Soziologische Kommunikationstheorien

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Kern der pragmatistischen Bedeutungstheorie ist es also, dass Bedeutungen weder Vorstellungen eines Bewusstseins noch Eigenschaften eines sozialen oder natürlichen Objekts sind, sondern Reaktionen, die Objekte in einem Organismus auslösen können. Oder mit anderen Worten: Bewusstsein ist nicht für die Existenz von Bedeutungen notwendig, da die Bedeutung eines Aktes sich aus der Reaktion eines anderen Aktes ergibt. Aber diese Bedeutung von Objekten kann auf der Stufe der menschlichen Kommunikation symbolisiert werden. Symbole können stellvertretend zur Anzeige der Bedeutung von Objekten eingesetzt werden und, mehr noch, im sozialen Kommunikationsprozess können Symbole benutzt werden, um die Objekte oder Situationen, die sie symbolisieren, erst zu erschaffen. Dies ist eine der entscheidenden Leistungen des Mediums der Sprache. Sprache symbolisiert nicht nur schon Vorhandenes, sondern sie schafft eine neue Welt voll neuer Bedeutungen.

»Symbolization constitutes objects not constituted before, objects which would not exist except for the context of social relationships wherein symbolization occurs. Language does not simply symbolize a situation or object which is already there in advance; it makes possible the existence or the appearance of that situation or object, for it is a part of the mechanism whereby that situation or object is created.« (Mead 1934: 78)

Die Sprache stellt nach Mead das symbolische System dar, welches sich auf der Basis von vokalen Gesten entwickelt hat. Vokale Gesten haben gegenüber anderen Gesten einen spezifischen Vorzug. Gesten haben die kommunikative Bedeutung, eine bestimmte Handlung oder Reaktion auszulösen. Vokale Gesten können in dem Sender die gleiche Reaktion auslösen wie in dem Empfänger, da er sie genauso wahrnehmen kann wie dieser. Vokale Gesten synchronisieren dann, wenn es sich um signifikante Symbole, also um Sprache handelt, die Kommunikationsteilnehmer, indem sie bei ihnen allen die gleichen Vorstellungen auslösen. Sprache ermöglicht Kommunikation, indem sie die Beteiligten mit identischem Sinn versorgt. Wenn Frau Schmidt ihrem Ehemann den Sauerbraten empfiehlt, dann kann sie davon ausgehen, dass Herr Schmidt mit ›Sauerbraten‹ die gleichen Vorstellungen verbindet wie sie, eben weil es sich um ein Symbol handelt, welches signifikant ist.

»What language seems to carry is a set of symbols answering to certain content which is measurably identical in the experience of the different individuals. I f there is to be communication as such the symbol has to mean the same thing to all individuals involved.« (Mead 1934: 54)

2.4 Mind

Mead rekonstruiert also phylogenetisch den Übergang von der tierischen zur humanen Kommunikation als allmählichen Übergang von der gestenvermittelten zu einer symbolisch vermittelten Kommunikation. Dieser sukzessive Übergang markiert für Mead den Beginn der Hominisation. Aber führen wir uns seine komplexe Argumentation zunächst nochmals vor Augen. Mead geht davon aus, dass in der tierischen Kommunikation Gesten oder Reize eine objektive Bedeutung haben, die sich aus der triadischen Relation von Geste, Reaktion und dem social act bzw. dem sozialen Verhaltenszusammenhang ergibt. Diese Relation besteht darin, dass die Geste sowohl als Stimulus die Reaktion der anderen Organismen auslöst, wie auch als Anzeige für den social act dient. Einer Geste kommt also eine objektive Bedeutung insofern zu, als sie bei den anderen Organismen eine Reaktion auslösen kann, die auf den sozialen Verhaltenszusammenhang bezogen ist. Der Übergang zur menschlichen Kommunikation weist zwei korrespondierende Aspekte auf: Internalisierung der Bedeutungsstruktur und Transformation der gestenvermittelnden zu einer symbolisch vermittelten Kommunikation. Die Internalisierung der Bedeutungsstruktur ist ein erster Schritt zu dem, was Mead ›mind‹ nennt, also Geist oder Bewusstsein. Mead bindet also die Genese des menschlichen Bewusstseins und die Entwicklung humaner Kommunikationsformen aneinander.

Internalisierung der Bedeutungsstruktur heißt, dass der objektive Bedeutungszusammenhang von Gesten subjektiv repräsentiert wird. Das wird dann möglich, wenn der Organismus, der eine Geste zeigt oder einen Reiz erzeugt, in der Lage ist, die Reaktion des anderen Organismus wie den sich dadurch abzeichnenden social act zu antizipieren. Und umgekehrt gilt, dass der Adressat eines Reizes fähig sein muss, seine Reaktion als eine Antwort auf einen Reiz und damit als Antwort auf die Anzeige einer sozialen Handlung zu verstehen. Die Gesten werden dadurch zu signifikanten Symbolen, und die interagierenden Organismen bilden in sich die Fähigkeit aus, die Einstellung der anderen zu übernehmen und dadurch alternative Reaktionen zu entwickeln. Es kommt zu einer Entkopplung von Reiz und Reaktion als Voraussetzung für mind. Schneider weist auf diesen wichtigen Argumentationsschritt von Mead hin: Die Transformation von einem reizstimulierten Verhalten zu einem teleologischen Handeln ist erreicht, »wenn die Beziehung von Reiz, Reaktion und Gesamthandlung zum Gegenstand der Vorstellung, der geistigen Analyse und der Entscheidung werden kann. Wenn dies der Fall ist, dann kann ein Individuum sich gleichsam selbst konditionieren.« (Schneider 2002, Bd. 1: 201)

Mead bindet die Handlungsfähigkeit von Menschen an ihre Kommunikationsfähigkeit und der Internalisierung von objektiven Bedeutungsstrukturen. Durch Internalisierung erwerben sie die Möglichkeit, die objektive Bedeutung subjektiv zu repräsentieren und über Konsequenzen ihres Tuns zu disponieren. Ein reizstimuliertes Verhalten kann durch ein zweckgerichtetes, rationales Handeln ersetzt werden, weil Individuen sich die objektive Bedeutung von Reiz, Reaktion und der Gesamthandlung des social act bewusst machen können. Damit sind sie in der Lage, sich darauf einzustellen, welche Beziehungen zwischen Reizen, Reaktionen und der daraus resultierenden Gesamthandlung existieren, welche Konsequenzen ihre Reaktionen auf fremde Reize, welche Konsequenzen ihre Reize auf die Reaktionen anderer und schließlich welche Gesamthandlung sich überhaupt ergeben könnte, wenn bestimmte Reize oder Reaktionen angezeigt werden. Die Komponenten der objektiven Bedeutungstruktur werden durch die Internalisierung zu Komponenten von Handlungen transformiert (vgl. Schneider 2002: 201 f.):

 Die Reize, denen das Verhalten von Organismen unterliegt, werden in Situationen transformiert, in denen die Handlungen eingebunden sind.

 Die Reaktionen der Organismen werden in Mittel transformiert, denen sich ein Handelnder bedienen kann, um bestimmte Ziele zu erreichen.

 Die Gesamthandlung, denen das Verhalten der Organismen unterworfen ist, wird in Ziele transformiert, die von den Handelnden erreicht werden können.

 Und aus der Energie, mit welcher Organismen bestimmte Verhaltensschemata verfolgen, werden Motive, mit denen Handelnde ihre Ziele verfolgen.

Pragmatische Theorien wie diejenige Meads betonen den Situationsbezug von Handeln. Handeln findet stets in Situationen – und die Soziologie interessiert sich in erster Linie für soziale Situationen – statt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie ein Set von möglichen Handlungsoptionen einerseits, ein Set von möglichen Handlungsbedingungen andererseits umfassen. Handelnde erfahren diese Situationen gewöhnlich auf der Basis von präkognitiven Erwartungshaltungen, und auch ihr Verhalten findet in der Regel auf der Basis von habitualisierten Handlungsregularitäten und -routinen statt. Sie handeln vielfach so, wie es ihnen ihre Routinen erlauben. Aber dann, wenn eine Handlungssituation Probleme aufwirft, wenn Erwartungshaltungen oder eingeübte Handlungsabläufe versagen, können sie reflexiv mit dieser Störung des gewohnten Handlungsablaufs umgehen und ihr Handeln neu organisieren. Dies kann etwa die Angemessenheit der Mittel betreffen, um bestimmte Ziele zu erreichen, dies kann sich auf die Definition der Situation beziehen, in der sie sich befinden, dies kann aber auch ihre Zielsetzung selbst beinhalten. Dabei führen sie sich die Komponenten des Handlungsablaufs symbolisch vor Augen, um mögliche Störquellen zu identifizieren und über mögliche Alternativen zu disponieren. Durch die Internalisierung und subjektive Aneignungen von objektiven Bedeutungsstrukturen werden die einzelnen Komponenten von Handlungsvollzügen symbolisch repräsentiert, die, da sie kommunikativen Ursprungs sind und auf der Übernahme der Einstellung von anderen beruhen, eine soziale Signifikanz haben, also signifikante Symbole sind.

Reflexion ist an problematische Handlungssituationen gebunden und wird von daher von Mead als diejenige Phase von Handlungen bestimmt, die dem Umgang und der Kontrolle von Störungen des normalen, habitualisierten Handlungsablaufs dient. Hans Joas (1992) spricht dementsprechend von der Kreativität des Handelns. Handelnde interagieren mit sozialen und nicht sozialen Objekten in ihrer Situation. Dabei wird im Pragmatismus von Mead der Terminus ›Interaktion‹ in einer spezifischen Bedeutung benutzt. Er bedeutet nicht etwa, wie dies später bei Herbert Blumer im symbolischen Interaktionismus oder auch in der heutigen Soziologie der Fall ist, so viel wie ›Face-to-Face-Kommunikation‹, sondern man muss ihn als Adaptation an Situationen oder Akkomodation in Situationen übersetzen. Für die Pragmatisten stellt Interaktion ein allgemeines Realitätsprinzip dar – alle Dinge der natürlichen und der sozialen Welt stehen untereinander in interaktiven Anpassungsprozessen. Diese Auffassung weist eine gewisse Parallelität zum Prinzip der ›Wechselwirkung‹ auf, welches nach Simmel Grundprinzip und Grundbegriff der Soziologie ist. Wie bei Simmel, so kann auch das Prinzip der Interaktion auf die intensive Auseinandersetzung von Mead und Dewey mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin zurückgeführt werden, der Anpassung als wichtigen evolutionären Mechanismus betrachtete (vgl. Shalin 1986: 9–13). Nach Mead versuchen Menschen, ihr Verhalten so einzurichten, dass sie stabile und koordinierte Adaptationen an und Akkomodationen mit sozialen und nicht sozialen Objekten in ihrer Situation erreichen können.

 

Wichtig ist es in soziologietheoretischer Hinsicht zudem, den folgenden Punkt festzuhalten: Mead vertritt nicht die Auffassung, dass die Bedeutung von Handlungen oder kommunikativen Akten auf dem ›subjektiv gemeinten Sinn‹ der handelnden Akteure beruht, wie dies seit Max Weber in manchen handlungstheoretischen Argumentationen behauptet wird. Sondern es gilt nach Mead umgekehrt, dass die Handlungen einen objektiven Sinn haben, der auf ihrer funktionalen Integration in ein prozessuales Gesamtgeschehen beruht. So betont Mead, dass eine Theorie, welche Individuen als atomare Grundlagen des sozialen Geschehens betrachtet, nicht in der Lage sind, die Genese von ›mind‹ und ›selves‹ zu erklären. Eine Theorie, die »[…] assumes individual selves as the presuppositions, logically and biologically, of the social process or order within which they interact […] cannot explain the existence of minds and selves […].« Aber eine Theorie, die im Gegensatz dazu »[…] assumes a social process or social order as the logical and biological precondition of the appearance of the selves of the individuals involved in that process or belonging to that social order […] can explain that which it takes as logically prior, namely the existence of the social process of behavior, in terms of such fundamental biological relations and interactions as reproduction.« (Mead 1934: 222 f.)

2.5 I, Me and Self

Nicht nur die Fähigkeit zur Reflexion und damit die Fähigkeit zum Handeln wird von Mead auf Kommunikation zurückgeführt, sondern auch das bewusste Verhältnis der Menschen zu sich selbst, ihr Selbstbewusstsein oder ihre Identität. Mead spricht von dem ›self‹ (Selbst) eines Individuums.

»That the person should be responding to himself is necessary to the self, and it is this sort of social conduct which provides behavior within which that self appears. I know of no other form of behavior than the linguistic in which the individual is an object to himself, and, so far as I can see, the individual is an object to himself, and, the individual is not a self in the reflexive sense unless he is an object to himself. It is this fact that gives a critical importance to communication, since this is a type of behavior in which the individual does so respond to himself.« (Mead 1934: 142)

Aufgrund der Verwendung signifikanter Symbole wie der Sprache können Individuen ein reflexives Verhältnis nicht nur zu ihren Handlungen, sondern auch zu sich selbst etablieren, weil sie zu sich selbst in eine Objekt-Beziehung treten können. Kommunikation ermöglicht es, die Rolle bzw. die Haltung von anderen einzunehmen, vor allem auch die Haltung der anderen in Bezug auf ihre eigene Person. Individuen können sich dadurch selbst zum Objekt machen. Sie lernen also, sich zu sich selbst zu verhalten, indem sie sich kommunikativ zu anderen verhalten und deren Perspektive auf sie selbst für sich selbst zu übernehmen. Signifikante Symbole erlauben es, dass ein Individuum sich selbst und seine Handlungen vom Standpunkt anderer betrachten kann (to take the attitude of the other). Es nimmt sich selbst gegenüber die Perspektive anderer Personen, anderer Gruppen, anderer Gemeinschaften ein.

Mead unterscheidet mit dem I (Ich) und dem Me (Mich) zwei Komponenten oder zwei Phasen des Selbst. Dabei orientiert er sich wiederum an der ursprünglichen objektiven Bedeutungsstruktur von Reiz, Reaktion und social act, die aber jetzt als internalisierte, nach innen verlegte Bewusstseinsakte verstanden werden. Mead geht also von einer prozessualen Strukturlogik aus, die sowohl objektiven, sozialen Kommunikationen als auch subjektiven, bewussten Prozessen gemeinsam ist. Dem Ich entspricht der Reiz, dem Mich entspricht die Reaktion, der Entscheidung schließlich die Gesamthandlung des social act. Der äußere Dialog wird zu einem inneren Dialog. Diese allgemeine prozessuale Logik, die sowohl in Kommunikations- wie in gedanklichen Prozessen fungiert, weist eine triadische Struktur auf (vgl. Schneider 2002, Bd. 1: 210).

Machen wir uns dies an einem Beispiel mit unserer eingangs eingeführten Familie Schmidt klar, die sich in folgender Situation befindet: Frau Schmidt empfiehlt ihrem Mann den Sauerbraten. Herr Schmidt entgegnet ein wenig schroff, dass er, was doch bekannt sei, Sauerbraten nicht möge und die Entenkeule bevorzuge. Als Frau Schmidt ihre Empfehlung ausspricht, gerät Herr Schmidt in die Phase des ›I‹, er verspürt einen unmittelbaren Reiz, seiner Ehefrau diese Empfehlung zu untersagen, weil sie es doch nun nach den vielen Ehejahren wissen müsse, dass er keinen Sauerbraten mag, aber er weiß auch, wie schroff seine Worte auf seine Ehefrau wirken können. Er kommt in die Phase des ›Mich‹, wenn er sich die möglichen Erwartungen und Reaktionen seiner Frau vor Augen führt. Er möchte den ersten gemeinsamen Abend seit Wochen nicht gefährden und versucht deshalb, obwohl es ihm nicht ganz gelingt, seine Reaktion in ihrer Vehemenz abzuschwächen. Seine Äußerung schließlich vollendet einen social act der Eheleute. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Sie reisen in ein fremdes, zum Beispiel ein arabisches Land. Dort sehen Sie eine Moschee und möchten diese besichtigen. Auf diesen Handlungswunsch folgt, wenn sie mit den Gepflogenheiten unvertraut sind, in der Phase des Mich weniger die Ausrichtung an einer festen Verhaltensnorm, sondern eher ein Versuch, die Situation zu definieren und sich mit den Normen vertraut zu machen: Ist es mir erlaubt, die Moschee aufzusuchen? Wie muss ich mich verhalten? Wie muss ich gekleidet sein? In Handlungssituationen, dies soll unser Beispiel zeigen, die unvertraut sind, in denen das Mich keine festen Erwartungen bereit hält, ist routinisiertes Handeln nicht möglich. Auf die Phase des Mich folgt nun die Entscheidung des Self ob, konfrontiert mit den sozialen Erwartungen, der ursprüngliche Handlungsplan durchgeführt werden soll oder nicht. Dieser triadische Prozess von I, Me und Entschluss als Phasen des Selbst ist natürlich nicht auf einen einzigen Durchlauf beschränkt, er kann mehrmals miteinander kombiniert und verschachtelt werden.

Das Ich und das Mich sind also zwei notwendige Phasen im Handlungsprozess. Sie werden von Mead mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattet. Das Mich repräsentiert die vom Selbst angeeignete und definierte soziale Situation, in welcher eine Handlung stattfindet, und das Ich ist die aktuelle Antwort auf diese Situation seitens des Individuums (vgl. Mead 1934: 277). Das Mich steht stellvertretend für die sozialen Regeln, mit denen sich ein Individuum konfrontiert sieht. Mead (1934: 210) selbst weist auf entsprechende Analogien zu der Instanzenlehre von Freud hin, insbesondere auf die Analogie von Mich und Über-Ich. Beide haben die Funktion inne, Handlungen bzw. Handlungsimpulse zu zensieren. Das Ich ist demgegenüber diejenige Phase, die für die Aktivierung etablierter und die Erprobung neuer Handlungsmuster sorgt. Das Mich muss aber nicht unbedingt, wie man vielleicht unterstellen könnte, homogen sein. Da es durch die Übernahme von Haltungen ganz unterschiedlicher Personen und ihrer Rollen konstituiert wird, die mit diesen Rollen verbundenen Erwartungshaltungen aber nur selten homogen und konfliktfrei sind, kann es zu konfliktären und widersprüchlichen Aufforderungen in der Phase des Mich kommen. Mead berücksichtigt auch unterschiedliche Dominanzen der Phasen von Ich und Mich in unterschiedlichen Personen und Rollen. Manche Personen verhalten sich überaus konform, in ihnen dominiert das Mich das Selbst, es gibt auch Personen, bei denen das Ich die wichtigere Phase darstellt (vgl. Mead 1934: 200). Entsprechend sind auch soziale Rollen unterschiedlich gewichtet. Manche Rollen, zum Beispiel die eines Verwaltungsbeamten oder eines Priesters, sehen geradezu eine Dominanz der Mich-Phase vor, andere hingegen, zum Beispiel die eines Künstlers oder eines Medienstars, die Dominanz der Ich-Phase, da von ihnen mindestens nonkonformes Verhalten erwartet wird.

Bisher wurden die phylogenetischen Prozesse betrachtet, in welchen Menschen zu ihrer Kommunikations-, Reflexions- und Sprachkompetenz kommen. Mead macht aber auch wichtige Unterscheidungen über die ontogenetischen Entwicklungsprozesse, in denen Individuen in ihre jeweiligen sozialen Umwelten hineinwachsen. Dabei unterscheidet er zwischen ›play‹ und ›game‹ als zwei verschiedenen sozialen Handlungszusammenhängen. Sie stellen nach Mead Entwicklungsstufen dar, in denen Kinder die Instanzen des Mich unterschiedlich besetzen, ihre Handlungen also durch die Perspektive unterschiedlicher anderer zu betrachten und zu beurteilen lernen. Ontogenetisch übersetzt geht es um Lernstufen, in denen ein Kind lernt, unterschiedliche Erwartungshaltungen zu identifizieren bzw. sich in unterschiedliche Rollen zu versetzen.

Als ›play‹ bezeichnet Mead die erste Stufe der Rollenübernahme. Auf dieser ersten Stufe spielt das Kind unterschiedliche Personen in ihren Rollen nach, es lernt die Erwartungen kennen, die an diese unterschiedlichen Rollen geheftet werden, und es lernt, sich darauf aus der Perspektive eines anderen zu verhalten. Es lernt, etwas zu sein, etwa Indianer oder Polizist. Die Antizipationsfähigkeit ist an die unmittelbare Sequenz von Aktion und Reaktion gebunden. Kennzeichnend für die Phase des play ist die Bedeutung einzelner, realer oder imaginierter Bezugspersonen, an denen sich das Kind orientiert.

Auf der zweiten Stufe, dem ›game‹, ist die Antizipationsfähigkeit des Kindes insofern erweitert, als es nicht nur den nächsten Schritt einer Rolle, sondern die nächsten Schritte unterschiedlicher Rollen miteinander verbinden kann. Typisch für eine solche Phase sind nach Mead Wettkampfspiele, bei welchen das Kind die Handlungen und Haltungen vieler Beteiligter antizipieren und sich an situationsübergreifenden Regeln und Normen orientieren muss. Es handelt sich nicht mehr nur um einzelne Rollen, die nach und nach eingeübt werden können, sondern um Rollen, die in einem Netzwerk anderer Rollen fungieren und deshalb durch wechselseitige Regeln und Normen, Rechte und Pflichten gekennzeichnet sind. Das Kind muss die Perspektive mehrerer Rollenträger übernehmen, um seine eigenen Handlungen einbringen zu können. Dabei lernt es, sich nicht mehr nur, wie in der Phase des play, an den Reaktionen des konkreten Interaktionspartners zu orientieren, sondern es lernt, normative Erwartungen aus der allgemeinen Perspektive sozialer Gruppen zu betrachten. Mead spricht von der Perspektive des ›generalized other‹ (verallgemeinerten Anderen). Kennzeichnend für diese Phase ist die Bedeutung ›generalisierter Anderer‹, womit Mead nicht Gruppen oder Kollektive, sondern generalisierte Normen von Gruppen oder Kollektiven meint.

Andeutungsweise formuliert Mead in den »Fragments on Ethic« (Mead 1934: 379–389) auch noch eine dritte Entwicklungsstufe, in welcher auch die Perspektive des generalized other, die in der Stufe des game auf konkrete Gruppen oder Gemeinschaften bezogen ist, noch weiter auf die universale menschliche Gesellschaft ausgeweitet wird. Die Phase des game sieht keine Lösung für Konflikte vor, die sich zwischen sozialen Gruppen abspielen, da keine Vermittlungsposition zwischen diesen Gruppen etabliert werden kann. Als mögliche Entwicklungsstufe einer zukünftigen sozialen Evolution wird deshalb von Mead die Position eines generalized other proklamiert, der nicht nur Gruppeninteressen, sondern die Interessen aller Menschen vertritt. Individuen, die zukünftig diese Stufe erreichen werden, reflektieren ihre Handlungen also nicht nur in der Perspektive von Gruppenregeln, sondern von verallgemeinerten, universalen Menschheitsregeln.

Das Selbst einer Person ist nach Mead also abhängig von seiner Teilnahme an kommunikativen Prozessen, weil es nur durch das Lernen der Bedeutung signifikanter Symbole in sich selbst die soziale Bedeutung seiner Handlungen reflektieren kann. Das Selbst einer Person ist auch abhängig von dem Kreis der Personen, mit denen es in Kommunikationen involviert ist. Mead führt diesen Gedanken weiter aus und kommt auf die Bedeutung bestimmter Kommunikationsmedien zu sprechen. Er identifiziert Phasen der historischen Entwicklung von Massenmedien, die von der griechischen Tragödie über das Drama, den bürgerlichen Roman bis hin zum modernen Journalismus reichen (vgl. Mead 1934: 253–260). Je mehr Personen in diese Kommunikationsmedien eingebunden sind, desto größer die Basis, Perspektiven anderer kennenzulernen. Mead entwickelt damit Ansätze für die Beschreibung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft als einer Geschichte ihrer kommunikativen Medien.

 

2.6 Symbolischer Interaktionismus

Der symbolische Interaktionismus kann nicht, wie oftmals unterstellt, als eine direkte Fortsetzung des pragmatischen Interaktionismus von Mead betrachtet werden. Er weicht in einigen Punkten vom Pragmatismus ab. Die Theorie von Mead ist sicherlich eine der wichtigsten Referenztheorien, aber auch andere theoretische Ansätze haben auf diese soziologische Schule einen maßgeblichen Einfluss. Als deren Inaugurator gilt Herbert Blumer (1900–1986). Blumer studierte an der University of Chicago, wurde dort mit der sogenannten Chicago School of Sociology bekannt, die eine sowohl vom Pragmatismus wie von der Theorie Simmels geprägte Auffassung von Soziologie vertrat. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie an empirischer Feldforschung und sensitiven empirischen Konzepten und nicht an abstrakten Theoriegebäuden interessiert ist. Als eine der wichtigsten Untersuchungen gilt die von William I. Thomas und Florian Znaniecki durchgeführte Studie über »The Polish Peasant in Europe and America« (Thomas / Znaniecki 1927). Mit gutem Recht kann diese Studie als Gründungsdokument der interaktionistischen Soziologie begriffen werden, die Blumer später als symbolischen Interaktionismus bezeichnet. Blumer steht für eine subjektivistische Lesart von Mead. Er betont die aktive Rolle der Individuen im gesellschaftlichen Handlungsprozess. Daneben gibt es eine zweite Schule des symbolischen Interaktionismus, die eine stärker objektivistische Lesart vertritt. Man nennt sie im Unterschied zur Chicagoer Schule von Blumer die Iowaer Schule, als deren Haupt Manford Kuhn gelten kann. Er konzipiert das handelnde Subjekt normativer, also weniger als ›role-maker‹, sondern stärker als ›role-taker‹.

Der Grundkanon des symbolischen Interaktionismus besteht aus folgenden drei Prämissen:

»The first premise is that human beings act toward things on the basis of the meanings that things have for them […]. The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction that one has with one’s fellows. The third premise ist that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters.« (Blumer 1969: 2)

Individuen handeln und erleben auf der Basis von Bedeutungssetzungen. Dinge, Sachverhalte, Ereignisse in ihrer situativen Umwelt, aber auch sie selbst, ihre Körper und Emotionen wie auch die anderen Handelnden sind für Individuen nur als bedeutungsvolle relevant. Diese Bedeutungen sind keine privaten Bedeutungen, sondern sie werden in der Interaktion mit anderen erworben und festgelegt, und diese Bedeutungen sind keine starren, sondern sie entstehen in einem permanenten Prozess der interpretativen Auseinandersetzung der Individuen mit ihrer Umwelt.

Damit nehmen die Vertreter des symbolischen Interaktionismus zentrale Inhalte der pragmatistischen Theorie von Mead wieder auf, aber sie interessieren sich für andere soziologische Sachverhalte als dieser. Dies ergibt sich schon aus den unterschiedlichen Interaktionsbegriffen. Mead bezieht diesen Begriff auf die Interaktion eines Organismus mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt, und betrachtet den Interaktionsprozess vornehmlich als Anpassungs- und Akkomodationsprozess. Der symbolische Interaktionismus sieht von dem umfassenden Begründungsprogramm des Pragmatisten Mead ab und beschränkt den Begriff vornehmlich auf die Face-to-Face-Beziehung zwischen Menschen.

In einem Punkt geht der symbolische Interaktionismus über Mead hinaus. Er betont, dass die symbolische Welt durch permanente Revisionen und Neudefinitonen und wechselseitige Aushandlungen (negotiations) kommunikativ geschaffen wird. Die symbolische Welt befindet sich stets in einem permanenten Wandel. Dies gilt insbesondere für die wechselseitige Zuschreibung von Bedeutungen, denen die Interaktionspartner in kommunikativen Prozessen unterliegen. Auch sie selbst treten nicht als solche in die Kommunikation ein, sondern nur im Rahmen von zugeschriebenen Bedeutungen, als Objekt von Bedeutungssetzungen.

Dem symbolischen Interaktionismus können viele bedeutende Soziologen zugerechnet werden. Einer von ihnen ist der auch durch seine methodischen Arbeiten zur Grounded Theory bekannt gewordene Anselm Strauss. Strauss hat nicht nur in Gestalt der Theorie der parasozialen Interaktion wichtige Grundlagen für das Studium der Massenmedien geliefert (vgl. Horton / Strauss 1957 u. 1979), sondern er hat auch aus der Tradition des symbolischen Interaktionismus drei Konzepte aufgenommen und weiterentwickelt, die für jede soziologische Theorie des kommunikativen Handelns von Interesse sind: ›trajectory‹, ›social world‹ und ›arena‹. Sie stehen für die Strategie von Strauss, die mikrosoziologischen Basiskonzepte des symbolischen Interaktionismus wie ›Selbst‹ oder ›Identität‹ stärker an Meso- und Makrostrukturen heranzuführen. Schon das berühmte, frühe Werk von Strauss über »Mirrors and Masks« (Strauss 1959) zeugt von diesem Erkenntnisinteresse, da es die Organisationsanalyse einer Klinik – des Michael Reese Hospitals in Chicago, einer psychiatrischen und psychosomatischen Klinik, in welcher Strauss zeitweise beschäftigt war – auf symbolisch-interaktionistischer Grundlage liefert.

Mit dem Begriff der Trajektorie macht Strauss auf die temporale Dimension von sozialen Phänomenen aufmerksam. Jedes soziale Phänomen weist eine temporale Strukturierung auf, die durch die Interaktionen der beteiligten Akteure mit beeinflusst wird. Jedes soziale Phänomen kann also, wenn man es hinsichtlich seiner inhärenten temporalen Strukturierung untersucht, als eine Trajektorie betrachtet werden. Als beispielhaft gilt die von Strauss selbst untersuchte Trajektorie von chronischen Krankheitsverläufen. Diese entfalten sich nicht nach einer inneren Logik, sondern werden in ihrer temporalen Entwicklung von dem sozialen Setting, in dem sie verlaufen, sehr stark beeinflusst (vgl. Strauss / Glaser 1975). Trajektorien können hinsichtlich ihrer Phasen untersucht werden: Welche Phasen werden von den Akteuren oder von den Beobachtern unterschieden? Welche Eigenschaften weisen diese Phasen auf? Eine zweite Forschungsfrage gilt den Projektionen, die sich die Beteiligten vom erwarteten Verlauf spezifischer Trajektorien machen: Wie verändern sich diese Projektionen, und wie können Projektionen wiederum den trajektorischen Verlauf selbst ändern? Diese Untersuchung kann in die Analyse des Managements von Trajektorien seitens der Beteiligten übergehen: Wie steuern oder beeinflussen Akteure diese Prozesse? Die Akteure orientieren sich dabei an Interaktions- und Handlungsschemata, in welchen sie insbesondere auch auf die anderen beteiligten Akteure Bezug nehmen. Und schließlich können Trajektorien retrospektiv noch hinsichtlich der jeweiligen Kumulationen von Handlungen und Interaktionen untersucht werden, die Strauss als ›arc of action‹, als Handlungspfeil bezeichnet.

Trajektorien bilden die temporale Dimension von Netzen kommunikativen Handelns. Die Netze selbst werden von Strauss als ›social worlds‹ konzeptualisiert. Dieser Begriff ist mit einer gewissen Anstrengung den aus anderen soziologischen Traditionen entstammenden Begriffen der ›Institution‹, der ›Systeme‹ oder der ›Netzwerke‹ vergleichbar. Schon Shibutani führt das Konzept der social worlds in die Soziologie ein. Unter einer solchen versteht er ein »universe of regulated mutual response [whose boundaries are, R. S.] set neither by territory nor formal membership but by the limits of effective communication.« (Shibutani 1955: 524) Nach Strauss sind es Gemeinschaften, die sich durch wechselseitige Kommunikation konstituieren und dabei eigene symbolische Welten oder Bedeutungsuniversen generieren. Soziale Welten entstehen durch die Errichtung von spezifischen Kommunikationsordnungen. Ändern sich die Kommunikationsordnungen, so ändern sich auch die sozialen Welten. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Kommunikation untereinander sich meist auf eine zentrale Aktivität konzentriert (z. B. Bankgeschäfte, Politik, Pferderennen, Erziehung etc.), was dazu führt, dass sie eine sehr starke Tendenz zur Organisierung und Technologisierung ihrer Aktivitäten aufweisen. Soziale Welten finden sich in allen gesellschaftlichen Bereichen. Strauss untersucht auch diejenigen sozialen Welten, die über die Face-to-Face-Beziehungen hinausgehen, also solche Gemeinschaften, die durch Kommunikationsmedien wie Brief oder Telefon oder Computer miteinander verbunden sind. Diese Gemeinschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie überaus fluide sind, sehr wandelbar, aber dennoch mit mehr oder weniger festen Mitgliedschaften, organisatorischen Strukturen, gemeinsamen Aktivitäten und gemeinsamen Interessen. Dabei ist Strauss an der Analyse von drei Prozessen interessiert, denen die sozialen Welten unterliegen. Diese können in Subwelten segmentiert werden, sie prallen aufeinander, und sie müssen sich Legitimationsprozeduren unterziehen. Mit ›segmentation‹ meint Strauss die interne Differenzierung von sozialen Welten in diverse Subwelten. Unter dem Stichwort ›legitimation‹ befasst sich Strauss mit der Frage, wie sich soziale Welten oder ihre Subwelten von anderen unterscheiden, wie sie ihre Authentizität gegenüber anderen herstellen und erhalten. Und mit ›intersection‹ wird die Kommunikation über die Grenzen von sozialen Welten hinweg bezeichnet Schließlich wird gefragt, was die Bedingungen dafür sind, dass Mitglieder unterschiedlicher sozialer Welten miteinander kommunizieren können.

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