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3 Die zentralen pastoraltheologischen Reflexionsaufforderungen





3.1 Das Problem der Kirchenbildung: Kirche funktioniert offenbar anders, als sie selber möchte





Zentrales Merkmal der untersuchten Gruppe und recht eigentlich der Grund, sie zu erforschen, ist die Tatsache, dass sich die Kasualienfrommen klassisch-vorkonziliaren wie nachkonziliaren gemeindeorientierten Konzepten der Kirchenbildung entziehen, ohne freilich jeglichen Kontakt zur Kirche aufzugeben. Sie nutzen Kirche also in anderer Weise, als diese es möchte.



Klassisch-katholische Kirchenbildung war zumindest seit der Rekonfessionalisierung des 19. Jahrhunderts die tendenziell rückhaltlose Integration in die „societas perfecta ecclesia catholica“. Päpstlich-priesterliche Imperative beanspruchten, das Leben bis in das Privateste hinein zu regeln,

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 die jahres- und lebensbegleitenden Riten und Sakramente bedeuteten Schutz und Heimat in der Institutionsfestung Kirche, bedeuteten Integration in eine wirkliche Schicksals-, Glaubens- und Heilsgemeinschaft, die nicht nur synchron, sondern auch diachron universale Züge besaß. Sie zu verlassen, hieß Glauben, Heil und Heimat zu verlassen und soziale Anerkennung zu verlieren, es bedeutete, einem ungewissen Schicksal entgegenzugehen, in der Transzendenz, aber auch schon unter ganz irdischen Bedingungen.



Nachkonziliar gemeindlich-familiaristische Kirchenbildung hingegen wollte und förderte Integration in einen nunmehr (fast) hierarchiefreien Raum voller (Pfarr-)Aktivitäten, (Familien-)Kreise und voller Kommunikation in, zumeist, freundschaftlicher Halbdistanz. Die nunmehr auch in der katholischen Kirche entdeckte Gemeinde wurde als „Pfarrfamilie“ der Emanzipierten und geschwisterlich Verbundenen erhofft und gedacht und zum Teil auch gestaltet. Nachkonziliare Kirchenbildung war nach der vorherrschenden pastoraltheologischen Theorie und zu einem gehörigen Teil auch in der realen Praxis vor allem aktivierende Gemeindebildung. „Lebendige Gemeinde“ wurde zum überwölbenden Schlagwort gerade zu Zeiten beginnender Erosion der (volks)kirchlichen Gnadenanstalt.

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Im gewissen Sinne stellt dabei der regelmäßige Sonntagskirchgang die zentrale Kontinuität zwischen vorkonziliar juridisch-katholischer und nachkonziliar gemeindlich-familiaristischer Kirchenbildung dar. In vorkonziliaren Zeiten war der Sonntagskirchgang die Pflicht zum gültigen Messbesuch, in der gemeindetheologischen Phase bedeutete er die Teilnahme am wöchentlichen Treffen der Pfarrgemeinschaft als liturgischer Gemeindeversammlung mit anschließendem (gemütlichen) Beisammensein. Der (halbwegs) regelmäßige Sonntagskirchgang blieb, was er schon vorkonziliar war: das charakteristische Merkmal katholischer Kirchenzugehörigkeit. Gerade ihn aber stellten die Befragten ein, ohne allerdings sich von der Kirche ganz abzuwenden. Der „biografische Verlauf“, so Först in seinem Resümee, „ist in den Interviews durchgängig: Kindheit und Jugend sind zumeist von einer recht intensiven Phase der Beteiligung am kirchlichen Leben und einer von Frömmigkeit geprägten Alltagswelt gekennzeichnet.“

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Damit zeigt sich: Die katholische Kirche möchte seit einiger Zeit als „Gemeindekirche“ funktionieren, wird von ihrer eigenen Mehrheit aber als

rituelle Lebensbegleitungskirche

 genutzt. Der von der Studie herausgearbeitete Hauptgrund für diese bleibende Nutzung bei alltäglicher Abstinenz, die Hoffnung auf biografischen „Schutz und Segen“ angesichts der Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens, ist plausibel und im Übrigen an sich relativ kompatibel zum kirchlichen Verständnis der Kasualien.



Wie verhält sich nun aber dieses reale Funktionieren der Kirche zu ihrem Selbstverständnis? Natürlich gab es immer eine Differenz zwischen kirchlichem Selbstverständnis und kirchlicher Realität, doch es dürften schwer Zeiten auszumachen sein, in denen das Bewusstsein von dieser Differenz so unabweisbar war und in denen diese Abweichung eben nicht einfach in moralischen Kategorien gefasst werden kann, was sie für die Institution selber ja immer relativ leicht und vor allem folgenlos kommunizierbar macht.



Die zentrale Reflexionsherausforderung für die katholische Pastoraltheologie in diesem Feld dürfte darin liegen, zwei ihrer habituellen Orientierungen zu überschreiten: jene auf die Personen wie jene auf die Institutionen. Vielleicht ist eine der Lehren dieser Studie, dass zukünftig eine stärker

inhaltsbezogene

 Reflexion und Konzeption kirchlichen Handelns seitens der Pastoraltheologie zu favorisieren wäre.



Die Pastoraltheologie ist bekanntlich eine Wissenschaft aus dem Geist der (österreichischen und katholischen) Aufklärung.

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 Sie beginnt als Berufswissenschaft des Pastors, als Reflexion seiner ständischen Rechte und Pflichten, als Handlungs- und Klugheitslehre eines institutionellen und im Übrigen staatsnahen und beamtenähnlichen Rollenträgers. Mit der Aufklärung teilt die Pastoraltheologie dabei zum einen den Glauben an die Plan- und Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Prozesse, zum anderen, dass diese Modellierung am schnellsten über die Erziehung einer gebildeten und loyalen Klasse von aufgeklärten professionellen Akteuren ginge. Von daher ist der katholischen Pastoraltheologie ein gewisser Personalismus eigen, der vorkonziliar klerikal zentriert war

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 und sich nachkonziliar, wie grundsätzlich nur zu begrüßen, auf der Basis des konziliaren Volk-Gottes-Begriffs und mittels einer Art nachholender Rezeption des modernen Subjektbegriffs auf die unterschiedlichsten Mitglieder der Kirche weitete.



Seit der entwickelten Moderne, bekanntlich die Zeit der exponentiellen Vermehrung der Institutionen, teilt die Pastoraltheologie zudem die neuzeitliche Focussierung auf Institutionen als den zentralen Gestaltungsmomenten gesellschaftlicher Wirklichkeit. Das beginnt bereits in der „Bürokratisierung“ der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert,

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 setzt sich mit dem Aufbau eines hochkomplexen und in sich reich differenzierten „katholischen Milieus“ während der Pianischen Epoche fort, gewinnt einen ersten Höhepunkt mit der (erstmaligen) Einführung eines kirchenweiten Gesetzbuches 1917 und steigert sich gegenwärtig mit der forcierten Rezeption organisationsentwicklerischer Techniken und Instrumentarien in den krisenhaften Transformationsprozessen einer gesellschaftlich „auf den Markt“ gekommenen Religion, wo sich die Kirche in der markttypischen Spannung von individuellem Kundenhandeln und vielfältigen Rahmenregulierungen

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 behaupten muss und dazu zunehmend auf entsprechende avancierte Techniken aus Wirtschaft und Verwaltung zurückgreift.



Das ist unter bestimmten Bedingungen alles durchaus sinnvoll und verläuft jedenfalls kongruent zur gesellschaftlichen Entwicklung. Die vorliegende Studie mahnt aber dazu, sowohl den Personalismus der Pastoraltheologie wie ihre Institutionsfixierung zu überschreiten hin zu einer stärkeren materialen Orientierung pastoraltheologischer Reflexion auf die pastorale Qualität von Handlungsprozessen an unterschiedlichsten Orten und von unterschiedlichsten Subjekten.



Denn genau das ist nämlich nun notwendig. Die Subjekte wie die Institutionen werden fließend, verlieren ihre vormalige relative Eindeutigkeit, werden flexibel, unberechenbar, werden gar innerhalb der Kirche zu einer „unbekannten Mehrheit“. Weder Institutionen noch Personen sichern damit länger, was sie doch früher zu garantieren schienen: nicht nur analysier-, sondern auch steuerbare Agenten kirchlichen Handelns zu sein, sei es im Subjekt-, sei es im Objektstatus. Sie entziehen sich solchen Zuschreibungen und bauen eigene, unkontrollierbare, ja unbekannte Handlungs- und Interpretationsmuster auf.



Das muss Konsequenzen für die pastoraltheologische Reflexion von Handlungssituation und Handlungsaufgabe der Kirche haben. Die bislang in der Pastoraltheologie übliche Konzentration auf die institutionellen Strukturen und Mechanismen kirchlichen Handelns wie die Konzentration auf die personalen Träger dieses Handelns kommt an ihre Grenzen, wenn seitens der Einzelnen mit den Institutionen frei umgegangen wird und auch Personen unberechenbar, ja unbekannt werden.



Innerhalb der pastoraltheologischen Konstitutionstrias Person – Situation – Tradition scheint in Zeiten der Verflüssigung alter personaler und institutioneller Sicherheiten eine gewisse neue Schwerpunktsetzung auf die Tradition, wenn auch in einem ziemlich neuen Modus, nahe zu liegen. Denn es geht offenbar zukünftig nicht mehr allein um die Optimierung kirchlicher Institutionen oder um die Reflexion und Konzeption kirchlichen Handelns seitens christlicher Akteure, nicht mehr also um die Reflexion und Konzeption von selbstverständlich als christlich-kirchlich angenommenen Institutionen und/oder Akteuren, sondern um die (pastoral-)theologische

Qualifikation ausgesprochen steuerungsunabhängigen Handelns auch innerhalb der Kirche

.



Die stillschweigende Vorstellung jedenfalls, innerhalb der Kirche gäbe es, bei allen sündenbedingten Abweichungen, nur glaubenskonforme Handlungs

intentionen

 und Handlungs

interpretationen

, muss man jedenfalls aufgeben. Das aber führt zur Frage, wie man die realen Handlungsabsichten und Handlungsinterpretationen der Gläubigen bewertet, wenn sie von den kirchenoffiziellen abweichen und diese Abweichungen, die es früher sicherlich auch gegeben hat, nicht mehr durch kircheninterne Mechanismen in der Latenz gehalten werden können, sondern bisweilen sogar mit einem gewissen Stolz veröffentlicht oder wenigstens durch einschlägige Studien wie die vorliegende öffentlich wahrnehmbar gemacht werden.



Die zwei nahe- und bereitliegenden Reaktionsmechanismen jedenfalls, nämlich die erhobenen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen entweder zu „taufen“ und damit in die bestehenden Normalinterpretationen der kirchlichen Kasualien interpretatorisch einzuordnen, oder aber deren Träger zu „exkommunizieren“ und ihnen die kirchlichen Handlungen zu verweigern, welcher Weg zwar seltener eingeschlagen, aber doch immer mal wieder versucht wird,

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 diese beiden Straßengräben bestimmen zwar das gegenwärtige Bild kirchlichen Handelns angesichts des neuen Phänomens einer religiös „unbekannten Mehrheit“, sie können aber nicht als kreative Antwort auf die Herausforderung dieses Phänomens betrachtet werden, im Gegenteil: Sie reagieren zwar auf das Neue der Situation, aber sie reagieren nicht neu, sondern in den Mustern des Alten.

 



Das ist aber auch solange gar nicht anders möglich, als die neuen Handlungs

intentionen

 und Handlungs

interpretationen

 der Kasualienfrommen primär von ihrer Nähe bzw. Abweichung zu den bestehenden kirchenoffiziellen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen betrachtet werden und nicht auch als (diesmal kircheninterne) „Zeichen der Zeit“, an denen sich die bisherigen kirchlichen Interpretationen und Intentionen, aber auch Formen und Weisen sakramentalen oder sakramentsnahen Handelns weiterzuentwickeln haben.



Vielleicht steht der Pastoraltheologie unter solchen Bedingungen sogar eine

„materiale“ Wende

 bevor, hin zu einer stärkeren Orientierung an dem, was die Tradition, also die Entdeckungen unserer Väter und Mütter im Glauben ausmacht. Denn nur solch eine materiale Orientierung mit stärkerer Nähe zur Systematischen Theologie und Exegese,

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 aber auch zur Kirchengeschichte als Geschichte des „geglaubten Gottes“

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 macht es möglich, die Tradition als die Geschichte der innovatorischen Entdeckungen des Glaubens aktiv weiterzutreiben, hier in der Form einer Weiterentwicklung des Verständnisses und der Praxis der Sakramente und Sakramentalien jenseits von Rigorismus und Laxismus, jenen letztlich ebenso naheliegenden wie hilflosen Reaktionsweisen.



Studien wie jene von Först/Kügler zwingen die Pastoraltheologie, konkrete innerkirchliche Prozesse hinsichtlich ihrer materialen Nähe und Distanz zum Evangelium zu analysieren und zu qualifizieren. Das muss aber weit jenseits der analytisch qualifikatorischen Einordnungsprozesse liegen, wie sie für das Kirchenrecht typisch sind, das muss sogar jenseits dessen liegen, was die Pastoraltheologie traditionell an praktischer Innovationskraft besitzt, das muss situativ kontextualisiert in jenen Bereich ragen, der traditionell für den dogmatischen Diskurs reserviert ist, also in den Diskurs der intellektuellen Entdeckung und Verantwortung des Glaubens.



Die Pastoraltheologie wird angesichts der Herausforderung einer „unbekannten Mehrheit“ im eigenen Haus mit gänzlich neuen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen von zentralen kirchlichen Ereignissen, wie Sakramente es sind, konfrontiert. Ihr traditionelles Geschäft der (Handlungs-)Optimierung kirchlicher Institutionen oder der Thematisierung der Handlungssituationen und Handlungsprobleme kirchlicher Akteure wird sie dabei überschreiten müssen, hin zu einer Theorie und Praxis der theologischen Qualifikation und Identifikation religiösen (und nicht-religiösen) Handelns, ganz unabhängig von deren Nähe und Distanz der Akteure zu kirchlichen Sozialformen. Sie wird das tun müssen, gerade wenn sie beiden, kirchlichen Institutionen wie kirchlichen Personen, geben will, was sie ihnen schuldet: Perspektiven für die Zukunft des Evangeliums heute.



Dabei aber entsteht ein Problem: Diese Prozesse verlaufen plural und dezentral, sie entziehen sich tendenziell dem generalisierenden wissenschaftlichen Zugriff, eröffnen sich vielmehr erst der pastoralen Reflexion vor Ort. Woraus sich ein konkreter Hinweis für das pastorale Handeln der kirchlichen Hauptamtlichen an der Basis ergibt: Ihre Reaktion auf die Kasualienfrommen sollte weniger von deren Nähe bzw. Distanz zum kirchlich-gemeindlichen Sozialraum gekennzeichnet sein, sondern vom materialen Gehalt des anstehenden Sakraments und der Realität des Lebens der Beteiligten und ihres subjektiven und objektiven Bezugs zu diesem Sakrament.







3.2 Jenseits der „Kirchenzugehörigkeit“: Wohinein die „Kasualien“ führen





Es ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie, dass die Teilnahmebegründung „Das gehört einfach dazu“ offenbar bei Kasualienfrommen wie bei regelmäßigen Gottesdienstbesuchern gleichermaßen zu finden ist. Während das bei Letzteren natürlich wenig überrascht, so doch umso mehr bei der ersten Gruppe, für die doch kirchliches Partizipationsverhalten normalerweise gerade nicht „dazugehört“. Die These von Johannes Först, es handele sich hier um etwas anderes als nur „um eine eher vordergründige Reminiszenz an frühere Handlungsmuster“

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, scheint insofern plausibel, als der Satz „Das gehört einfach dazu“ nunmehr eben nicht mehr dafür steht, kirchliche Handlungsmuster unhinterfragt zu übernehmen, sondern vielmehr gegenläufig „auf Bedeutsames“

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 verweist bei Menschen, die zentrale kirchliche Handlungsmuster hinter sich gelassen haben.



Först arbeitet überzeugend heraus, dass jenes „Bedeutsame“, auf das der Satz „Das gehört einfach dazu“ referiert, der Raum ist, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit Hilfe ihrer merkwürdig selektiven, aber doch auch treuen Kasualienfrömmigkeit integrieren. Dieser Raum ist aber entgegen dem Verständnis, das die Kirche mit ihren sakramentalen Handlungen verbindet, nicht die konkrete vorfindliche Kirche oder gar Gemeinde. Das verstört zwar die konkrete Kirche verständlicherweise, kann aber nicht überraschen, schließlich bleiben die Kasualienfrommen diesem Raum ja normalerweise bewusst und also aus subjektiv guten Gründen fern.



Der Raum, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit ihrer Partizipation an kirchlichen Sakramenten und Sakramentalien begeben, ist nicht die Gemeinde, ist nicht die Kirche, ist vielmehr die Welt überhaupt, der Kosmos, ist die Normativität (ihrer) „normalen“ Existenz.



Der Welt, wie sie den IP als ‚gegeben‘ entgegenkommt, wird grundsätzlich positive, zumindest aber lebensrelevante Bedeutung beigemessen. Auch wenn in den Interviews freilich verschiedene Bedeutungsinhalte genannt werden, wird der ‚gegebenen‘ Welt doch eine gewisse ‚Normativität‘ zugestanden (‚Was ist, gilt!‘). In Frage kommen etwa bestehende Gesellschaftsstrukturen und -bereiche, Sinnangebote, Kasualien u. a. Vieles wird nicht zur Disposition gestellt oder erst selbst entworfen. Der Satz „das gehört dazu“ bezieht sich auf dieses Welt- bzw. Lebensverständnis. Er steht für die Vorgehensweise, eigene Handlungsorientierungen in die bestehende, gültige Welt einzuordnen. Mit diesem Einordnungsprozess wird dem eigenen Handeln dann jene Normativität zugeschrieben, welche die Welt als Gegebene im persönlichen Weltverständnis vorgängig besitzt. Der Satz „Das gehört dazu“ kann somit als ‚Ausrufezeichen‘ aufgefasst werden, mit dem die IP die Gültigkeit, nicht etwa Beliebigkeit, ihres Alltagshandelns unterstreichen.

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Damit aber gilt: Die Kasualien „werden als Bestandteile einer gegebenen, gültigen Welt bzw. Gesellschaft aufgefasst, hinter die viele mit ihrem Lebensentwurf nicht zurückgehen.“

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 Die „so verstandene Welt wird dann als ‚normal‘ bezeichnet“, wobei dann „Normalität“ und „Normativität“ fließend ineinander übergingen. Der Sonntagsgottesdienst hingegen, so Först, sei offenkundig „aus diesem (routinisierten) Relevanzgefüge herausgefallen“.

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Auch für die Kasualienfrommen bedeutet die Teilnahme an den kirchlichen Kasualien also Integration in einen sie übersteigenden Raum, nur ist dieser um einiges größer und umfassender als jener der „Kirchenfrommen“, wenn wir einmal jene so nennen wollen, die halbwegs regelmäßig sonntags zur Kirche gehen. Denn für diese ist es die Integration in den Sozialraum katholische Kirche, wenn natürlich auch dieser Sozialraum einen ihn übersteigenden religiösen Anspruch kommuniziert. Für die Kasualienfrommen aber ist es die ganze Welt, besser

ihre

 ganze Welt mit ihrer „normalen Normativität“ oder auch „normativen Normalität“, sind es zuletzt „Kosmos“ und „Gesellschaft“, in die hinein sie sich mit Hilfe der Kasualien integrieren: bewusst, halbbewusst oder mehr oder weniger unbewusst.



Das „dazu“ im Munde der Kirchenfrommen bezieht sich somit auf etwas anderes als jenes im Munde der Kasualienfrommen. Für diese referiert das „dazu“ auf die Normalität ihrer Existenz. Hart an der Grenze zur Selbstreferenz bezieht sich das „dazu“ auf die eigene, zwar als gefährdet wahrgenommene, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellte Existenz, die religiös-rituell gefestigt wird. Das „Das gehört einfach dazu“ der Kasualienfrommen besitzt somit einen enormen

affirmativen Gehalt

.



Das „dazu“ im Munde der Kirchenfrommen hingegen referiert stärker auf den kirchlichen Sozialraum, so wie es die kirchliche Verkündigung ja auch will. Ob diese Referenz dann ebenso primär affirmativen Gehalt hat wie jene der Kasualienfrommen oder doch einen eher (selbst-)kritischen, das hängt dann noch einmal von den spezifischen Sinngehalten ab, die der kirchliche Sozialraum und seine verantwortlichen Akteure jeweils bei der Spendung der Kasualien aktualisieren.



Die Teilnahme an kirchlichen Kasualien ist den Kasualienfrommen mithin Sprungbrett für einen in doppeltem Sinne extensiveren Einordnungsakt als die Integration in eine fremd gewordene und zudem in ihrer Regionalität und Begrenztheit nur allzu wahrnehmbare Kirche. Extensiver ist dieser Akt, insofern er unbestimmter, weniger intensiv und auch diffuser ist als der Integrationsakt in den vorfindlichen Sozialraum „Kirche“ und seine Konkretion „Gemeinde vor Ort“; extensiver ist er aber auch, insofern der Raum, in den man sich einordnet, größer, weiter ist, letztlich die ganze Welt der Kasualienfrommen umfasst und das in einem spezifischen Zugangsmodus: als „normative Normalität“.



Kasualienfromme integrieren sich in das, was für sie – offenbar wenig unterschieden – „die Normalität“, „die Welt“, „die Gesellschaft“ ist. Dass dies in einer „doppelten Relevanzstruktur von Bedeutung und Nicht-Thematisierung“

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 geschieht, wie Först schreibt, widerspricht dem nicht, macht eher auf die durchaus subtile Struktur dieses Geschehens aufmerksam.



Idealtypisch verdichtet handelt es sich um Menschen, die sehr genau um die Prekarität, die Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens wissen. Ihre Entscheidung, an den Kasualien teilzunehmen, entwerfen sie in diesen Lebenshorizont hinein. Nicht derart, dass mit den Kasualien das Unverfügbare des Lebens aus der Welt geschafft werden könnte, doch aber so, dass es eine Perspektive eröffnet, ein riskiertes Leben hoffentlich meistern zu können.

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Der „Raum normativer Praktiken“, den die Kasualienfrommen mit der Teilnahme an den kirchlichen Feiern betreten, ist nicht der kirchliche Raum im engeren Sinne, es ist der Raum der Normalität ihres Lebens überhaupt. Alfred Dubach hat in einer Analyse des von ihm so genannten „rituellen Mitgliedschaftstyps“ die These vertreten, dass in „der Beanspruchung kirchlicher Amtshandlungen bei Lebenswenden sich eine eigenständige Form von Kirchenzugehörigkeit (äußert)“

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. Diese Feststellung ist auf dem Hintergrund der vorliegenden Studie zu ergänzen. Denn so sehr sie aus der Perspektive der kirchlichen Institution zutrifft – und hier zugleich eine rein defizitorientierte Wahrnehmung der Kasualienfrommen übersteigt –, so sehr bleibt diese Feststellung doch material auf den klassischen kirchlichen Sozialraum bezogen und lässt unberücksichtigt, dass der Raum, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit der Teilnahme an spezifischen kirchlichen Akten begeben, ein gänzlich anderer ist als jener der Kirchenfrommen.



Dies könnte im Übrigen geradezu eine partielle Rehabilitierung einer klassisch defizitorientierten Sicht der Kasualienfrommen nach sich ziehen, schließlich ist es zum einen einer Institution ohne Zweifel erst einmal freigestellt, selbst die Kriterien ihrer Mitgliedschaft zu definieren, hat eine Institution grundsätzlich das Recht, Nähe und Distanz spezifischen Verhaltens ihrer Mitglieder zu ihr selbst zu definieren. Nun hat die katholische Kirche im II. Vatikanum diese rein institutionalistische Sicht der Kirchenmitgliedschaft allerdings grundsätzlich verlassen und auf der Basis des Wissens um den universalen Heilswillen Gottes eine differenziertere und komplexere Sicht der Kirchenzugehörigkeit entwickelt. In ihr werden Nähe und Entfernung von der Kirche Jesu primär nicht institutionell, sondern vielmehr geistlich und handlungsbezogen bestimmt.

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Insofern sich aber eine Defizitanalyse eben nicht alleine auf die Mängel an kirchlicher Partizipation beziehen kann, sondern auch auf die Nähe und/oder Distanz des jeweiligen Handelns zu Sinn und Bedeutung des Evangeliums, kann, ja muss es jenseits einer partizipationsorientierten Defizitzuschreibung eine am materialen Gehalt der kirchlichen Riten orientierte kritische Konfrontation von Person und Kirche geben. Der affirmative und normalitätsstabilisierende Charakter ihres Handelns etwa ist angesichts der selbst- und fremdkritischen Stoßrichtung der christlichen Botschaft sicherlich kr