Zwischen "nicht mehr" und "noch nicht"

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Die zehn Lebensstufen

Hier zunächst ein Überblick über alle Lebensstufen, welchem Lebensalter sie ungefähr zuzuordnen sind und welche Grundthemen dabei eine Rolle spielen.

Lebensstufe 1 (Schwangerschaft bis 1. Lebensjahr)

Urvertrauen versus Misstrauen

Lebensstufe 2 (2. bis 3. Lebensjahr)

Erste Emanzipation von Vater und Mutter

Lebensstufe 3 (4. bis 6. Lebensjahr)

Ich wäre so gerne …

Lebensstufe 4 (6. Lebensjahr bis zur Pubertät)

Neugierde versus Frustration

Lebensstufe 5 (Pubertät bis zum 16. Lebensjahr – Jugendalter)

»Held / Heldin« oder die Angst zu versagen

Lebensstufe 6 (frühes Erwachsenenalter)

Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit

Lebensstufe 7 (reifes Erwachsenenalter)

Den eigenen Weg finden

Lebensstufe 8 (Mitte des Leben)

Verantwortung versus Überheblichkeit

Lebensstufe 9 (Ausscheiden aus dem Berufsleben)

Die große Chance, weise zu werden

Lebensstufe 10 (Lebensabend)

Abschiedlich leben

Lebensstufe 1: Urvertrauen versus Misstrauen

Jedes Kind hat ein Bedürfnis nach Nahrung, Geborgenheit, Nähe zur Mutter oder anderen Bezugspersonen. Während der Schwangerschaft ist der Fötus auf besondere Weise geborgen, so, wie es das Kind später nie mehr sein kann. Der Fötus ist durch eine Symbiose der lebenswichtigen Systeme – Herz-Kreislauf, Stoffwechsel – mit der Mutter in der Gebärmutter verbunden. Es ist wie ein Leben im Paradies. Aber es kann nicht immer so sein. Beide spüren: Es muss etwas Neues geben, die Zeit im Mutterleib ist begrenzt.

Wenn das Kind dann außerhalb des Mutterleibes erfährt, dass das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit trotzdem erfüllt wird, und es spürt, es wird nicht alleingelassen, kann es ein tiefes Vertrauen entwickeln, dass auch die neue, unbekannte, kalte Welt zu einem Zuhause werden kann. Ja, diese neue Welt ist aufregend, will erkundet werden.

Dazu ist es nötig, dass der Säugling auch das Misstrauen kennenlernt. Die Mutter oder der Vater können nicht immer sofort da sein, weil sie zum Beispiel etwas im Haushalt tun müssen oder mit Geschwistern oder anderen Menschen beschäftigt sind. Das Kind muss auch die Frustration ertragen, dass seine Wünsche nicht sofort erfüllt werden. Diese Zeiten, in denen das Neugeborene alleine ist, fördern sein Misstrauen. Es ist wichtig, dass ein Kind Vertrauen und Misstrauen kennenlernt. Entscheidend für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung aber ist, dass sich das Vertrauen stärker entwickelt als das Misstrauen. Die Erfahrungen in dieser Lebensphase sind prägend für unser ganzes Leben. Ramona Rudolf, eine junge Hebamme, äußert sich hierzu folgendermaßen: »Die Entstehung von Urvertrauen ist viel diskutiert. Ich denke, dem Neugeborenen geht es um die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Davon hat es wenige: Nahrung, Geborgenheit und Zuwendung. Diese Bedürfnisse kann es nur über Körpersprache und das Schreien kundtun. Urvertrauen entsteht dann, wenn die Eltern diese Aufgaben zuverlässig wahrnehmen. Sie erkennen ein Bedürfnis und erfüllen es. Dann lernt das Kind, dass für es gesorgt wird, wenn es etwas braucht. Des Weiteren wollen Kinder sich geliebt fühlen. Dieses Gefühl entsteht durch häufigen Körper- und Hautkontakt. Meist können die Bedürfnisse nicht prompt erfüllt werden, weil die Eltern oft noch gar nicht wissen, was dem Kind fehlt. Insofern kommt es zu einer geringen Verzögerung der Bedürfniserfüllung. Wenn diese Verzögerung im Rahmen bleibt, wirkt sich dies aber nicht negativ auf die weitere Entwicklung des Urvertrauens des Kindes aus.«

Kleine Kinder sind gute Beobachter, aber schlechte Interpreten. Sie nehmen wahr, dass die Eltern unruhig, in einer schlechten Stimmung sind oder keine Zeit haben. Sie erleben in dieser Situation mangelnde Zuwendung und leiden daran. Die kindliche Seele ist sehr verwundbar. Was uns trösten kann, ist die Erfahrung, dass die neugeborenen Kinder einen Schutz haben. Die Seele des Kindes ist gewissermaßen von einer schützenden Hülle umgeben. Diesen Schutz können wir den kleinen Kindern noch nicht erklären, aber wir können sie später für sie durch Bilder, Lieder und Gebete erfahrbar machen.

Lebensstufe 2: Erste Emanzipation von Vater und Mutter

Das Kind beginnt in dieser Lebensphase eigene Wege zu gehen, zum Beispiel die Wohnung zu erforschen. Das wird unterstützt durch die neu erlernten Fähigkeiten: Gehen, Sprechen und Stuhlkontrolle. Konkret muss das Kind lernen, Dinge festzuhalten oder loszulassen. Freud und Erikson weisen deshalb auf die Reinlichkeitserziehung hin, die von den Psychoanalytikern auch als anale Phase bezeichnet wird.

In dieser Zeit entwickelt das Kind eine Vorstellung von »ich« und »du« und von »meins« und »deins«. Für die Eltern ist diese die Erforschung der Umgebung manchmal etwas strapaziös, wenn alle Regale und Schränke ausgeräumt werden – und selten wieder ein – oder der teure CD-Player nach einer solchen Erkundungsreise seinen Geist aufgibt.

Zudem fordert der Trotz des Kindes die Geduld der Eltern. Viele fühlen sich gerade in dieser Phase überfordert durch die Wut, die aus den Kindern herausbricht. Für die Identitätsbildung ist diese Phase jedoch sehr wichtig, weil sich hier das eigene Selbstbewusstsein herausbildet und in späteren Jahren wesentlich dazu beiträgt, ob jemand neugierig auf die Welt ist und Freude daran hat, etwas Neues zu entdecken.

Den aufrechten Gang lernen kleine Kinder im Alter zwischen neun Monaten und zwei Jahren. Dazu muss man viel üben und mutig sein: sich drehen, hochziehen, hinfallen, wieder aufstehen – und irgendwann kommt der Moment, da das Kind losgeht und dem eigenen Körper vertraut. Es spürt einen Drang, eine Sehnsucht nach »oben«. Das ist nicht nur eine biologische Tatsache, sondern auch eine spirituelle Erfahrung und hat gravierende Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein. Der kleine Mensch ist nun kein Baby mehr, sondern ein Kleinkind und kann loslaufen!

Lebensstufe 3: Ich wäre so gerne ...

In dieser Lebensphase sucht der kleine Mensch nach seinem Platz in der Welt. Es merkt: Es gibt andere Kinder und andere Familien. Der Kreis erweitert sich, räumlich und in Bezug auf Personen. Erste Freundschaften werden geschlossen. Die meisten gehen jetzt in die Kita, die aus zwei Gründen eine immer größere Bedeutung hat: Hier lernen sie gemeinsam mit anderen Kindern und erleben mit Erzieherinnen und Erziehern neue Bezugspersonen außerhalb der eigenen Familie.

Spielerisch erleben Kinder die Welt und üben verschiedene Rollen ein. Diese Zeit ist also ein Schlüssel zur Welt der Erwachsenen. Wer arbeitet, ist erwachsen. Deshalb lieben Kinder in dieser Altersstufe das Nachspielen von Berufen und Alltagssituationen der Erwachsenen, zum Beispiel im berühmten Kaufmannsladen, wo noch richtig bedient wird. Oder das Geschehen auf dem Bauernhof, wo der Acker gepflügt und die Tiere gefüttert werden. Kinder sind Lokomotivführer, die mit der Spielzeugeisenbahn im Kreis fahren, und Piloten, die ihre Flugzeuge sicher durch die Lüfte steuern. Und oft überlegen Kinder in diesem Alter auch, wen sie später einmal heiraten wollen. Ich erinnere mich an einen Jungen im Kindergarten, der mir einen Heiratsantrag machte, und ich überlegte, wie ich ihm sagen sollte, dass ich nicht einverstanden war!

Im Folgenden schließen sich nach der Beschreibung der jeweiligen Lebensstufe Fragen an, die der eigenen Reflexion dienen. All unsere Erfahrungen haben uns zu dem Menschen gemacht, der wir heute sind. Indem wir unser eigenes Leben nochmals betrachten, können Zusammenhänge deutlich werden, warum wir so sind, wie wir sind. Die meisten Menschen können sich bis in die Kindergartenzeit zurückerinnern. Deshalb laden wir zu einer Zeitreise ein, die in dieser Lebensstufe beginnt:

Übung

Suchen Sie sich einen ruhigen Platz und eine ruhige Zeit und überlegen Sie: Welche Erinnerung haben Sie an Ihre Kindergartenzeit? Waren es Personen oder Ereignisse, an die Sie sich gut erinnern? Wie haben Sie sich in der Kindergartenzeit gefühlt? Hatte die Zeit prägenden Charakter? Wenn ja, inwiefern? Gab es erste Freundschaften? Vorbilder? Orientierung? Welche Rollenspiele haben Sie gemocht? Was wollten Sie später einmal werden?

Lebensstufe 4: Neugierde versus Frustration

Dieser Lebensabschnitt beginnt mit der Einschulung. In den letzten Jahren bekam er eine immer größere Bedeutung. Man kann das an den Einschulungsgottesdiensten erkennen, die meist so voll sind wie sonst nur an Weihnachten. Es ist ein imposanter Anblick, wenn die Kinder mit ihren recht großen Schulranzen und mit ihren Eltern sowie Oma und Opa in die Kirche kommen und am Ende des Gottesdienstes mit ihren Klassenlehrerinnen aus der Kirche ziehen und gemeinsam zu ihrer Schule gehen. Der Schulbeginn ist ein wichtiges Ritual auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Das Wichtigste an diesen Gottesdiensten ist dabei die Segnung. Die Erstklässler treten einzeln nach vorne und werden gesegnet mit einem biblischen Wort, zum Beispiel Psalm 84,12: »Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre: er wird kein Gutes mangeln lassen, denen, die an ihn glauben.« Der Einschulungsgottesdienst ist ein gutes Zeichen dafür, dass christliche Symbolik noch immer eine große Kraft besitzt.

Es gibt aber eine Gefahr, die nicht verschwiegen werden sollte: Das Bewusstsein, auf einer neuen Stufe zu stehen und die neuen Aufgaben bewältigen zu können, braucht einen inneren Halt. Es braucht Vertrauen – Selbstvertrauen und Gottvertrauen. Es ist unsere Versuchung, diesen Halt im Äußeren zu finden. Beim Schulbeginn wird das deutlich an der Ausstattung der Schulkinder, was Schulranzen und Kleidung betrifft. Das Vergleichen beginnt!

Ich erinnere mich an eine Situation in meinem ersten Jahr am Gymnasium. Ich hatte eine neue Freundin gefunden und besuchte sie nachmittags. Ich fuhr mit dem Bus dorthin und war beeindruckt von dem großen Haus, in dem sie wohnte, mit riesigem Garten drum herum. Abends wollten die Eltern mich nach Hause fahren. Das war mir äußerst peinlich. Ich wollte nicht, dass sie unser einfaches Reihenhaus sehen. Ich sagte, sie könnten mich an der Ecke absetzen, ich würde den Rest zu Fuß gehen. Das taten sie natürlich nicht! »Alle Not kommt aus dem Vergleich« – das bekommen wir schon sehr früh im Leben zu spüren.

 

Nicht nur die äußeren Dinge müssen dem Vergleich standhalten, sondern mit Beginn der Schulzeit sind die Kinder erstmals damit konfrontiert, dass es unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten gibt. Manche sind sportlich, andere musikalisch, manchen fällt das Lernen leicht, manche tun sich schwer. Diese Unterschiede werden bewertet, und es ist hart, wenn man sich nur »auf den hinteren Rängen« befindet. Dann ist es besonders wichtig, dass das Kind spürt, ganz unabhängig von Leistung geliebt zu werden.

Es ist interessant, dass Kinder, die sonst häufig zu Hause und in der Schule laut und unkonzentriert sind, dann, wenn sie intrinsisch, also von innen heraus für eine Sache motiviert sind, in dieser Lebensphase herausragende Leistungen erbringen. Die meisten Kinder sind neugierig, wollen vieles ausprobieren und Erfahrungen machen. Sie wollen beispielsweise unbedingt ein Instrument erlernen oder widmen sich intensiv einer Sportart. Oft wechselt das Interesse und es gilt, die Balance zu halten zwischen alles Mögliche möglich zu machen und flexibel auf die Wünsche des Kindes zu reagieren und dem Kind beizubringen, an einer Sache dranzubleiben und Frustrationen zu ertragen, wenn es mal schwierig wird.

Übung

Welche Erinnerung haben Sie an Ihre Schulzeit? Gab es Dinge, die Sie gut konnten oder für die Sie sich besonders interessiert haben? Haben Sie Freunde fürs Leben gefunden? Welche Rolle haben Sie in der Klasse gehabt? Eine Führungsposition? Oder waren Sie Mitläufer, Außenseiter? Wie haben Sie Ihre Freizeit verbracht? Welche Dinge haben Sie ausprobiert?

Lebensstufe 5: »Held / Heldin« oder die Angst zu versagen

Interessant an dieser Lebensstufe ist, dass diese gesamte Zeit eine Übergangsphase bildet: vom Kind zum Erwachsenen. In dieser Zeit ist der Mensch weder Kind noch erwachsen. Und das macht es so schwierig. Physisch und psychisch verändert sich enorm viel.

Im Alter zwischen 12 und ca. 16 Jahren befinden sich Menschen in einer Lebensphase, die eine neue Dimension in ihr Leben bringt. Der junge Mensch geht in Konfrontation mit seinen Eltern und entdeckt seine Sexualität. Die Erfahrung von Sehnsucht, Leidenschaft und Begierde bringt die Welt der Jugendlichen durcheinander. Sie sind so mit sich beschäftigt, dass die Schule zeitweise keine große Rolle mehr spielt. Stattdessen geht es darum, herauszufinden, wer bin ich als Mann oder Frau? Das lässt sich letztlich nicht theoretisch herausfinden durch Information und Gespräche, so wichtig es auch ist, den eigenen Körper biologisch zu verstehen. Männlichkeit und Weiblichkeit kann ich nur entdecken, wenn ich Erfahrungen mache. Das ist nicht ungefährlich. Sexualität ist eine große Kraft. Sie zu zähmen, nicht aber zu unterdrücken, ist eine große Lebensaufgabe. In der Pubertät entdecken viele mit der Sexualität eine Kraft, die Berge versetzen kann, die zum Guten, aber auch zur Zerstörung von persönlichen Beziehungen führen kann.

Die pubertierenden jungen Menschen müssen herausfinden, welche Nähe und Distanz für sie gut ist. Dabei ist ein Begleiter hilfreich. Das kann Vater oder Mutter sein, oft ist es aber einfacher, jemanden zu haben, der wie ein großer Bruder oder eine große Schwester zu einem steht, jemanden, dem man vertrauen kann. Neben dem Erwachen der Sexualität ist die Abgrenzung von den Eltern und vom ganzen »Establishment« wichtig, um die eigene Identität zu finden. Während der Pubertät werden alle Gefühle sehr intensiv erlebt, große Glücksgefühle, aber auch Wut, Verzweiflung und Enttäuschung, Einsamkeit. Negative Gefühle werden häufig auf Eltern und Familie projiziert, sie sind schuld an dem empfundenen »Weltschmerz«. Eltern sind oft ratlos und fühlen sich ohnmächtig. Sie können sich nur damit trösten, dass diese schwierige Zeit vorübergehen wird. Die Jugendlichen aber stecken mittendrin und sind oft uneins mit sich selbst.

In dieser Unsicherheit suchen sie nach Halt in einer Gruppe, einer Clique. Sie sind auf der Suche nach Anerkennung, möchten sich beweisen und ihren Platz finden. Gleichzeitig spüren sie die Angst, Erwartungen nicht zu genügen, dass andere besser ankommen und beliebter sind.

Pubertierende zeigen oft eine große Sehnsucht nach Ekstase, nach Verschmelzen in einer großen Gruppe Gleichgesinnter bei Konzerten, Fußballspielen, politischen Demonstrationen oder kirchlichen Großveranstaltungen. Solche großen Feste – gemeinsam besucht – können wieder neu ein Band zwischen Jugendlichen und Erwachsenen knüpfen.

Übung

Denken Sie zurück an Ihre Jugendzeit, an die erste Freundschaft, an die ersten intimen Erlebnisse mit dem anderen Geschlecht. Denken Sie an die Momente der Einsamkeit und Verlassenheit! Was hat Ihnen immer wieder Mut gemacht?

Lebensstufe 6: Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit

Die nächste Lebensstufe beginnt mit dem Ende der Schulzeit. Neun bis dreizehn Schuljahre liegen dann hinter uns und haben uns geprägt. In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Ende der Schulzeit häufig nicht gefeiert. Es galt als altmodisch. Ich habe zum Beispiel mein Abiturzeugnis im Vorzimmer des Schulrektors von der Sekretärin ausgehändigt bekommen. Als ich danach draußen stand, hatte ich ein komisches Gefühl – das war nun alles? Den anderen Abiturienten ging es genauso.

Heute ist uns bewusster, wie wichtig es ist, das Ende von Lebensphasen zu feiern und für alles, was war, Dank zu sagen. Es tut der Seele gut, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was alles in den vergangenen Jahren geschehen ist. Wie viele Stunden der Angst es gab, dass die Noten nicht genügen, oder des Stolzes, wenn es gut lief. Die Freundschaften mit Klassenkameraden kommen aus der Erinnerung hoch, ebenso an die unerfüllten Sehnsüchte, aber auch die erfüllten Zeiten. Es ist gut, sich das noch einmal bewusst zu machen und dann davon Abschied zu nehmen. Den Blick wenden von dem, was war, zu dem, was kommt.

Heute gibt es eine Renaissance der Tradition, »auf der Walz« zu sein, also als Handwerksgeselle von zu Hause wegzugehen, auf eigenen Beinen zu stehen, Neues zu lernen, den Horizont zu erweitern und Klarheit über den eigenen Weg zu finden.

Viele wollen deshalb auch nach dem Abitur einen »Break« und nicht gleich studieren, sondern ein Jahr etwas anderes erleben und sehen, häufig auch eine Zeitlang arbeiten. Ein solches Jahr ist für die Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig. Das Bewältigen von schwierigen Situationen gehört zum Erwachsenwerden dazu. Pippi Langstrumpf sagt es so: »Oh, das hab ich ja noch nie gemacht. Na, dann wird es wohl gelingen.«

Als unsere Tochter nach dem Abitur nach Tansania ging, haben wir uns tränenreich verabschiedet. Sie ging durch die Gepäckkontrolle am Flughafen und hat sich nicht mehr umgedreht. Sie wusste nur den Namen eines Mönches, der sie am Flughafen in Daressalam abholen sollte.

Irgendwann beginnen dann aber alle ein Studium oder eine Ausbildung und machen somit weiter mit dem Lernen. Es hat aber jetzt eine andere Qualität: ernsthafter und selbstbestimmter. Der junge Mensch wird erwachsen. Einerseits ist das Studentenleben von einer Freiheit geprägt, die es so im späteren Leben nicht mehr gibt. Andererseits gehen viele Studenten neben dem Studium noch arbeiten, um sich Wohnung und Unterhalt leisten zu können. Daher ist das Studium teilweise eine sehr anstrengende Zeit, die viel Disziplin erfordert.

Die meisten jungen Erwachsenen suchen zudem in dieser Lebensphase nach einer festen Beziehung, einer Liebe, die tiefer geht und länger hält als die Beziehungen zuvor und auch schwierige Phasen übersteht. Ob in einer festen Beziehung oder nicht, es gibt ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit, entweder zu einer bestimmten Person oder in verschiedenen Kreisen vernetzt zu sein. Ein fester Freundeskreis, ein Verein oder eine Interessensgemeinschaft geben Halt in einer Lebensphase, in der vieles noch ungewiss ist: die endgültige Berufswahl oder der weitere berufliche Werdegang, ebenso, wo und wie ich leben möchte. Viele Menschen, leben auch jenseits der Studentenzeit in WGs oder wählen andere Formen des gemeinsamen Lebens.

Übung

Denken Sie an Ihre erste große Liebe. Erinnern Sie sich an die Glücksgefühle, aber auch an die schmerzlichen Gefühle, an die Angst, diese Liebe zu verlieren? Wie sind Sie mit den Ambivalenzen in dieser Zeit umgegangen? Was hat Ihnen geholfen? Hatten Sie vertrauensvolle Freunde? Was war Ihnen in dieser Zeit wichtig in Bezug auf ihre Lebensgestaltung?

Lebensstufe 7: Den eigenen Weg finden

Ein Kind wird geboren: Aus einer Partnerschaft wird eine Familie. Und sie ist kein Auslaufmodell. Im Gegenteil: Mütter und Väter empfinden sie zu einem überwiegenden Prozentsatz als das Wichtigste im Leben. Auch 85 Prozent der Jugendlichen nennen die Gründung einer Familie als eines der großen Lebensziele (Shell-Jugendstudie 2015). Fast drei Viertel würde die eigenen Kinder dieser Studie zufolge so erziehen, wie sie selbst erzogen wurden.

Aus Männern werden Väter, aus Frauen werden Mütter. Jede Familie hat besondere Eigenheiten, die ihr ihren ganz eigenen Charakter geben und teilweise über mehrere Generationen tradiert werden. So entwickeln sich ausgesprochene (oder unausgesprochene) Eigenarten des Familienlebens wie Familienregeln und Rituale. Auch die Kontakte zum erweiterten Familienkreis wie Großeltern, Verwandte und Freunde prägen die Familie. Ebenso wirkt das weitere Umfeld wie Gemeinde, Kindergarten, Schule in die Familie hinein.

Das Bild der Familie hat sich in den letzten dreißig Jahren grundlegend verändert und damit auch die Identität als Vater und Mutter. Heute sind Frauen oftmals besser ausgebildet als Männer und dann auch die Hauptverdiener. Wir bleiben ein Leben lang Vater oder Mutter. Kinder verändern dabei unseren Lebensalltag dramatisch. Allerdings haben sich die Anforderungen an die Familie in den letzten fünfzig Jahren deutlich erweitert, was auch mit einer Diversifizierung der Familienformen (Patchworkfamilien, interkulturelle Familien, Einelternteilfamilien, Regenbogenfamilien …) und mit den sich verändernden beruflichen Herausforderungen zusammenhängt.

In dieser Lebenszeit geht es vermehrt darum, Verantwortung zu übernehmen. Mit und ohne festen Partner, mit und ohne Kinder müssen wesentliche Entscheidungen getroffen werden, die meinem Leben eine Richtung geben. Ich merke, dass ich, indem ich mich für etwas entscheide, anderes ausschließe. Manche zögern deshalb Entscheidungen hinaus, um sich möglichst viele Möglichkeiten offenzuhalten. Das mag sich zunächst gut anfühlen, ist auf Dauer aber unbefriedigend, weil zur Reife des Menschen gehört, sich zu positionieren, zu etwas Ja zu sagen.

Übung

Wozu haben Sie Ja gesagt? Welche Art von Verantwortung haben Sie übernommen? War Verbindlichkeit wichtig oder hatten Sie eher den Eindruck, dass Ihre Freiheit eingeschränkt wird? Wie stehen Sie heute zu diesen Fragen?

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