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3 Körpermacht: Gottes Niederlage

Sexuelle Gewalt ist weniger ein sexuelles als ein Machtphänomen. Befragungen von Tätern und Opfern veranschaulichen, daß es den Tätern in erster Linie um Machterleben geht, nämlich darum, sich überlegen zu fühlen, zu demütigen, zu strafen, Wut abzulassen oder die eigene Männlichkeit zu beweisen. Sexualität ist lediglich ein – sehr effektives – Mittel dazu.106

Sexueller Missbrauch im Rahmen pastoralen Handelns ist Übergriff, Vertrauensbruch und auf Grund des doppelten Machtgefälles (Erwachsener – Kind; „Pastor“ – Pastorierte/r) ein Machtphänomen an sensiblem Ort. Und er ist eine Niederlage Gottes im Handeln des Volkes Gottes und dessen Priester.

Denn christliche Seelsorge ist nicht irgendein Handeln, sondern Handeln in der Nachfolge der Gottesverkündigung Jesu. Zentrum der Verkündigung Jesu aber ist seine Botschaft vom unmittelbar anbrechenden Reich Gottes. Eine der zentralen Aussagen dieser Botschaft steht in den Seligpreisungen der Bergpredigt. Dort heißt es: „Selig die Armen, denn ihrer ist die Gottesherrschaft. Selig die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden. Selig die Weinenden, denn sie werden lachen“ (Lk 6,20b-21).

Arme, Hungernde und Weinende werden hier ohne irgendeine im engeren Sinne religiöse Qualifikation gepriesen: Ihnen gilt das angekündigte eschatologische Heil. Jesu Seligpreisungen verweisen nicht auf eine unabsehbare Zukunft. Die zugesagte Heilszukunft der Gottesherrschaft ist zwar in ihrer Fülle eine eschatologisch-zukünftige Größe, aber nicht nur bei Gott schon jetzt beschlossen, sondern sie wirkt sich bereits jetzt schon, eben in Kleinen, Machtlosen, den Weinenden aus. Für und in Jesus werden Gott und Gottes politisch-säkulare Dimension, sein Reich, konkrete Praxis. Sie werden Praxis im Wort der Verkündigung dieses Gottes und in den konkreten Taten der Zuwendung Jesu zu denen, die Beistand benötigen, Heilung und Hilfe. Alle Pastoral ist Nachfolge dieses Handelns Jesu.

Christliche Seelsorge ist daher zuallererst Diakonie, ist helfendes Handeln in der Nachfolge Jesu und seiner Reich Gottes-Botschaft.107 Es ist für christliche Seelsorge konstitutiv, sich um Menschen in Not zu kümmern. Tut sie es nicht, gründet ihr Handeln nicht in ihrem Gründer. Seelsorge ist eine Form der Pastoral, also der kreativen Konfrontation von Gegenwart und Evangelium. Die Kirche hat in ihrer Seelsorge Jesus und seines Gottes Barmherzigkeit108 in Wort und Tat zu repräsentieren.

Es gibt in jedes Menschen Leben das, woran man glaubt, real, im Vollzug der eigenen Existenz, nicht nur und wahrscheinlich nicht einmal zuerst im Bewusstsein und in dem, was man ausdrücklich bekennt. Zu erkennen ist dies aber am unverstellbarsten in den Taten und Vollzügen des eigenen Lebens. Unser Glaube ist das, wonach wir leben, das, woran wir zuletzt hängen, das, worauf wir wirklich in unseren Entscheidungen und Alltagshandlungen vertrauen.

Zentrales Prinzip christlicher Seelsorge ist der Gottesbegriff Jesu. Er kritisiert alle Götter, die menschliches Leben bedrücken. Es gibt deren bekanntlich viele, in jedem Leben. Seelsorgliche Kompetenz heißt, nach dem Gott und den Göttern des eigenen oder fremden Lebens fragen und die eigenen Götter in den Horizont des Gottes Jesu stellen zu können. Versklaven die Götter des eigenen Lebens oder befreien sie zu einem mutigen und erfahrungsreichen, zu einem (sich selbst und anderen) treuen und beziehungsintensiven, zu einem tapferen und abenteuerlichen, vor allem aber ehrlichen und andere auferbauenden Leben?

Die entwickelte Moderne hat die Kirche fast aller gesellschaftlicher religiösen Macht beraubt. Sexueller Missbrauch in der Pastoral nimmt das in anderer Weise, mit anderen Mitteln und am denkbar intimsten Ort – aus welchen individuellen Gründen auch immer – zurück.109 Sexueller Missbrauch nimmt zurück, was die Kirche endlich in aller Konsequenz realisiert hat nach tausend Jahren „konstantinischer Formation“ und also gesellschaftlicher Sanktionsmacht: dass Seelsorge der freie Zuspruch, die diakonische Hilfe des Gottes Jesu in Wort und Tat ist, selbstlos und absichtslos, einfach, weil Gottes universaler Heilswille es so will.

Seelsorge, das ist Befreiung von den falschen Göttern des Lebens, sexueller Missbrauch in der Pastoral etabliert aber genau solche falsche Götter: zuerst und brutal den der Macht. Sexueller Missbrauch in der Pastoral spricht handelnd von einem Gott der erzwungenen, erschlichenen Nähe, einem Gott, der machtinduzierte Nähe mit Liebe verwechselt, also einem im strikten Sinne perversen Gott. Diesen Gott der (schleichenden oder manifesten) Gewalt und der Macht hat es in der Kirche immer wieder gegeben, so sehr Jesus ihn eigentlich ein für alle Mal vertrieben hat.

Seelsorge, das ist Befreiung von den falschen Göttern des Lebens, so von den kleinen und armseligen eines allzu behaglichen und selbstzufriedenen Lebens. Denn Gott fordert uns auf, dieses eine und einmalige Leben mit allem Ernst und aller Intensität zu führen, im Wagnis für ihn und die Menschen und in der Glaubenssicherheit, zuletzt eben nie und nimmer unterzugehen, weder in der Kälte des schweigenden Kosmos noch in jener des menschlichen Hasses. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott des (sexuellen) Kleinmuts und des Machtgefälles menschlicher Intimbeziehungen, verkünden sie einen Gott, der Kinder in die Kälte simulierter Nähe und schwer oder gar nicht verarbeitbarer Erfahrungen schickt.

Seelsorge, das ist Befreiung von den blendenden und verführerischen Göttern selbstherrlicher Selbstüberschätzung, denn wir sind nicht die Götter unseres eigenen Lebens oder auch nur seine Macher und alles, was wirklich wichtig ist für uns, von unserer schieren Existenz bis zur Liebe eines Menschen, ist reines und letztlich unverdientes Geschenk. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott, der den Autoritäten alles erlaubt, sogar das Unerlaubte, der Liebe und Zuwendung abhängig macht von Gefügigkeit und gewährtem Opfer. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, repräsentieren sie den verführerischen Gott der rücksichtslosen Selbstherrlichkeit.

Seelsorge, das ist Befreiung von den krankmachenden Göttern mangelnden Selbstvertrauens und mangelnder Selbstbestimmung: von nicht endender Trauer, unterdrückenden Familien- und Beziehungsverhältnissen, von fesselnden Abhängigkeiten. Denn wir sind die von Gott geliebten Kinder, der nicht unser Unglück, sondern unser Leben in Fülle will, auch und gerade in unserer ganzen, völlig unvermeidlichen Schuldhaftigkeit. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott unterdrückender Abhängigkeiten im Intimsten, einen Gott, der allzu oft dann auch tatsächlich krank macht, Selbstvertrauen und Autonomie zerstört und Schuld nicht nimmt, sondern Schuldgefühle auferlegt.

Seelsorge, das ist Befreiung von den diversen Göttern menschlicher und religiöser Repression. Denn der Gott Jesu ist ein Gott der Freiheit und des Kampfes für die Ausgestoßenen, ein Gott, der jenen, die wirklich aus allen Rastern der Anerkennung fallen, seine ganz selbstverständliche Solidarität anbietet: den „moralisch Zweifelhaften“, den unheilbar Kranken, den „Unreinen“110, den Kindern, den Leistungsunfähigen. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott, der all dies schreiend nicht ist: kein Gott der Freiheit, sondern der Macht, nicht des Kampfes für die Ausgestoßenen, sondern einer, der Ausgestoßene produziert, kein Gott der Kinder, sondern der Erwachsenen.

Von Gott wissen wir nach Jesus vor allem eines: Er hat die Liebe zu ihm und jene zu unseren Mitmenschen radikal identifiziert. Alle Götter, die Menschen knechten und versklaven, die sie unfrei und krank machen, sind Götzen: mächtig und wirksam, aber christliche Seelsorge nimmt den Kampf mit ihnen auf. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, da ist dieser Kampf fast schon verloren.

Götzen sind Machthaber über unser Leben, die funktionieren, sei es im Interesse von staatlicher oder religiöser Herrschaft, sei es im Interesse eines „guten Lebens“ des Einzelnen, seiner selbstzufriedenen Behaglichkeit, seiner befriedeten Existenz. Christliche Seelsorger und Seelsorgerinnen haben demgegenüber einen Gott zu präsentieren, der grundsätzlich unverfügbar ist, der als er selber ein Geheimnis bleibt: das Geheimnis unseres Lebens, das uns selber unendlich übersteigt. Seelsorge ist die Präsentation dieses Gottes in den konkreten Realitäten individueller Biografien. Sexueller Missbrauch durch Seelsorger aber ist seine aktive Leugnung in den konkreten Realitäten individueller Biografien – und das im Kontext seiner behaupteten Bezeugung.

Der Gott Jesu ist die große Hoffnung im Leben jedes Menschen, denn er lehrt die Welt mit anderen Augen zu sehen. Er kritisiert die Götzen und solidarisiert sich mit den Leidenden. Er ist in niemandes Händen verfügbar. Er ist kein Gott der Macht, sondern der Solidarität mit den Ohnmächtigen.111 Sexueller Missbrauch im Kontext der Pastoral ist das Gegenteil: Er ist ein Teil von Gottes Niederlage in seiner Kirche.

ZIEMLICH IRRELEVANT – SPÄTESTENS HEUTE
Eine pastoraltheologische Lektüre des Synodenbeschlusses „Ehe und Familie“

„Das Aufbrechen der klassischen Dichotomien der Lebenswelten und Denksysteme markiert auch ein Ende der Ausgrenzungen und einen Beginn des Versuchs, das andere im eigenen und im eigenen das andere zu erkennen – auch das ganz andere einer mit Gott benannten Wirklichkeit“112

Regina Ammicht Quinn

1 Die Irrelevanz

Der pastoraltheologische Kommentator des Synodenbeschlusses „Ehe und Familie“ der „Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahre 1975 könnte es sich 36 Jahre später leicht machen, es kurz halten und die praktisch vollständige Bedeutungslosigkeit der im damaligen Synodenbeschluss repräsentierten kirchlichen Diskurse für die heutige Lebenswirklichkeit von Katholikinnen und Katholiken notieren. Er könnte sich dabei sogar auf bischöfliche Worte berufen: „Wir spüren ja“, so der Trierer Bischof Ackermann im Februar 2011, „dass die Kirche hier auf breiter Fläche nicht mehr gefragt ist, dass Menschen da keine Orientierung mehr von ihr erwarten.“113 Es ging Ackermann um die kirchliche Sexualmoral, und um die geht es beim Synodenbeschluss „Ehe und Familie“, wie bei diesem Thema katholisch üblich, zum nicht geringen Teil auch.

 

Bischof Ackermann, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Fragen des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche,114 resümiert in erfreulicher Deutlichkeit, worauf die wissenschaftlichen Daten seit längerem hinweisen:115 In kaum einem Bereich hat sich die katholische Kirche diskursiv tiefer ins Abseits der Irrelevanz manövriert denn in jenem prekären Feld menschlicher Existenz, das im kirchlichen Jargon mit den Stichworten „Ehe und Familie“ umschrieben wird, lehramtlich eine spezifische und durchaus nicht widerspruchsfreie Kopplung von Sexual-, Pastoral-, Gesellschafts-, Politik- und Moraldiskurs repräsentiert und tatsächlich in so ziemlich jedes Menschen Leben eine prekäre Realität anvisiert: wie im engsten Kreis zusammenleben: frei und doch auf Dauer, intim und respektvoll, kooperativ und solidarisch, intergenerationell und Kinder gebärend und sozialisierend, und dabei als Ort physischer Stabilisierung und psychischer Regeneration – um einige klassische Elemente einer kulturunabhängigen Familiendefinition zu nennen. Und das als fehlbare, schwache und bedürftige Menschen?

Mit großer Selbstverständlichkeit geht der Synodenbeschluss davon aus, dass die katholische Kirche bei der Gestaltung von privaten Intimbeziehungen und speziell in sexualibus gefragt ist und gefragt wird, dass man von ihr Orientierung erwartet, ja Gefolgschaft leistet. Der Synodenbeschluss repräsentiert auf weite Strecken noch jenen kirchlichen Erlaubnis-, Herrschafts- und Autoritätsdiskurs, wie er über lange Jahrhunderte das private wie öffentliche Leben beherrscht hatte.

Damit aber ist es nun vorbei, selbst bei Katholikinnen und Katholiken und selbst bei jenen, die grundsätzlich der Kirche noch etwas glauben und daher Kontakt zu ihr halten. Maria Widl hält ebenso lapidar wie zutreffend fest: „Seit Humanae vitae erweist sich die kirchliche Lehre über Ehe und Sexualität auch innerkirchlich als unvermittelbar“ und in die Kultur hinein wirke „sie nur insofern, als Menschen sich selbst als automatisch aus der Kirche ausgeschlossen betrachten, wenn sie sich scheiden lassen.“116

Der Synodentext arbeitet somit auf einer Grundlage, die nicht mehr existiert und selbst damals, sieben Jahre nach Humanae vitae, schon reichlich brüchig war. Er wirkt daher wie ein Relikt aus jüngst vergangenen Zeiten, als die private und intime Lebensführung sich zumindest grundsätzlich und in ihren Normen noch nach kirchlichen Vorgaben richtete.117 Vor allem für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung erscheint somit der vorliegende Text interessant, nicht unbedingt für die notorisch gegenwartsorientierte Pastoraltheologie, der es um den situativen Sinn und die Bedeutung kirchlicher Traditionen heute geht.118

Eine solche im eigentlichen Sinne pastorale Bedeutung scheint der Synodentext kaum mehr zu besitzen. Sinn und die Bedeutung dessen, worum es der katholischen Tradition im Bereich des engsten menschlichen Zusammenlebens geht, mag dem Text zu entnehmen sein, praktische Wirksamkeit entwickelt er selbst bei den Katholikinnen und Katholiken nicht mehr. Zudem dürfte er auch den kirchlichen Insidern schlicht mehr oder weniger unbekannt sein.

2 Analytische Annäherungen

Der pastoraltheologischen Kommentierung stehen in dieser Lage nun aber einige erprobte wissenschaftliche Auswege offen.

2.1 Die Restrelevanz

Zum einen kann auf eine gewisse pastorale Restrelevanz des kirchlichen Moraldiskurses hingewiesen werden. Diese Restrelevanz wird gerade durch die mittlerweile fast unüberbrückbar breite Zone zwischen offizieller kirchenamtlicher Normierung und heutiger Beziehungsrealität eröffnet – wenn auch meist im Modus des Konflikts. Austragungsorte solcher Konflikte sind dann zum Beispiel die professionellen pastoralen Akteure, etwa im jugendpastoralen Bereich.119 Sie sind angehalten, qua Dienstpflicht Positionen zu vertreten, die sie zum größten Teil selbst nicht für plausibel erachten, die sicherlich jedenfalls den wenigsten ihrer Adressaten noch plausibilisierbar sind.

Auch wirken in spezifischen kirchlichen Sozialmilieus, etwa in den Pfarrgemeinden, die kirchlichen Lehren zu Ehe und Familie durchaus noch wertungs- und milieuprägend nach. Gegen die kirchlichen Lebensführungsnormen (offen) verstoßende Gemeindemitglieder und Hauptamtliche im pastoralen Dienst müssen immer noch mit Ausgrenzungsreaktionen rechnen. Freilich sind auch Phänomene einer gewachsenen Toleranz gegenüber „abweichenden“ Lebenskonzepten im innerkatholischen Milieu zu beobachten,120 nicht zuletzt die fast schon selbstverständliche Akzeptanz quasi-ehelicher Lebensformen von Pfarrpriestern seitens der Gemeinde belegt dies. Diese sich anbahnende Offenheit könnte darin begründet sein, dass auch ältere Gemeindemitglieder spätestens in den Lebensformen ihrer eigenen Kinder und Enkel seit einiger Zeit mit den gewandelten Beziehungsrealitäten der Gegenwart konfrontiert sein dürften und entweder die Sinnlosigkeit moralisierenden Protests dagegen erkennen oder gar diese neue Beziehungspluralität als Fortschritt gegenüber der eigenen, „unfreieren“ Sozialisation erleben.

Nicht zu vergessen schließlich ist das persönliche Gewissen, das sicher für manche Katholikin, manchen Katholiken einen Ort darstellt, an dem der Spalt zwischen eigener Lebensweise und Lebensform und kirchenoffiziellen Normierungen zumindest erkennbar und relevant wird und wo daher die offizielle kirchliche Lehre bleibende, wenn auch relativierte Relevanz besitzt.

2.2 Die gesellschaftliche Entwicklung

Die pastoraltheologische Relektüre des Synodenbeschlusses kann zudem die Entwicklungen rekonstruieren, die zur beschriebenen Irrelevanz kirchenoffizieller Diskurse im Feld von „Ehe und Familie“ führten. Hier dürften zwei an sich zu unterscheidende, sich aber wechselseitig verstärkende und zuletzt in ihrer gemeinsamen Grammatik verwandte Prozesse zu jener geradezu diametralen Spreizung von kirchlicher Norm und realen Praktiken auch bei praktizierenden Kirchenmitgliedern im Feld von Ehe, Familie und Sexualpraktiken geführt haben, die heute zu beobachten ist.

Zum einen hat in den letzten Jahrzehnten ein grundlegender Umbau der Vergesellschaftungsformen des Religiösen in der deutschen Gesellschaft stattgefunden. Religiöse Partizipation und religiöse Praktiken organisieren sich dramatisch abnehmend in den Kategorien von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht, wie sie für die katholische Kirche lange nicht nur normativ, sondern in hohem Maße auch real galten. Im Zuge der globalen Durchsetzung eines liberalen, kapitalistischen Gesellschaftssystems geraten religiöse Plausibilitäten und die ihnen folgenden moralischen Normen und Praktiken unter den Zustimmungsvorbehalt des Einzelnen. Je näher diese Plausibilitäten und Normen die persönliche Lebensführung berühren, umso mehr wird diese Freiheit auch beansprucht.121 Dies bedeutet nichts weniger als die Verflüssigung der Kirchen als ehemals mächtige Heilsbürokratien.122

Der gleiche hintergründige Freisetzungsprozess hat auch zur Verflüssigung der früher mehr oder weniger ehernen Geschlechterrollen geführt. Es ist zwar erst seit kurzem, aber eben mittlerweile überaus wirksame gesellschaftliche Realität, dass Frauen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsressourcen und damit zu Positionen mit eigenständigen Einkommens- und damit Selbsterhaltungschancen besitzen.123 Dies befreite Frauenbiografien von der früher praktisch unlösbaren (Ausnahme: Klostereintritt) Kopplung an Männerbiografien. Grundsätzlich entkoppelt wurden zudem mehr oder weniger zeitgleich Sexualität von Reproduktion sowie das patriarchale Schema, das Frauen der „Innenwelt“ von Gefühl, Haushalt und Religion, Männer aber der „Außenwelt“ von Öffentlichkeit, Herrschaft, Rationalität und Krieg zuwies.

Der daraus folgende irreversible Wandel der Familienformen ist Gegenstand intensiver soziologischer Forschung.124 Denn:

[Das] Ausmaß der Veränderungen ist verblüffend. An Stelle der fraglosen Realisierung der elterlich-traditionellen Lebensform ist deren Infragestellung getreten. Was bei den Eltern noch als kulturelle Selbstverständlichkeit galt, ist für die Kindergeneration zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen den Partnern geworden. (…) Das Hochbemerkenswerteste dieses Wandels liegt in der Tatsache, daß er sich in einem Zeitabstand von nur einer familiaren Generation abgespielt hat.125

Die Zahl der Eheschließungen pro Tausend Einwohner etwa nahm von 1950 bis 2009 um mehr als die Hälfte von 10,8 auf 4,6 ab.126

Selbst auf einem Studientag der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2008 wurde vom familiensoziologischen Referenten den kirchlichen Amtsträgern deutlich gemacht, dass unter diesen Bedingungen eine „Re-Traditionalisierung von Ehe und Familie, damit eine unweigerliche Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse … ausgeschlossen“127 ist. Wobei die Geschichte belegt, dass etwa jenes vom kirchlichen Lehramt noch bis vor kurzem teilweise vehement vertretene Modell der „Hausfrauenehe“128 selbst erst neueren Datums ist, insofern „die in den letzten Jahrzehnten gestiegene Erwerbstätigkeit von Müttern kein neuartiges Phänomen [ist], sondern … nur die Rückkehr der Frauen in früher innegehabte Positionen des Produktionsprozesses [bedeutet]“129. Erst für die bürgerliche Ehe ab dem 19. Jahrhundert war es charakteristisch, dass die Ehefrau keiner Erwerbsarbeit nachgehen musste. Neu freilich ist heute die tendenzielle, wenn auch immer noch zögerliche, politisch aber gewollte und unterstützte Auflösung geschlechtsspezifischer Berufswahl und Statuslagen.

Die strukturelle Individualisierung, welche die Lagen und Interessen von Männern und Frauen gegeneinander freisetzt und einerseits zur Pluralisierung der Lebensformen führt, andererseits zu permanenten Aushandlungsprozessen zwingt, fördert nun aber umgekehrt die Sehnsucht nach Zweisamkeit. Ehe, Familie, Partnerschaft werden zum Ort, wo die emotionalen Defizite und Widersprüche einer durchmodernisierten Markt- und Wettbewerbsgesellschaft kompensiert werden sollen.

Betrachtet man die drei wichtigsten Partnerschaftsformen – Ehe, living apart together und nichteheliche Lebensgemeinschaften – zusammen, so wird im jungen Erwachsenenalter sogar eine zunehmende Bindungsquote über die Generationen hinweg sichtbar. Für fast 95 Prozent der … Großstädter ist die feste Zweierbeziehung nach wie vor das angestrebte Beziehungsideal.130

Familie und Paarbeziehung sind mit Abstand das Wichtigste im Leben der Deutschen und doch – oder eben gerade deshalb – stiegen die Scheidungszahlen131 und steigt weiterhin die Zahl der Alleinlebenden.132 Es gibt nach wie vor eine große Sehnsucht nach einer glückenden, dauerhaften Paar- und Familiengemeinschaft als Bereitschaft zu und Erfahrung von umfassender Solidarität zum anderen als Gesamtperson, inklusive gar der Bereitschaft, diese in eine verbindliche, etwa eheliche rechtliche Form zu bringen, was nicht zuletzt die in fast allen entwickelten Ländern zu beobachtende Institutionalisierung homosexueller Beziehungen in eheähnlichen Formen belegt. Wenn freilich die Partnerschaft die erhoffte Dichte der Erfahrungen und Gefühle nicht erreicht, dann wird die „Ehescheidung … immer öfter als legitime Form ehelicher Konfliktlösung und immer seltener als moralisches Versagen der Ehepartner interpretiert.“133

 

Dieser Befund markiert eine merkwürdige Umkehrung der Struktur von Intimität und Ökonomie. In vormodernen, agrarischen Gesellschaften war die Ehe ein (trieb-)ökonomisches Projekt, das zwar sexuelle, aber keineswegs personale Intimität voraussetzte. Nähe fand man in dem, was heute eher Öffentlichkeit heißt: bei Freunden, den eigenen Verwandten, im Wirtshaus, auch in der Geborgenheit einer stabilen religiösen Verortung. Die Ehe war ökonomisch, aber nicht notwendig personal intim. Heute soll sie nicht nur sexuell, sondern auch personal intim sein, aber gerade nicht mehr ökonomisch motiviert. Sie ist es auch tatsächlich immer weniger. Ökonomisch grundiert ist heute vor allem die Entscheidung für oder gegen Kinder. Das ist im Übrigen überaus rational, setzt die Entscheidung für Kinder wegen der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“134 der Gesellschaft gegenüber Familien doch die Lösung von ausgesprochen schwierigen mittel- und langfristigen Ressourcen- und Vereinbarkeitsproblemen voraus. Kinder sind neben der Arbeitslosigkeit hierzulande schließlich das größte Armutsrisiko.