstreckter Hals spannte sich unter seinen Schluckbemühungen, seine Lippen waren dunkelrot und so eng um den Schwanz des Doms geschlossen, als wollten sie ihn nie wieder loslassen. Sein eigenes Glied ragte kerzengerade in die Höhe und wippte jedes Mal, wenn ihn der Flogger auf das nackte Dreieck seines Bauchs traf.



Jordan stützte den Ellbogen auf die Lehne des Stuhls und das Kinn auf die Hand, um sich nicht zwischen die Beine zu greifen. Er war neidisch. Dabei hatte er die Session selbst organisiert. Er war es gewesen, der die ersten Fragen des maskierten Doms beantwortet und später seine Unsicherheiten ausgemerzt hatte. Er hatte ihm beigebracht, worauf er zu achten hatte und wie man zwischen Lustschmerz und bedenklichen Qualen unterschied. Wie man einen Sub selbst dann richtig las, wenn man ihn nicht gut kannte.



Und nun erntete Wayne die Früchte seiner Bemühungen, wand sich mit flatternden Lidern auf dem Bock und stieß jedes Mal ein ersticktes Nein aus, wenn der Dom ihn fragte, ob er endlich genug hatte. Jordan gönnte ihm den Spaß und hätte ihm trotzdem am liebsten den dicksten Dildo im Club ungeschmiert in den Arsch gerammt – wofür Wayne sich allenfalls bedankt hätte.



Der Dom suchte Blickkontakt zu Jordan. Für einen Moment erschien ein Riss in der herrischen Fassade und um den freiliegenden Mund und die Augen zeichnete sich Unsicherheit ab.



Jordan nickte kaum merklich. Er war heute Waynes Rettungsweste und Anthonys Rückendeckung. Sie brauchten ihn nicht, davon war er überzeugt. Aber dadurch, dass er da war, dass es ein drittes Paar Augen gab, die die Situation beobachteten, fühlten sich beide sicherer. Es war nicht unbedingt eine übliche Vorgehensweise, aber eine, mit der Jordan schon öfter gearbeitet hatte.



Für andere. Natürlich.



Er tippte sich mit den Fingerspitzen gegen die Lippen. Er war bissiger, als er leiden konnte. Der Zusammenstoß mit Henry saß ihm immer noch in den Knochen. Wenn er seinen Verstand sprechen ließ, wusste er, dass Henrys Vorwürfe unbegründet waren. Er hielt sich nicht für besser als andere. Und er wartete auch nicht auf den perfekten Mann und damit auf jemanden, der ihm ebenbürtig war oder wie man es nennen wollte. Aber empfindlichere Bestandteile seines Wesens haderten mit sich.



War er zu wählerisch? Erwartete er zu viel? Hatte er eine unsichtbare Messlatte aufgehängt, unter der etwaige Interessenten allenfalls hindurchlaufen konnten? War es falsch, auf jemanden zu hoffen, der ihn ergänzte? Oder war das Problem vielmehr, dass er in mancher Hinsicht nicht dem Klischee entsprach? Woher stammten solche Rollenbilder eigentlich? Der fähige Sugardaddy, der sich einen niedlichen kleinen Sub zulegte, den er umsorgen konnte und musste, weil das arme Huschhusch ohne seinen Dom kaum in der Lage war, sich selbst die Schuhe zuzubinden.



Es gab diese Fälle und Jordan rümpfte auch weiß Gott nicht die Nase über diese Verbindungen. Aber seiner Erfahrung nach waren sie in der Minderheit. Und trotzdem… und trotzdem…



»Aah, verdammt!«



Jordan schrak zusammen und hob die Füße vom Stuhl. Er verfluchte sich, dass er seine Gedanken hatte schweifen lassen, entspannte sich aber rasch wieder. Anthony hatte den Kopf zurückgeworfen und wand sich in einem offenbar intensiven Orgasmus, dessen Ergebnis von Wayne mit offenem Mund entgegengenommen wurde. Keiner von beiden sah aus, als wäre er in Nöten oder mit der derzeitigen Situation unzufrieden. Eher, als hätten sie gerade erst angefangen und könnten es nicht erwarten, stundenlang weiterzumachen.



Und da war er wieder, der Neid, der sich durch Jordans Eingeweide fraß. Er sah zu, wie Anthony sich vor Lust schüttelte und anschließend neben dem Bock in die Knie ging. Sah, wie er Waynes Harnisch zurechtrückte und ihm mit dem Daumen über die Lippen strich. Hörte ihn leise Worte murmeln, aus denen Jordan unter anderem Belohnung, gut gemacht und so ein braver Junge heraushörte.



Schließlich streifte er die Ledermaske ab und offenbarte sein jungenhaftes Gesicht. Lächelnd trat er zwischen Waynes Beine und gab ihm mit festem Griff und groben Handschuhen die versprochene Belohnung. Als Wayne stumm und mit weit aufgerissenem Mund kam, ballte Jordan eine Hand zur Faust.



Er wartete ab, bis Anthony sich an den Ledermanschetten zu schaffen machte, dann stand er auf und ging leise zur Tür. Er wollte nicht auch noch zusehen, wie Anthony Wayne umsorgte und mit Lob und Anerkennung überschüttete. Jordans letzte Session war zu lange her und er wollte sich nicht zum Narren machen, indem er seine Gier verriet.



Draußen im Schankraum war es nicht sonderlich voll. Oft konnten sie sich selbst nicht erklären, warum die Gäste an manchen Abenden zahlreicher erschienen, während sie sie an anderen im Regen stehen ließen. Es war nie leer, aber der Statistiker in Jordan haderte mit diesem Rätsel, das sich auch nach Abgleich mit anderen BDSM-Clubs und Schwulenbars nicht hatte entschlüsseln lassen.



Katy stand an ihrem gewohnten Platz hinter dem Tresen, den Oberkörper in ein so enges Lederkorsett eingeschnürt, dass Jordan sich fragte, wie sie atmete. Er hatte ihr vor dem Öffnen der Türen geholfen, es ein letztes Mal nachzuziehen, und sich innerlich gewunden, als Katy ihm wiederholt ein Fester! zugezischt hatte.



Er war nicht blind. Er verstand die reizvolle Weiblichkeit einer Sanduhrfigur und damit auch Katys Wunsch, sich entsprechend zu zeigen. Aber er hatte wirklich keine Lust, seine Freundin eines Tages vom Fußboden kratzen zu müssen, weil sie sich auf der Jagd nach einer Wespentaille ein paar innere Organe abgeschnürt hatte.



»Na, wie ist es gelaufen?«, begrüßte sie ihn, als er sich zu ihr gesellte. Ihr Blick glitt mit einem verschmitzten Lächeln an seinem Körper herab und blieb vielsagend zwischen seinen Beinen kleben. »Keine besonderen Vorkommnisse, schätze ich?«



Ihr Tonfall war etwas zu beschwingt, etwas zu leutselig. Jordan kniff ein Auge zu und musterte sie scharf aus dem anderen. »Nein, alles bestens gelaufen. Und was ist in der Zwischenzeit hier vorgefallen?«

 



Katy verzog ihre dunkelrot nachgezogenen Lippen zu einem Schmollmund. »Ich hasse dich und deinen sechsten Sinn. Jedes Mal verdirbst du mir die Überraschung.« Sie wurden von einem Kunden unterbrochen, der zwei Cocktails bestellte, und als Katy ihn bedient hatte, glitt sie mit einem Hüftschwung dicht neben Jordan. Ihr rauchiges Parfüm stieg ihm in die Nase, als sie flüsterte: »Könnte sein, dass dir ein Fisch an Land gesprungen ist.«



»Ich wusste gar nicht, dass ich geangelt habe…«



»Hast du ja auch nicht. Deshalb sagte ich ja, dass er dir vor die Füße gesprungen ist. Ganz freiwillig.« Sie neigte den Kopf und als Jordan ihrer Blickrichtung folgte, sah er an einem der vorderen Tische einen Gast sitzen. Selbst, wenn Jordan nicht die meisten ihrer Gäste gekannt hätte, hätte er gewusst, dass es sich um einen neuen handelte. Die Stammbelegschaft verirrte sich nie so weit nach vorn; teils wegen des Luftzugs, teils, weil man es von dort aus nicht sah, wenn jemand aus einem der Flure kam. Und viele ihrer Gäste warteten nun einmal auf die Möglichkeit, spontan in einem der Privaträume zu verschwinden.



Der Fremde fiel in mehr als einer Hinsicht auf, aber zuerst durch seine Kleidung. Es trugen längst nicht alle Besucher Lack und Leder, schon gar keine Harnische oder Ledermützen. Aber es gab doch einen gewissen unausgesprochenen Dresscode dunklerer Ausrichtung, den die wenigsten brachen. Nachtblaue Hemden waren genauso verbreitet wie T-Shirts mit schwarzen Netzeinsätzen, Jeans genauso willkommen wie bei jedem Schritt knatschende Gummihosen. Und natürlich gab es immer ein paar Jungs, deren Vorliebe für Sneakers etwas weiter ging, als bei den meisten Menschen üblich war, und die sie daher zu jedem Outfit trugen – und später auszogen.



Der Neue hatte ein schlichtes rotes Sweatshirt an, das ihm so locker um den Oberkörper schlackerte, dass man unmöglich sagen konnte, ob sich darunter ein Sixpack oder ein Bierbauch verbarg. Dasselbe galt für die Jeans, die ihm im Schritt weit genug saß, um entweder eine gewaltige Erektion oder eine Brotbüchse zu verbergen.



Ansonsten sah er ganz gut aus, schätzte Jordan. Ein bisschen rau um die Ecken, ein bisschen müde, etwas zu blass. Und irgendwie nicht wie jemand, der sich darauf freute, einen neuen Club kennenzulernen. Eher wie jemand, der sich verlaufen hatte. Aber dafür wirkte er nicht überrascht oder auch angewidert genug.



Nein, er hatte gewusst, welche Art Laden er betrat. Vielleicht war er mit einem Freund verabredet.



»Mal ehrlich: Wirke ich so verzweifelt, dass du mir jetzt schon den erstbesten Typen anpreist, der zur Tür reinkommt?«, fragte Jordan mit einem deutlichen Beiklang von Frustration. »Wie zum Teufel kommst du darauf, dass ich Interesse an ihm haben könnte?«



Katys Kopf ruckte herum. Ihr Mund öffnete sich und machte Jordan klar, wie ungehalten er sich angehört hatte. Und wie hochmütig. »Oder er an mir«, steuerte er hastig nach. Es klang dennoch nicht richtig.



Katy runzelte die Stirn. Dann neigte sie sich zu Jordans Ohr hinab. »Weil ich mich schon mit ihm unterhalten habe, natürlich. Und weil er ganz offensichtlich ein Frischling ist, der jemanden zum Reden brauchen könnte. Jemanden, der ihm die Spielregeln erklärt. Und zeigt.« Sie zögerte. »Ich dachte irgendwie, er würde dir gefallen…«



Jordan verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Neuen ein zweites Mal. Katy lag nicht vollkommen daneben. Unabhängig davon, dass man unter der weiten Kleidung nicht viel über seinen Körper sagen konnte, hatte ihr Frischling ein offenes, fast herzförmiges Gesicht mit tief liegenden, hellen Augen unter dunklen Brauen. Seine Nase war gerade, der Mund ziemlich klein, aber er wirkte geschmeidig und glatt – Jordan küsste ungern raue Lippen – und das kurze braune Haar war stufig geschnitten und etwas zerwühlt, sodass es etwas Jugendliches ausstrahlte. Dabei war der Mann, der nachdenklich an seinem Glas Wein nippte, alles andere als jung. Sicher auch kein Tattergreis, aber durchaus jemand, den Jordan normalerweise in Erwägung gezogen hätte. Jordan schätzte ihn auf um die vierzig, plus/minus zwei, drei Jahre. Und er war hier. Zweifelsohne hatte Katy ihm längst seine Präferenzen aus der Nase gezogen, sonst hätte sie Jordan gar nicht erst auf ihn aufmerksam gemacht.



Er könnte tatsächlich ein guter Fang sein.



Oder?



»Nein«, entfuhr es Jordan mit zu viel Luft und zu wenig Stimme. Und erst recht ohne Ahnung, warum er sich so entschlossen wehrte. »Nein, der ist nichts für mich.«



Wieder klappte Katys Mund auf. Auf einen ihrer Schneidezähne hatte sich eine Spur Lippenstift verirrt. »Aber…«, begann sie