Wir haben alle mal klein angefangen

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Zucker im Kaffee

Doch das Studentenleben, so wie ich es damals erlebte, war durchaus nicht immer nur Spaß und Hallodri-o. Schon im ersten Semester durfte ich erfahren, dass die Sorge um den schnöden Mammon auch in meiner harmlosen Studentenunterkunft schon ihr Unwesen trieb und Anlass genug war, selbst um kleinste Pfennigbeträge hart zu streiten – eine Unsitte, die mir aus dem eigenen Elternhaus, das wahrlich nicht auf Rosen gebettet war, so gut wie unbekannt war. Damals wie heute litten viele Studenten unter ständiger Geldknappheit und hatten daher im Allgemeinen weniger als (k)eine Mark zu verschenken.

Demgegenüber galt für mich bis zum Ende meiner Schulzeit, vor dem Studium also: Wer nichts hat, hat auch nichts, worum er sich Sorgen machen kann. Aber jetzt war nicht nur ich selbst in der Fremde ganz auf mich allein gestellt, auch die anderen jungen Erwachsenen um mich herum mussten ohne die praktische Hilfe ihrer Eltern zurechtkommen und hatten oft so ihre liebe Not damit.

In meinem ersten Semester waren die meisten Studenten sogar noch erheblich älter als ich und kamen mir daher sehr erfahren und weise vor. Bis ich bemerkte, dass sie sich bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten immer noch absolut kindisch benahmen. (Genauso wie es manche Erwachsene bis ins hohe Alter tun...) Und je geringfügiger der Anlass, desto kindlicher die Methoden:

Zum Wachwerden gehört auch bei Studenten reichlich Zucker in den ersten Morgenkaffee, und wenn man selber keinen hat, dann kann sich ja immer noch bei anderen bedienen. So dachte jedenfalls ein unbekannter Mitbewohner in unserem Studentenwohnheim. (Mitbewohnerinnen hatte ich in diesem ersten Studiensemester noch keine, denn es handelte sich wegen der Gemeinschafts-Toiletten und Waschräume bei meiner ersten Unterkunft sogar im Jahre anno 1970 noch um ein reines Männerwohnheim.) Heimlich, still und leise stibitzte er derart massenweise Zucker aus der Dose eines anderen Studenten, dass dieser sich zu Gegenmaßnahmen gezwungen sah. Er beriet sich mit einigen anderen, ihm vertrauenswürdig erscheinenden Heimbewohnern. Gemeinsam kann man auf die glorreiche Idee, den Zucker in der Dose komplett gegen Salz auszutauschen.

Am anderen Morgen wurden alle Mitstudenten, die ihren Frühstückskaffee im Gemeinschaftsraum tranken, aufmerksam und mit Argusaugen beobachtet. Jeden Moment erwartete man, dass einer der Studenten, der den versalzenen Kaffee trinkende Zuckerdieb nämlich, das Spucken anfangen würde.

Doch man hatte nicht mit der Abgebrühtheit dieses Gewohnheitsdiebes gerechnet. Keiner der morgendlichen Kaffeetrinker verzog eine Miene, obwohl sich der gesuchte Mitbewohner – wie man im Nachhinein schadenfroh feststellte – reichlich Salz in den Kaffee getan hatte. Der scheinbar so geniale Trick war aber dennoch vollkommen ins Leere gelaufen. Und er ließ sich dummerweise auch nicht mehr so ohne Weiteres wiederholen, denn ab sofort fand man auf dem privaten Zucker-, beziehungsweise Salzvorrat des leidtragenden Kommilitonen jeden Morgen einen kleinen, kreisförmigen Fingerabdruck, mit dem der gewitzte Dieb anscheinend vorab überprüfte, ob auch wirklich Zucker in „seiner“ Dose war.

Man musste also nach einem neuen Weg suchen, den mit allen Wassern gewaschenen Dieb zu täuschen, und dabei noch schlauer vorgehen als zuvor: Die Dose wurde wieder bis zum Stehkragen mit Salz gefüllt. Aber ganz zum Schluss kam oben drüber noch eine hauchdünne Zuckerschicht! Man kicherte leise über diesen genialen Einfall und wartete gespannt auf den nächsten Morgen.

Grundsätzlich war die neue Strategie auch erfolgreich, denn tatsächlich – der fiese Zuckerdieb wurde erneut getäuscht: Wie beim ersten Mal tat er sich reichlich Salz in seinen Kaffee, und wie beim ersten Mal verzog er keine Miene beim Trinken. Daher führte selbst diese eigentlich hoch geniale Gemeinschaftsidee nicht zur Enttarnung unserer diebischen Elster.

Um eine lange Geschichte abzukürzen, man hat den gemeinen Zuckerdieb am Ende doch noch überführt. Wie? Ganz einfach: Statt Salz tat man schließlich Waschpulver in die Zuckerdose, mit einem Hauch von Zucker darüber, und Bingo – der Schaum auf dem Kaffee war nicht zu übersehen und nicht zu leugnen. Und – Ende gut, alles gut – nach diesem preiswürdigen Geniestreich herrschte endlich wieder Friede in unserer studentischen Gemeinschaftshütte!

Schwarze Milch

Recht raue Sitten herrschten also im unmittelbaren Umfeld meiner allerersten Studentenbude in einem der letzten der damals in Göttingen noch verbliebenen Unisex-Wohnheime. Reine Frauen- und Männer-Wohnheime waren zu der Zeit allerdings nicht wirklich eine Besonderheit, denn bis zum Ende der sechziger Jahre galt der Kuppelei-Paragraph §180 in voller Schärfe auch für Erwachsene und war insbesondere bei privaten Vermietern von Studentenbuden entsprechend gefürchtet! (Bitte melden: Wer kennt den §180 StGB heute noch?)

Aus Angst vor Strafe durften nach 22 Uhr abends und vor 6 Uhr morgens absolut keine weiblichen Wesen in unserem Heim gesehen werden. Was man dagegen tun konnte? Um der damals schon nicht mehr ganz zeitgemäßen Vorschrift nachzukommen, sperrte man die holde Weiblichkeit nach 22 Uhr einfach in das eigene Zimmer ein und entließ sie erst morgens nach 6 Uhr wieder in die Freiheit. Ausreichend Zeit für ein ausführliches körperliches Miteinander also. So wurde der Sinn und Zweck des Kuppelei-Paragraphen mit ein bisschen destruktiver Fantasie ganz einfach in das genaue Gegenteil verkehrt.

Raue Sitten also. Mein erstes Weihnachten wollte ich nicht fern der Heimat, sondern natürlich zuhause bei meinen Eltern und Freunden verbringen. Vor der langen Heimreise mit dem damals noch größtenteils dampfbetriebenen Zug versuchte ich noch, mich mit einem selbst gekochten Teller Spaghetti, Tomatensoße und leckerem Parmesankäse zu stärken. (Alles vom billigen ALDI, versteht sich!)

Ob’s am Reisefieber lag? Jedenfalls schaffte ich es nicht, die ganze Portion italienische Nudeln in einem Rutsch aufzuessen. Daraufhin dachte ich so bei mir, dass es doch bestimmt eine feine Sache sein würde, drei Wochen später wieder nach Göttingen zurückzukommen und dort im Gemeinschaftskühlschrank einen leckeren Essensrest vorzufinden. Schnell wieder warm gemacht, würde ich ihn mit großem Appetit und Genuss verspeisen, ausgehungert von der ebenso langen Rückreise mit der Bahn.

So jedenfalls dachte ich mir’s und stellte meine Restspaghetti mitsamt Soße, Käse und Besteck in den Kühlschrank, optisch ansprechend auf einem wunderschönen, giftgrünen Plastikteller angerichtet. (Diesen todschicken und topmodischen Teller hatte ich gleich zu Beginn meines Studiums für kaum ´ne Mark günstig beim HERTIE um die Ecke erstanden.)

Ich war nicht wenig überrascht, als ich gut drei Wochen später weder Teller noch Besteck, geschweige denn meine Spaghetti im Kühlschrank wiederfand. Die im Tagesraum anwesenden Mitbewohner sahen mich ratlos ins leere Kühlfach starren.

„Du suchst deine Nudeln?“

„Ja!“

„Ach, du warst das!“

„Ja, wieso? Das waren meine Spaghetti! Wo sind die denn jetzt?“

„Die haben wir weggeworfen.“

„Warum denn bloß?“

„Die waren doch total vergammelt, Mann. Und gestunken haben die auch – zum Hundserbarmen!“

„Ja, wirklich? Das ist dumm! Wo ist denn jetzt mein Teller?“

„Den haben wir gleich mit weggeworfen!“

„Was? Etwa mitsamt dem Besteck?“

„Na klar, Mann: mitsamt dem Besteck!“

Ich muss sagen, Mitleid oder tätige Reue sahen anders aus. Dabei war mir gerade dieser so schön giftgrüne Plastikteller – der erste Teller, den ich mir jemals von meinem eigenen Geld gekauft hatte – schon nach kürzester Zeit so ans Herz gewachsen, dass ich mich auch heute noch mit Schmerzen an diesen bedauerlichen Verlust erinnere.

Wenn ich allerdings so recht darüber nachdenke, hat man Teller, Besteck und Spaghetti nach drei langen Wochen im Kühlschrank wahrscheinlich überhaupt nicht mehr voneinander trennen können – weder optisch noch mechanisch. Die Reaktion meiner Kommilitonen war im Nachhinein also irgendwie verständlich. Dumm gelaufen...

Abschließende Verständnisfrage zum Thema „Studenten und ihre Essensvorräte”: Wie bekommt man schwarze Milch? Ganz einfach: In den Kühlschrank stellen und vergessen. Die Steinkohlebriketts der Neuzeit sind ursprünglich wohl auch auf diesem Wege entstanden. (Vielleicht gab’s ja schon in prähistorischen Zeiten Kühlschränke und Milchtüten!)

Die Liebe und das Raucherbein

Aber nicht nur Männer machen schräge Sachen, auch bei Studentinnen stieß ich gelegentlich auf recht merkwürdige Kausalzusammenhänge, die nicht so ganz in mein damals noch überwiegend logisch geprägtes Weltbild passen wollten:

Eines schönen Tages hatte ich mich über beide Ohren in eine süße Medizinstudentin verliebt. Fast jeden Abend hing ich mit ihr zusammen auf ihrer Bude ab. Zu meinem großen Bedauern war sie im Umgang mit mir eigentlich immer sehr zurückhaltend. Vielleicht lag es daran, dass sie Kettenraucherin und ich ein überzeugter Nichtraucher war.

Eines Abends war sie besonders wortkarg und niedergeschlagen.

„Was ist mit dir los? Geht es dir nicht gut?“, fragte ich besorgt.

„Nein, mir geht’s wirklich nicht so gut. Ich musste heute bei einer Operation zuschauen.“

„Und was war? War die Operation besonders schlimm?“

„Ja, einem Raucher musste das Bein amputiert werden.“

„Oh!“

„Sein letztes Bein: Das andere war ihm schon vor zwei Jahren abgenommen worden!“

 

„Tatsächlich, sowas gibt’s? Warum hat dieser Verrückte denn nicht aufgehört zu rauchen? Er musste doch wissen, dass er auch sein letztes Bein noch verlieren würde! Wie kann man nur so dumm sein?“

„Tja, heute – diese Amputation, das war wirklich ganz besonders schlimm!“

„Und? Was hast du nach der Operation gemacht?“

„Ich? Was ich getan habe? Um über den Schock hinwegzukommen, bin ich erstmal vor die Tür gegangen und hab mir eine Zigarette angesteckt!“

Besagte Studentin, die so sprach und die von mir damals heiß begehrt wurde, ging kurz nach unserem Gespräch eine feste Verbindung ein. Und heute muss ich sagen: Glücklicherweise nicht mit mir!

Ein Prinz im Wohnheim

Ausländische Studenten gab es reichlich in allen öffentlichen geführten und ebenso finanzierten Wohnheimen, die ich während meines Studiums in Göttingen bewohnen durfte. Während die hier geborenen Studenten überwiegend aus dem gehobenen Bildungsbürgertum kamen – mit mir als einer der wenigen Ausnahmen waren die Eltern meistens mindestens beamtete Lehrer, wenn nicht beruflich sogar noch höher gestellt –, kamen ausländische Studenten gar nicht so selten aus irgendwelchen Fürstenhäusern kleinerer, meist arabischer oder afrikanischer Staaten. Gehörten in ihrer Heimat also zur absoluten Oberschicht, dem auch aus deutscher Sicht superreichen Geld- oder sonstigen Adel.

Ein solcher Neuzugang machte sich in unserem Heim sofort „beliebt“, weil er der Meinung war, wir anderen Studenten kämen alle aus einer niedrigeren Kaste. (Um internationale Verwicklungen zu vermeiden, verschweige ich lieber das Herkunftsland!) Seiner Ansicht nach sollten wir alle zusammen für ihn Kochen, Einkaufen und höchstpersönlich seine Bude putzen, um nur die alltäglichsten seiner Ansprüche zu nennen. Er dachte also, wir wären allesamt sein persönliches Fußvolk, das ihn zu bedienen und zu unterhalten hätte.

Nun ja, die Gedanken sind frei. Ein jeder kann sich gern solchen Tagträumen hingeben. Nur darf er nicht erwarten, dass seine Wünsche in der harten Realität auch in Erfüllung gehen!

Es passierte also nichts von dem, was unser ausländischer Gast sich so an gewöhnlichen Dienstleistungen und Handreichungen von uns erhoffte. Für ihn vollkommen unerklärlich, verharrten wir ihm gegenüber in absoluter Passivität. Keiner von uns machte für ihn auch nur den kleinsten Finger krumm.

Notgedrungen musste er sich damit abfinden, nicht von uns bedient zu werden, und irgendwann selbst damit anfangen, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Was er dann auch tat. Nur sich selber darüber hinaus persönlich für die Wohngemeinschaft in Form der üblichen Sozialdienste nützlich zu machen, das war dann doch nicht seine Welt.

Nun ist es leider so, dass mit solchen Leuten, die wie von einem anderen Stern in die harte Wirklichkeit eines rauen Studentenlebens herabgefallen zu sein scheinen, unter echten Männern im Allgemeinen nicht lange herumgefackelt wird: Ein jeder von uns musste – ohne Ausnahme – von Zeit zu Zeit den Müll in die vor dem Haus vor sich hin müffelnden Container entsorgen. Das war die Pflicht, die uns die Hausordnung und der Gemeinschaftssinn auferlegten. Nur dass diese Tätigkeit unserem neuen, in geistig höheren Sphären verweilenden Mitbewohner überhaupt nicht beizubringen war. Er stellte sich stur, selbst als ihm die vollen Abfalleimer demonstrativ vor die Tür gestellt wurden. Das Ergebnis: Als unsere beiden Abfallbehältnisse aus Küche und Gemeinschafts-Waschraum wieder voll waren, wurde ihm der Abfall erneut vor die Tür gestellt – dieses Mal aber ohne die beiden Eimer!

Glücklicherweise waren alle anderen ausländischen Kommilitonen bei weitem nicht so hochgestochen. Die zahlreichen kalifornischen Gaststudenten in unserem Wohnheim verhielten sich zum Beispiel vollkommen normal und waren in ihrem Freizeitverhalten von deutschen Studenten so gut wie überhaupt nicht zu unterscheiden.

Und andere, ebenfalls aus exotischer Ferne zum Zweck des Studiums nach Göttingen herbeigereiste Hausgäste waren ganz einfach schlauer als unser am Ende von allen Seiten gemoppter „Wohnheimprinz“: Eine afrikanische Familie mit drei Kindern zum Beispiel, die ein Mehrzimmer-Studentenappartement bezog, brachte aus ihrer Heimat klugerweise einfach eine arme Verwandte mit, die für die ganze Familie kochen und putzen musste. Dadurch waren alle anderen Angehörigen ihrer Sippe vollkommen von den lästigen Pflichten des Alltags befreit und konnten sich damit voll und ganz dem Studium (oder anderen angenehmen Zeitvertreiben) widmen.

Norwegische Fröhlichkeit

Vollkommen unkompliziert im Umgang mit sich und der Welt war auch der norwegische Student, der ein, zwei Semester lang mein Zimmernachbar war: Als Entschädigung für die deutsche Besatzungszeit im zweiten Weltkrieg durften junge Norweger in Göttingen Medizin studieren – ohne irgendwelche Beschränkungen durch Studienplatz-Knappheit und Numerus Clausus fürchten zu müssen. (Womöglich gilt diese Regelung heute noch...) Das Studium war für die meisten aus Norwegen zugereisten Studenten allerdings eher Nebensache, stattdessen floss der in Deutschland vergleichsweise billige Fusel in Strömen. Im Zimmer nebenan war jeden Abend Party bis zum Abwinken.

Mit besoffenem Kopf kommt man schon mal auf dumme Gedanken: So wurde mein fröhlicher Nachbar eines Nachts beobachtet, wie er sturzbetrunken am Steuer seines eigenen Wagens – natürlich ein großer Volvo, wie könnte es anders sein – immer im Kreis um den im Sommer schön mit Blumen geschmückten Kandelaber mitten auf dem Göttinger Theaterplatz herumfuhr. Auf dem Dach liegend ein zweiter Norweger, der sich mit seinen Händen an den beiden Scheibenwischern festhielt und lauthals fröhliche Trinklieder ins Dunkel der Nacht hinausschrie. Auf Norwegisch, versteht sich. (Ich hoffe jedenfalls, dass es nur Trinklieder waren, die er zur Freude der aus dem Schlaf geweckten Anwohner zum Besten gab!)

Für alle, die Göttingen nicht kennen: Die hier beschriebene Örtlichkeit lässt sich auch im Heinz-Erhardt-Film „Natürlich die Autofahrer“ bestaunen. Besagter Theaterplatz ist nämlich genau derjenige Verkehrskreisel, auf dem Heinz Erhardt höchstpersönlich zum guten Ende seines Films die flüchtigen Bankräuber stellt. Während seiner Führerscheinprüfung.

Was man daraus lernen kann: Verrückter geht’s immer! (Zumindest im Film...)

Ruhe im Karton

Nach anfänglichen Schlafstörungen wurde die allabendliche Musik-Beschallung aus meinem Nachbarzimmer, von dem mich nur eine recht dünne Wand aus Gipskarton trennte, mit der Zeit zur lieben Gewohnheit. Zum Schluss konnte ich selbst bei dem lautesten Partylärm ein- und durchschlafen.

Bis es allerdings eines Nachts auch mir zu bunt wurde: Mitten in der Nacht wurde ich wach und stellte fest, dass vom Wohnheimflur her eine wirklich ohrenbetäubende Krachmusik in mein Zimmer drang. Als ich den Kopf schlaftrunken aus der Tür steckte und mich umsah, stellte ich fest, dass mein Nachbar seine mit voller Lautstärke spielende Musikanlage mitten auf den Flur gestellt hatte – vor seine und damit auch direkt neben meine eigene Zimmertür. Dazu drang aus der offenen Tür des Nebenzimmers lustiges Palaver an meine schlaftrunkenen Ohren.

Dieser nächtliche Lärm war mir dann irgendwie doch zu viel. Ich überlegte, was ich tun sollte. Statt lange und höchstwahrscheinlich ergebnislose Diskussionen mit den schon ziemlich angeheiterten Gästen zu führen, erschien es mir am einfachsten, direkt zum zentralen Sicherungskasten zu gehen und der Krachmusik „den Saft“ abzudrehen. Ein Gedanke, den ich umgehend in die Tat umsetzte: Im Schlafanzug stapfte ich tapfer und unbeirrbar an der lauten Musik und der offenen Nachbartür vorbei bis ans Ende des dunklen Flurs, öffnete den Sicherungskasten und legte den Schalter um. Sofort herrschte gespenstische Stille auf dem Flur, und ich vernahm nur noch das fröhliche Lachen der Partygäste.

Nach dieser gewalttätigen Aktion legte ich mich wieder ins Bett, starrte minutenlang an die dunkle Zimmerdecke und konnte bei der ungewohnten Stille nun erst recht nicht mehr einschlafen. Also quälte ich mich wohl oder übel wieder aus dem Bett und mischte mich unter die Feiernden im Nachbarzimmer – immer noch müde und immer noch mit meinem langweilig blau-weiß gestreiften Schlafanzug angetan.

Das Zimmer, in dem mein Nachbar hauste, war nicht sehr groß: Bett, Sofa, ein Tisch, ein kleiner Schrank und ein paar Stühle füllten die privat vermietete Studentenbude vollkommen aus. Überall saßen Partygäste herum – auf dem Bett, auf den Stühlen und sogar auf dem Fußboden. Es wurde gelacht, geraucht, geredet und getrunken. Die Stimmung war entspannt und ausgelassen. Mein fröhlicher und erstaunlich trinkfester Nachbar thronte gut gelaunt mit zwei heißen Bräuten im Arm auf dem Sofa und schien hoch erfreut über meinen unerwarteten Besuch zu sein. Schnell kamen wir ins Gespräch, und ich wunderte mich, dass keinen der anwesenden Gäste das Fehlen der lauten Partymusik zu stören schien.

Irgendwann traute ich mich zu fragen, was den eigentlich mit der Musik sein? Ob es denn keinem aufgefallen sei, dass sie so plötzlich ausgegangen sei. Ja, meinten einige Gäste, sie hätten sich schon gewundert, warum es mit einem Mal so leise gewesen sei!

Warum die Musikanlage denn nicht hier im Zimmer, sondern draußen auf dem Flur stehen würde, fragte ich weiter. „Oha!“, kam es zurück: Im Zimmer sei die Musik doch einfach viel zu laut gewesen. Da habe man die ganze Anlage einfach vor die Tür gestellt. Und überhaupt: So wie’s jetzt wäre – ganz ohne Musik, da wäre es doch eigentlich viel, viel schöner!

Dieser weisen Einsicht, Ergebnis einer absolut lückenlosen logischen Beweiskette, konnte ich nur aufs Höchste erfreut zustimmen. Irgendwann in dieser Nacht bin ich dann wohl doch noch zum Schlafen gekommen…

Eine unruhige Nacht im „Affenheim“

Sex im Bett wird meiner Meinung vollkommen überbewertet. Denn man kann es ja auch anderswo sehr schön miteinander treiben: im Auto etwa oder im Wald, auf dem Sofa und so weiter und so fort. Erwarten Sie hier von mir also bitte nicht die üblichen Bettgeschichten, sondern ehe solche wie die nun Folgende:

Von diesem wohl – wie ich hoffe – ziemlich einmaligen Sexerlebnis berichtete mir Kalle Reimann, damals wissenschaftlicher Assistent an dem berühmten Institut für theoretische Mathematik in der „Bunsenstraße“:

Kalle wohnte mit seiner Verlobten Eva im Erdgeschoss des öffentlich geförderten Studentenwohnheims für afro-asiatische Studenten, in der Göttinger Szene besser bekannt als „Affenheim“. Im Erdgeschoss lag auch der Eingang zur Wohnheim-eigenen Diskothek, die sich an der Göttinger Universität einen gewissen Kultstatus erarbeitet hatte. Nirgendwo sonst konnte man so einfach Studentinnen aus der nahe gelegenen Pädagogischen Hochschule treffen und „aufreißen“ wie hier. Also war die Affenheim-Diskothek fast jeden Abend bums-voll mit paarungswilligen Studentinnen und Studenten.

Der große nächtliche Ansturm auf die Musikkneipe sorgte natürlich auch auf dem Flur im Erdgeschoss, von dem aus es geradewegs in das Einzimmerappartement von Eva und Kalle ging, immer für Betrieb, soll heißen, für regen Personenverkehr.

Eines schönen Abends lag Kalle neben seiner Eva im Bett und hatte Probleme einzuschlafen. Er drehte sich auf ihre Seite und flüsterte leise:

„Entschuldige mal, Eva, aber ich muss dringend nochmal schnell aufs Klo!”

„Kein Problem, Kalle! Beeil’ dich aber bitte und lass’ das Licht aus, ich bin schon fast am Einschlafen.”

Eva sprach’s und drehte sich wieder auf die von ihr bevorzugte Schlafseite.

Kurze Zeit, nachdem Kalle aus dem Zimmer über den Flur zur Gemeinschaftstoilette gegangen war, huschte er schon wieder durch die Tür zurück ins dunkle Zimmer. Eva ermahnte ihn im Halbschlaf:

„Schließ’ doch bitte noch die Tür ab!”

Wie befohlen drehte sich der Schlüssel im Schloss. Unmittelbar darauf ging im partnerschaftlichen Gemeinschaftsbett ein wildes Geschmuse los. Erst kam Eva das plötzliche Interesse ihres Verlobten zu solch nachtschlafender Zeit nur komisch vor, dann zunehmend merkwürdig und merkwürdiger. Schließlich, als sie die starke Alkoholfahne unmittelbar über ihrem Gesicht bemerkte, wurde sie panisch. Im gleichen Moment versuchte jemand, von außen die verschlossene Zimmertür zu öffnen: Ihr aus dem Zimmer ausgesperrter Kalle stand vor der Tür und konnte nicht herein!

 

Gemeinsames Geschrei – im Zimmer und auf dem Flur – schlugen den sexbesessenen Eindringling in die Flucht, bevor Schlimmeres passieren konnte: So schnell und heimlich, wie er gekommen war, verschwand er wieder aus dem warmen Bett, stolperte durchs dunkle Zimmer und schloss die Tür von innen auf. Vor der Tür wartete der aufgeregte und wütende, weil ausgesperrte und schändlich hintergangene Verlobte und warf den dreisten Eindringling zur Belohnung für seinen Sex-Frevel mit Schmackes gegen die andere Flurwand.

Allen denen, die diese abenteuerliche Geschichte nicht so recht glauben wollten, konnte als Beweis ein deutlich sichtbarer länglich-ovaler Fleck an der Wand des „Affenheims“ gezeigt werden – genau gegenüber von Evas und Kalles Tür.