Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter

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Lose Koppelung

Weil sich Abhängigkeiten zwischen agilen Teams bzw. Modulen i. d. R. nicht gänzlich vermeiden lassen, streben agile Strukturansätze typischerweise nach einer „losen Kopplung“ der Module.105 Dabei werden die Interdependenzen bzw. Schnittstellen zwischen den Modulen möglichst gering gehalten, sodass die Handlungen eines Moduls nur geringe Auswirkungen auf die anderen Module haben. Änderungen können dann in einem Modul stattfinden und brauchen keine größere Abstimmung, dadurch wird das gesamte System anpassungsfähiger. Lose Kopplungen sind somit ein Kompromiss zwischen eng gekoppelten Strukturen und Prozessen sowie vollkommen unverbindlichen Beziehungen (vgl. den Beitrag von BREHM). Bei NETFLIX spricht man von „hochgradig abgestimmt, lose verknüpft“.106

Ein solcher Ansatz findet sich beispielsweise auch beim chinesischen Haushaltsgerätehersteller HAIER. Das Unternehmen hat sich in über 4.000 sogenannte „Microenterprises“ (Mikrounternehmen) aus meist 10-15 Mitarbeitern unterteilt, die weitgehend autonom handeln und jeweils einem (externen oder internen) Kunden gegenüber verantwortlich sind. Inhaltlich zusammenhängende Mikrounternehmen bilden eine lose gekoppelte gemeinsame Plattform (z. B. für Kühlschränke). Die Koordination erfolgt nicht top-down, sondern durch die Abstimmung zwischen den autonomen Mikrounternehmen.107

Die lose Kopplung kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, z. B. durch

personelle Verknüpfungen (bei Holacracy bspw. Lead Link und Rep Link, vgl. Kapitel 8.3),

koordinierende Rollen (bei SPOTIFY bspw. Tribe Leads, vgl. Kapitel 8.2) bzw.

koordinierende Einheiten (beim kollegialen Kreismodell bspw. Koordinationskreise, vgl. Kapitel 8.4) oder

Abstimmungsmeetings (bei Holacracy bspw. Tactical und Governance Meetings im übergeordneten Kreis, vgl. Kapitel 8.3).

Durch die lose Kopplung von verschiedenen agilen Teams ergeben sich netzwerkartige „Team of Teams“-Strukturen (vgl. Kapitel 8), diese sollen die Balance zwischen einerseits möglichst handlungs- und anpassungsfähigen Modulen und andererseits einem stimmigen, koordinierten gemeinsamen Vorgehen gewährleisten.108

Rollen

Die Zuordnung von Aufgaben erfolgt in agilen Teams bzw. Modulen auf Rollen – statt wie bei klassischen Strukturen auf Stellen.109 Rollen definieren sich über abgegrenzte und übersichtliche Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche, die es den Rolleninhabern ermöglichen, eigenständig Prioritäten zu setzen und über die Ausübung der Rolle selbst zu entscheiden. Mit einer Rolle ist die Erwartung und das Vertrauen an den jeweiligen Rollenträger verbunden, ein wertschöpfendes Ergebnis eigenverantwortlich und möglichst verschwendungsarm zu erbringen.

Damit verbunden ist der Anspruch, dass die Rolleninhaber die jeweiligen Anforderungen an ihre Rolle kennen, diese selbstständig präzisieren und selbstorganisiert – bei Bedarf abgestimmt mit Dritten – zielführend bewältigen. Im Idealfall übernehmen Mitarbeiter auch die Rollen, d. h. sie „ziehen“ sich die Rollen, für die sie sich berufen fühlen und die aktuell Priorität genießen, selbstständig (Pull-Prinzip, vgl. Kapitel 4.2). Es existiert daher kein fest definiertes, personenbezogenes Stellensystem, sondern ein flexibles Rollenmodell. Die Rollenbildung erfolgt dabei sinn- und zweckstiftend, d. h. Rollen entstehen durch die aktuellen unternehmensexternen und -internen Anforderungen und Erwartungen. Auf diese Weise erhält jede Rolle ihre notwendige Legitimation und Akzeptanz. Es entsteht eine agile Organisation, die eine hohe situative Flexibilität ermöglicht.

Wie unterscheiden sich solche agilen Rollen aber nun von klassischen Stellen (vgl. Kapitel 3.3)? Bei der Stellenbildung wird von einer bestimmten qualitativen und quantitativen Kapazität eines fiktiven Aufgabenträgers ausgegangen. Die Quantität an Aufgaben richtet sich an einem realistischen Leistungsvermögen aus. Andernfalls könnte nicht entschieden werden, wie viele Stellen und Mitarbeiterkapazitäten für bestimmte Aufgaben erforderlich sind. Die Stellenbildung geht davon aus, dass größtenteils vorhersehbare, wiederkehrende Aufgaben zu erledigen sind, die auch in einer gewissen Regelmäßigkeit anfallen. Erst wenn sich über einen längeren Zeitraum deutliche Veränderungen ergeben, werden Stellen angepasst. Darüber hinaus werden an Stellen und Stellenbeschreibungen oft besondere regulatorische und personalwirtschaftliche Anforderungen gestellt. So dienen sie z. B. als Grundlage für die Erstellung von Geschäftsverteilungsplänen und als dokumentierter Nachweis für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht im Rahmen der Grundsätze ordnungsgemäßer Geschäftsführung. Neben der Zuordnung zu einer Kostenstelle werden in einer Stellenbeschreibung tarifliche und außertarifliche Gehaltsbestandteile des Stelleninhabers aufgeführt. Häufig beinhalten sie auch Vertretungsregelungen und vertraglich festgelegte Bedingungen zu Arbeitszeiten und Urlaubsansprüchen. Jeder Mitarbeiter hat typischerweise eine Stelle.

Eine Rolle dagegen ist unabhängig von der Kapazität einer Person. Im Rollenmodell kann eine Person flexibel mehrere Rollen übernehmen, wenn es die Situation erfordert und es die vorhandene Auslastung erlaubt. Eine einzelne Rolle wird daher häufig sehr überschaubar und pragmatisch beschrieben, um den jeweiligen Rolleninhabern eine selbstorganisierte Ausübung zu ermöglichen. Je umfangreicher Rollen beschrieben und „aufgeladen“ werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Rolleninhaber mit anderen abstimmen müssen, sich verzetteln oder Priorisierungsprobleme haben. Umgekehrt ist einer Rolleninflation ebenso entgegenzuwirken, um nicht den Überblick zu verlieren und Mitarbeiterkapazitäten möglichst sinnvoll und wertschöpfend einsetzen zu können. Aufgrund regulatorischer oder gesetzlicher Anforderungen kann es jedoch dazu kommen, dass auf eine Stellendokumentation nicht verzichtet werden darf, und Rollen übergeordneten Stellen oder Funktionen zugeordnet werden, beispielsweise um die Tariftreue sicherzustellen. Auf diese Weise kann es zur Koexistenz von Rollen- und Stellenbeschreibungen in ein und demselben Unternehmen kommen.

Flexible Ressourcenallokation

In agilen Strukturen werden zeitliche und finanzielle Budgets, Mitarbeiterkapazitäten sowie technische und sonstige Ressourcen nicht einmal pro Jahr oder zu fixierten Zeitpunkten ausgewählten Projekten, Abteilungen oder Bereichen fest zugeordnet (vgl. Kritik an klassischen Organigrammstrukturen in Kapitel 3.3), sondern flexibel und bedarfsorientiert, je nach inhaltlichem und aktuellem Fokus verteilt. Der iterativ-inkrementelle „Test und Lern“-Ansatz kann nur dann funktionieren, wenn basierend auf den neuesten Erkenntnissen auch die Ressourcen entsprechend flexibel disponiert werden können.

Dementsprechend sind auch die Rollen in agilen Strukturen flexibel gestaltet. Basierend auf aktuellen unternehmensexternen und -internen Informationen, Anforderungen und Erwartungen bspw. von anderen Rolleninhabern können Rollen situativ, schnell und unkompliziert gebildet und angepasst werden. Gleiches gilt für agile Teams bzw. Module. Auch diese sind nicht dauerhaft fixiert, sondern sind i. d. R. mithilfe standardisierter und verbindlicher Anpassungsmechanismen flexibel gestaltbar (vgl. bspw. Governance Meeting in Kapitel 8.3). Dadurch soll gewährleistet werden, dass die personellen Kapazitäten und Kompetenzen dort eingesetzt werden, wo sie ihr größtes Potenzial entfalten. Da Rollen in agilen Organisationen nicht an bestimmte Personen gebunden sind, sondern eher kompetenzorientiert gebildet werden, sind diese flexibler zu besetzen und wieder abzugeben, als dies in einer hierarchisch geprägten Stellenorganisation der Fall ist.

Und auch finanzielle und technische Ressourcen werden nicht auf lange Zeiträume verplant, sondern flexibel allokiert und möglichst selbstorganisiert verteilt (vgl. bspw. den Beitrag von SCHMIDT et al. oder das Tactical Meeting in Kapitel 8.3). In agilen Organisationen kann sich die Ressourcenallokation jederzeit ändern – bei Bedarf von Woche zu Woche oder sogar täglich, wenn es das Umfeld und die Rahmenbedingungen erfordern.

Die in Kapitel 4.3 dargestellten Charakteristika einer agilen Strukturgestaltung sind in der Abbildung 20 nochmal zusammengefasst dargestellt. Das Kapitel 8 stellt verschiedene Ansätze vor, wie dies konkret umgesetzt werden kann.

Abb. 20: Charakteristika agiler Strukturgestaltung

4.4 Agile Koordination

Weil sich die Charakteristika der Koordination in agilen Unternehmen nicht 1:1 den Prozessen bzw. Strukturen zuordnen lassen, sondern die folgenden Koordinationsprinzipien für Prozesse und Strukturen gelten, werden sie hier in einem eigenen Kapitel 4.4 vorgestellt. Wie diese Koordinationscharakteristika in konkreten agilen Methoden und Ansätzen angewendet bzw. umgesetzt werden, wird dann später in den Kapiteln 6 bis 8 erläutert.

 

Selbstorganisation

Die Koordination innerhalb agiler Prozesse und Strukturen erfolgt nicht durch detaillierte Pläne, festgelegte Prozessbeschreibungen oder eine übergeordnete Instanz, sondern „auf Augenhöhe“ zwischen den Mitgliedern innerhalb der Teams im Rahmen definierter Rahmenprozesse. Das heißt, statt Fremdorganisation (vgl. Kapitel 3.4) erfolgt Selbstorganisation. Selbstorganisation im unternehmerischen Sinne bedeutet, dass Akteure eigenverantwortlich darüber entscheiden, wie sie die zu erledigenden Aufgaben ausüben. Denn es wird davon ausgegangen, dass bessere Entscheidungen getroffen werden, wenn sich diejenigen, die die Aufgaben operativ tun – und damit näher am Problem und Kunden dran sind – direkt selbst untereinander abstimmen und dabei ihre unterschiedlichen Kompetenzen und Perspektiven einbringen.110 Der kollektiven Intelligenz/Kompetenz des Teams an der Basis werden bessere Entscheidungen zugetraut als der individuellen Intelligenz/Kompetenz einer Führungskraft oder eines Vorgesetzten.

Selbstorganisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Hierarchiefreiheit. Stattdessen kann treffender von „hierarchiearm“ gesprochen werden.111 Eine gewisse Über- und Unterordnung gibt es meist auch in agilen Organisationen (vgl. Kapitel 8). Untergeordnete Organisationseinheiten (z. B. Subkreise, Squads) müssen sich natürlich irgendwie an den Entscheidungen in der übergeordneten Organisationseinheit (z. B. Kreis, Tribe) ausrichten – und alle am gemeinsamen Zweck (Purpose). Einzelne Rollen (z. B. Lead Link, Tribe Lead) können durchaus disziplinarische Macht ausüben.112 Und es gibt Rechtsvorschriften (z. B. § 76 AktG, § 35 GmbHG, § 26 BGB), die geschäftsführende Positionen einfordern. Darüber hinaus werden temporäre Hierarchien, in denen sich Führungsaufgaben auf mehrere bzw. wechselnde Personen verteilen, oft auch in agilen Strukturen akzeptiert. Schließlich bilden sich bei fehlenden formellen Hierarchien sehr häufig informelle Machtstrukturen bzw. Hierarchien. Von daher führt Selbstorganisation zu Hierarchiearmut, aber nicht Hierarchiefreiheit.

In agilen Organisationen gilt deshalb das organisatorische Subsidiaritätsprinzip, das besagt, dass Entscheidungen möglichst weit „unten“ getroffen werden und „höhere“ Einheiten nur dann eingreifen sollten, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen bzw. des Teams auf der niedrigeren Ebene allein nicht ausreichen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Dabei kann sich die Entscheidungshoheit nicht nur auf die Art und Weise der Aufgabenverrichtung erstrecken, das Wie, sondern umfasst u. U. auch die Entscheidung darüber, welche Zielsetzung und welche Aufgaben überhaupt verfolgt werden, das Was. Das schließt beispielsweise die Entwicklung eigener Prinzipien zur Selbststeuerung und Selbstführung mit ein – Ausführungs-, Ergebnis-, Prozess- und Führungsverantwortung sind gebündelt und liegen in einer Hand. Dazu benötigen die Akteure weitreichende Kompetenzen bzw. Rechte. Zu große Freiräume bei Akteuren oder Teams können die Gesamtorganisation jedoch schnell überlasten.

Welcher Grad an selbstorganisiertem und eigenverantwortlichem Handeln sinnvoll ist, hängt vom jeweiligen Kontext ab. In selbstorganisierten Systemen geht der Bedarf nach Regeln und Struktur idealtypisch von dem Rolleninhaber aus, bei dem dieser entsteht und wird nach Möglichkeit auch durch diesen gelöst. Nur wenn eine organisatorische Einheit den Regelungsbedarf nicht selbst lösen kann bzw. weitere Rollen oder Teams in die Entscheidung involviert oder von dieser betroffen sind, treten übergreifende Koordinationsmechanismen in Kraft (vgl. nächsten Punkt). Der Regelungsbedarf wird auf dafür geschaffene Plattformen bzw. Ebenen „gehoben“ und allen Beteiligten und Betroffenen transparent gemacht.

Das Unternehmen W. L. GORE & ASSOCIATES zieht seine Agilität aus klaren Regeln, die sich aus vier verbindlichen Unternehmensprinzipien ableiten: Freiheit, Selbstverpflichtung, Fairness und Waterline. Das Waterline-Prinzip vergleicht das Unternehmen mit einem Schiff, das sich bereits auf hoher See befindet, an dem jedoch ständig weitergebaut wird. Hier ist es wichtig, dass Entscheidungen unterhalb der Wasserlinie, die das Schiff ins Wanken oder sogar in eine existenzielle Schieflage bringen könnten, konsultativ und verantwortungsvoll getroffen und getragen werden. Dabei gelten die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Eigenverantwortung – die Akteure entscheiden eigenverantwortlich, ob sie sich mit ihren Entscheidungen und Handlungen über oder unter der Wasserlinie befinden.113 Ein Lernprozess, der jedem Mitarbeiter (Associate/Teilhaber) abverlangt wird und nach eigenen Aussagen zwei bis drei Jahre dauern kann, bis man dieses Prinzip verinnerlicht hat.114

Ebenfalls inspirierend ist das Beispiel des US-amerikanischen Chemieunternehmens WD-40 COMPANY. Hier gilt für die Mitarbeiter bezogen auf ihren Verantwortungsbereich: “I am responsible for taking action, asking questions, getting answers, and making decisions. I won’t wait for someone to tell me. If I need to know, I’m responsible for asking. I have no right to be offended that I didn’t get this sooner. If I’m doing something others should know about, I’m responsible for telling them.”115 Diese Aussage, WD-40 spricht von „Maniac Pledge“ (verrücktes Versprechen), bringt sehr klar zum Ausdruck, welche Freiheiten, aber auch welche Verantwortung mit Selbstorganisation verbunden sind.

Viele agile Initiativen kranken an einer Überdosis verordneter Selbstorganisation und missverstandener Delegation. Agiles Management bedeutet aber nicht „laissez faire“, Verantwortung einfach zu delegieren und auf Mitarbeiter oder Teams zu übertragen, eine „Open Door Policy“ auszurufen oder ab „jetzt sofort“ auf Dress-Codes zu verzichten. So gesehen ist auch die Selbstorganisation zu organisieren.

Definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse

Wenn die Organisation durch die operativen Mitarbeiter (Rolleninhaber) selbst bzw. durch die Mitglieder der agilen Teams – und nicht durch Fremdorganisation einer „höheren“ Instanz – erfolgt, dann ist es für ein effizientes Vorgehen wichtig, dass genau festgelegt ist, wer welche Entscheidungen treffen darf bzw. wie Entscheidungen getroffen werden. Lange Diskussionen mit unklaren Verantwortungen sind weder effektiv noch effizient. Aus diesem Grund gibt es auch in agilen Organisationen definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse.

Es gibt eine Vielzahl an konkreten Entscheidungsverfahren bzw. -werkzeugen. Einige der Beiträge in diesem Buch gehen auf diese Thematik ein und erläutern die im jeweiligen Unternehmen angewendeten Verfahren (vgl. bspw. HEILER/BORCK, FISCHERMANNS, SCHULLER/FUCKER und TILLMANNS-ESTORF et al.).116 Etwas vereinfacht lassen sich die verschiedenen Entscheidungsverfahren in dem Kontinuum von Abbildung 21 verorten. Auf der einen Seite gibt es Themen und damit Entscheidungen, für die eine Rolle verantwortlich ist und eigenständig und autonom entscheiden kann. Dies ist insbesondere bei operativen Aufgaben sinnvoll, die vielzahlig auftreten, keine weitere Kompetenz benötigen, keinen wesentlichen Einfluss auf andere Rollen haben und vor allem kein Risiko für das Gesamtsystem darstellen. Auf der anderen Seite des Kontinuums stehen Entscheidungen von strategischer Bedeutung für das Gesamtsystem (vgl. auch GORE-Beispiel weiter oben). Hier sind Gruppenentscheidungen im Konsens (alle stimmen zu), im Konsent (keiner hat einen begründeten, schwerwiegenden Einwand) oder nach Mehrheitsregeln möglich. In agilen Teams wird dabei häufig dem Konsentverfahren gefolgt. Wenn keiner einen schwerwiegenden Einwand hat, dann ist es „safe enough to try“, was übersetzt so viel heißt wie: „Wenn es momentan keine nachgewiesenen Einwände gegen diesen Vorschlag gibt, dann hindert uns nichts daran, ihn auszuprobieren.“ Ebenfalls sehr beliebt ist der konsultative Einzelentscheid, bei dem die verantwortliche Rolle oder eine gemeinschaftlich bestimmte Person verpflichtet ist, relevante Stakeholder bzw. Experten zum Thema zu konsultieren und deren Meinung einzuholen.

Abb. 21: Kontinuum von Entscheidungsverfahren117

Die konkreten, in agilen Organisationen vorzufindenden Entscheidungsverfahren, lassen sich prinzipiell in diesem Kontinuum einordnen. Entscheidend ist vor allem, dass es definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse gibt und die Entscheidungen dort getroffen werden, wo das dafür notwendige Wissen am größten ist.

Transparenz

Eine Grundvoraussetzung für Agilität – für obsessive Kundenausrichtung, ein funktionierendes Pull-Prinzip, autonome Teams, Selbstorganisation usw. – ist es, dass die Rolleninhaber und agile Teams über alle notwendigen Informationen verfügen. Agilität benötigt Transparenz. Transparenz bzw. Offenheit ist die Voraussetzung für Freiheit und Verantwortung in agilen Prozessen und Strukturen.

Damit Mitarbeiter die Bedeutung und Konsequenzen von Aufgaben und Entscheidungen einschätzen und im Sinne des Gesamtunternehmens sinnvoll eigenständig bearbeiten und entscheiden können, brauchen sie z. B. Transparenz über die strategische Ausrichtung, Priorisierungskriterien, Unternehmens-, Finanz- und Wirtschaftlichkeitskennzahlen sowie sonstige entscheidungsrelevante Informationen. Sichtbarkeit – in Verbindung mit Verständnis – ist eine wesentliche Voraussetzung für die Beseitigung von Problemen. Nur bei einer ausgeprägten Transparenz ist eine kurzfristige Einflussnahme und Anpassung möglich. Daher benötigen die Akteure jederzeit Zugang zu empirischen Informationen über Kunden, Produkte, Preise, wirtschaftliche Indikatoren und Kennzahlen. In agilen Organisationen gilt die Grundregel „transparency by default“ bzw. „open by default“.118 D. h. im Normalfall sind alle Informationen für alle zugänglich. Geheimhaltung gibt es nur in begründeten bzw. zu begründenden Ausnahmefällen.

Etliche Beiträge in diesem Buch betonen die Bedeutung von Transparenz.119 Bei TELE HAASE beispielsweise wurden in den letzten Jahren vielfältige Informationsgrenzen – nach innen und auch außen – abgebaut und man hat sich ganz bewusst „in die Karten schauen“ lassen (vgl. STELZMANN/REININGER). Denn eine solche Offenheit wird als fruchtbarer Boden für neue Geschäftsmodelle in Zeiten der Digitalisierung betrachtet. Man hat erkannt, dass dann, wenn Menschen ins Gespräch kommen, anstatt sich hinter selbst gebauten Mauern zu verstecken, Dinge ins Rollen kommen und neue, innovative Ansätze entstehen. Auch bei HEILER (vgl. HEILER/BORCK) und IBO (vgl. FISCHERMANNS) wird eine ausgeprägte Transparenz verfolgt. Alle Mitarbeiter wissen über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens immer Bescheid. Gleiches gilt für die Performance und Wirtschaftlichkeit im eigenen Team und Verantwortungsbereich.

Zur Umsetzung von Transparenz wird bei agilen Organisationsansätzen gerne und intensiv mit für alle zugänglichen digitalen und physischen Kommunikations- und Informationsplattformen gearbeitet. Bei agilen Methoden, wie bspw. Kanban und Scrum (vgl. Kapitel 6), spielen transparente Backlogs und Task-Boards meist eine zentrale Rolle in der Koordination der arbeitsteiligen Arbeit. Es ist wichtig, dass alle wissen, wo man steht, was noch zu tun ist und wie sich die Performance verändert. Bei SIEMENS wird deshalb mit Obeyas (japanisch für „großer Raum“) gearbeitet, in denen alle zentralen Projektinfos visualisiert sind und die Projektmeetings stattfinden (vgl. den Beitrag von KALNIK). Dadurch sind immer alle zentralen Infos für alle transparent und greifbar. Auf diese Weise wird für schnelle Kommunikation und kurze Entscheidungswege gesorgt.120

 

Eine solche Transparenz bzw. Offenheit erfordert und fördert ein großes Vertrauen und Zutrauen in die Mitarbeiter (vgl. Kapitel 9). Dies sollte sich in einem hohen Engagement und verantwortungsvollen Mitentscheiden und Mitgestalten niederschlagen. Transparenz ersetzt so in agilen Systemen umfangreiche Kontrollsysteme.121