DAS ALIEN TANZT WALZER

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Gard Spirlin: Alles Walzer

Gulp langweilte sich. Er lümmelte in seinem TriDi-Stuhl und zappte träge durch die Unterhaltungskanäle seines All-Galactic-Accounts. Sein drittes Bein hatte er über eines der anderen gelegt, sein Kammschopf hing ihm wirr über die Augen. Wenn der geneigte Leser jetzt vielleicht messerscharf mutmaßt, dass Gulp kein Erdenbürger war, dann liegt er damit natürlich sehr richtig: Der kleine Außerirdische befand sich zig Lichtjahre entfernt auf seinem Heimatplaneten Huuryak und hatte bis dato gar keine Kenntnis von unserem Blauen Planeten in einem unbedeutenden Randbezirk der Milchstraße.

Das sollte sich allerdings bald ändern. Denn wie schon erwähnt, Gulp war gerade extrem fad. Und so schaltete er, wie er es manchmal tat, auf den Discovery-Mode seiner exklusiven Satellitenanlage, der es ihm erlaubte, Sendungen von fernen Sternensystemen zu empfangen und zu decodieren. Manchmal fand er die primitiven Sendungen anderer Kulturen recht unterhaltsam. Doch auch hier: laaangweilig! Eine Seifenoper reihte sich an die andere, nur dass die Darsteller nicht drei Gliedmaßen und eine gesunde rote Gesichtsfarbe wie bei seinen heimischen Sendern, sondern fünf, sieben oder wahlweise auch gar keine Extremitäten aufwiesen, und die Kolorierungen alle Farben des sichtbaren und auch unsichtbaren Spektrums hatten.

Doch plötzlich erweckte eine Sendung seine Aufmerksamkeit: Das primitive 2-D-Bild zeigte eine rotierende Raumstation. Das war jetzt an sich nicht so ungewöhnlich, denn fast alle halbwegs intelligenten Spezies der Galaxie (und auch die weniger intelligenten) betrieben Raumfahrt. Nein, was Gulp tatsächlich ganz und gar fesselte, war die Musik, die dazu aus seinen Sphärenboxen drang: ein himmlischer Wohlklang, rund und harmonisch, und das in einem Rhythmus, der ihn in seinen Bann zog. Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, begann er unwillkürlich mitzuzählen. Die Raumstation drehte sich dazu wie ein riesiges Rad. Welche Spezies machte eine so herrliche Musik? Er musste unbedingt mehr darüber erfahren!

Gulp speicherte schnell die Koordinaten, woher diese Sendung kam, in seinen Assistenten und sprang voll Tatendrang auf. Dort musste er hin! Zum Glück war sein Ziel nur etwa hundert Lichtjahre entfernt, quasi ein Katzensprung, wenn es auf seinem Planeten Katzen gegeben hätte. Er eilte in seinen Quantenraumer, der stets startbereit vor seiner Behausung parkte, und übertrug die Koordinaten seines Zieles in das Navigationssystem. Man muss jetzt dazu anmerken, dass Gulp erstens dank einer Erbschaft von seinen drei Eltern recht wohlhabend war und zweitens selbst noch keine Partner gefunden hatte, also über seine Zeit und Ressourcen vollkommen frei verfügen konnte. Das machte solche Spontanausflüge erst möglich.

Nur wenige Stunden Subjektivzeit später tauchte seine Sternenjacht in unmittelbarer Nähe des Zielplaneten (die Bewohner nannten ihn »Erde«, hatte er in der Galaktopedia herausgefunden) aus dem Hyperraum. Gleich nebenan in Sichtweite befand sich ein kleines Raumfahrzeug der Einheimischen in synchronem Orbit. Er scannte zwei Lebensformen darin. Kurz entschlossen beamte er sich auf das andere Raumschiff. Irgendwo musste er ja schließlich mit seiner Suche nach dieser wunderbaren Musik beginnen.

Er materialisierte in einem unglaublich unordentlichen Raum, dessen Boden von leeren Getränkebehältern geradezu übersät war. Der Geruch von Ethanol und abgestandener Buttersäure war geradezu überwältigend. Zum Glück konnte Gulp alle drei seiner Riechöffnungen mit einem Hautlappen verschließen, was er auch sofort tat. Auf einer Sitzgelegenheit lehnte ein Erdling und stierte ihn aus nur zwei Sehorganen mit trübem Blick an.

Gulp vollzog die intergalaktische Friedensgeste, die für solche Erstbegegnungen vorgeschrieben war, und aktivierte den Universaltranslator.

»Seid mir gegrüßt, werter Bewohner dieses Planeten! Ich möchte Euch höflichst bitten, mir mit einer kleinen Auskunft weiterzuhelfen, wenn Ihr so freundlich wärt?«

Der Erdling glotzte. Gulp wartete geduldig. Nach einer angemessenen Wartezeit versuchte er es erneut: »Mein Freund, ich würde nur eine ganz kleine Information von Euch benötigen, dann könnte ich weiter meiner Wege ziehen.«

Keine Reaktion. Gulp trat vorsichtig ein wenig näher und wedelte mit einer seiner oberen Extremitäten vor dem Kopf des Fremden herum. Die Reaktion war beachtlich: Der Erdling heulte plötzlich laut auf und Flüssigkeit begann aus seinen Sehorganen zu fließen.

»Schie… schie… schie ‘at mich verla-ha-ha-assen…«, schluchzte es steinerweichend aus dem Translator.

»Wie bitte? Entschuldigen Sie, ich habe leider nicht ganz verstanden!«, zeigte sich Gulp irritiert.

»Wahahahaaaa… Sie hat mich verlaaaaaaassen!«

»Das tut mir sehr leid für Sie, wenn ich auch nicht genau weiß, was Sie damit meinen. Aber könnten Sie vielleicht trotzdem…?«

»Buhuhuhuaaaa!«

Gulp begann zu ahnen, dass er hier nicht wirklich weiterkommen würde. Der Erdling schniefte und schluchzte weiter vor sich hin, schüttelte immer wieder verzweifelt den Kopf und raufte sich die darauf wirr abstehenden dichten braunen Borsten. Gerade als Gulp überlegte, sich wieder auf seinen Quantenraumer zurückzubeamen, hörte er eine andere Stimme: »Vergessen Sie's! Das geht schon so, seit wir von Ceres aufgebrochen sind.« Gulp machte eine elegante Dritteldrehung zu dem Neuankömmling, der soeben in den Raum getreten war. Er erblickte die kleinere Version eines Erdlings, der sich gelassen an die Wand lehnte. Mit einer Art Tentakel, der aus seiner Nahrungsaufnahmeöffnung kam, leckte er an einem Kegel, der im oberen Bereich aus gefrorenem Wasser mit diversen Lipiden und Aromastoffen bestand, wie Gulps Analysator sogleich in sein Sichtfeld einblendete.

»Seien Sie mir ebenfalls gegrüßt, kleinerer Erdling!«, grüßte er höflich. »Sind Sie ein Nachkomme dieses Individuums auf jener Sitzgelegenheit dort drüben? Wo sind die anderen beiden Eltern?«

Sein Gegenüber verzog seinen Mundschlitz nach oben und entblößte dabei gruselig aussehende Kauwerkzeuge.

»Nein, eigentlich ist der dort mein Sohn. Ich heiße Lennard Ryder, Professor Lennard Ryder, um genau zu sein. Sehr erfreut.« Der Kleine hielt Gulp eine seiner oberen Extremitäten entgegen und mangels Wissen, was er damit machen sollte, ließ Gulp einen Tropfen aus seinem Begattungsorgan darauf träufeln, was auf seiner Welt eine höfliche Aufforderung zum Test auf genetische Kompatibilität war. Da der andere nicht angemessen darauf reagierte, setzte Gulp einfach die Konversation fort: »Aha, Sie pflanzen sich retrograd fort, werden im Lauf Ihres Lebens immer kleiner?«

»Aber nein, mein Aussehen ist die Folge einer unabsichtlichen Verjüngungskur auf dem Mars, aber das ist eine andere Geschichte. Was kann ich für Sie tun? Mein Sohn ist, seitdem ihn seine Tussi verlassen hat – steiler Zahn übrigens – vollkommen unansprechbar.«

»Ich begreife zwar kein Wort, was Sie mir da sagen, aber ja, Sie würden mir sehr weiterhelfen, wenn Sie mir zeigen könnten, wo ich zu mehr von dieser wunderbaren Musik kommen kann?«, bat Gulp, erfreut darüber, endlich einen vernünftigen Gesprächspartner gefunden zu haben. Er holte einen kleinen Holoschirm aus seiner Tasche und spielte das Video von der sich zum Takt drehenden Raumstation ab.

»Ah ja, klar! Ich erinnere mich daran. Das war ein Film aus meiner Kindheit: 2001 – Odyssee im Weltraum! Das ist jetzt über ein Jahrhundert her. Nein, diese Musik werden Sie heute nicht mehr finden. Die war schon veraltet, als dieser Film entstand!«

Gulp ließ enttäuscht seinen Kammschopf hängen, seine gesunde rote Hautfarbe verblasste deutlich.

»Na, na, nicht traurig sein, mein Lieber! Zumindest kann ich Ihnen sagen, wer diese Musik komponiert hat und wann und wo er gelebt hat: Das war nämlich ein gewisser Johann Strauß Sohn und er lebte vor zweihundert Jahren in einer Stadt namens Wien. Hallo? Hören Sie mir überhaupt zu?«

Gulp war in eine für seine Spezies übliche Nachdenkstarre verfallen, registrierte aber dennoch jedes Wort seines Gesprächspartners. Beim vorletzten Satz des Erdlings besserte sich seine Laune wieder merkbar. Ihm war eingefallen, warum er sich damals für den (um einiges teureren) Quantenraumer anstelle einer gewöhnlichen Hyperjacht entschieden hatte: Der äußerst eloquente Verkäufer hatte ihn damals auf die Möglichkeit hingewiesen, mit dem Schiff auch Zeitsprünge machen zu können! Seinerzeit hatte er das hauptsächlich als Prestigefeature gesehen, mit dem er in seiner Clique, vor allem bei den anderen beiden Geschlechtern, angeben konnte. Aber jetzt…

»Wann und wo genau finde ich diesen Strauss?«, fragte er den jungen Erdling, der eigentlich alt war.

Lennard Ryder sagte es ihm und Gulp beamte sich auf sein Schiff zurück, nachdem er sich hastig bedankt hatte.

Vielleicht hätte ich ihm auch sagen sollen, dass die Menschen damals nicht an den Anblick von Aliens gewöhnt waren, überlegte Ryder. Ach was, er wird es schon merken…

»Komm, Sohnemann, Zeit fürs Frühstück!«, sagte er zu dem wieder in trübseliges Starren verfallenen Mann auf dem Sofa.

»Woismeinemargarita?«, nuschelte dieser in seinen Fünftagebart.

Johann Strauss junior war verzweifelt. Da saß er nun spätabends in seiner teuren neuen Wohnung in der Praterstraße vor dem besten Flügel, der für Geld zu haben war, und dieser stand stumm vor ihm, weil ihm nichts mehr einfiel! Endlich hatte er alles, was er sich für seine Karriere als Komponist erträumt hatte, und jetzt musste ihm so etwas passieren. Seine Frau Henriette, die geliebte Jetty, hatte er in ihrem Sommerhaus in Hietzing zurückgelassen, damit er in Ruhe arbeiten konnte, aber jetzt lagen schon mehrere Flaschen Weißwein kreuz und quer am Boden neben dem Klavier, die der Künstler aus Verzweiflung und auf der Suche nach Inspiration geleert hatte. Er löschte das Licht, stand mühsam auf und wankte zum Fenster, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Gerade als er dieses öffnen wollte, hörte er ein deutliches Plopp hinter seinem Rücken, gefolgt vom Scheppern von Glas und einem Plumpsgeräusch, als ob ein nasser Sack Hafer zu Boden gefallen wäre. Er drehte sich um.

 

Im Schein der von der Straße herein leuchtenden modernen Gaslaternen vermeinte er, Folgendes zu sehen: Einen unförmigen Körper mit roter Haut, der versuchte, zwischen den umherrollenden Flaschen, über die er gestolpert war, wieder auf seine drei Beine zu kommen. Da er dabei auch drei Arme zur Verfügung hatte, klappte das eigentlich recht gut, fand Strauss. Er fragte sich weiters, ob er vielleicht heute außer am Wein auch noch ein wenig an der Absinthflasche genuckelt haben könnte, und musste sich eingestehen, dass er sich selbst darüber nicht schlüssig Auskunft geben konnte. Also zuckte er die Schultern und fragte seinen unverhofften Gast: »Woll'n S' vielleicht a Achterl?«

Man sollte dazu vielleicht anmerken, dass die Wiener erstens, wenn Sie nicht gerade grantig sind, eigentlich ein sehr gastliches Volk sind, und zweitens, dass sie eine Gelegenheit zum Trinken sowieso nie auslassen. Und in dieser Hinsicht war Johann Strauss junior definitiv keine Ausnahme. Gulp hingegen nahm einmal mehr den Geruch von Ethanol aus den Getränkebehältern wahr, über die er gestolpert war, und fragte sich daher nicht ganz zu Unrecht, ob dieser energiereiche Stoff auf der Erde vielleicht ein Grundnahrungsmittel sein könnte. Er sah sich einem leicht schwankenden Einheimischen gegenüber, der ihm nun ein mit der besagten Flüssigkeit gefülltes Glas entgegenhielt. Er hatte nicht nur auf dem Kopf dunkle haarige Borsten, sondern seltsamerweise in Form einer riesigen Bürste auch über seinem Mundschlitz. Wahrscheinlich dient diese Vorrichtung zum Reinigen der Nahrung, mutmaßte er.

»Gulp mein Name, verehrter Erdling. Sind Sie vielleicht Strauss, der Kleinere?«

»Johann Strauss, der Jüngere, meine Verehrung, der Herr, aber sag’n S’ ruhig Schani zu mir! Zu Ihren geschätzten Diensten.«

Gulp nahm das ihm dargebotene Glas vorsichtig entgegen und bedankte sich höflich. Der Musiker behielt gleich die ganze Flasche in der Hand und nahm sicherheitshalber einen langen durstigen Schluck daraus, bevor er fragte: »Womit kann ich Euer Gnaden dienen?«

»Ich habe Ihre wunderbare Musik gehört und würde gerne mehr davon haben. Können Sie mir vielleicht einen Datenträger davon verkaufen?«

Johann Strauß runzelte verwirrt die Stirn. Dass dies ein potenzieller Kunde sein könnte, schien ihm sicher, aber was redete der da?

»Wenn S’ Noten von mir kaufen wollen, dann können S’ in jede Musikalienhandlung in Wien gehen. Ansonsten empfehle ich Ihnen an Konzertbesuch. Am nächsten Sonntag spiel’ i im Casino Dommayer in Hietzing, wenn’s beliebt.«

»Nein, ich meine, eine Tonaufzeichnung, so wie diese hier«, sagte Gulp und spielte einmal mehr das Video auf seinem Holoschirm ab.

Die Wirkung auf den Erdling war verblüffend! Er machte vor Schreck einen Satz nach hinten, stolperte dabei und fiel auf denjenigen Körperteil, den diese Spezies normalerweise zum Sitzen benützte.

»Was haben S’ denn da? An Orchestra in der Tasch’n? ‘S is a Mirakel!«, stieß er atemlos hervor. Doch dann gewann die musikalische Neugier die Oberhand und er lauschte mit steigendem Interesse den Klängen.

»Wer ist denn der Maestro, der das komponiert haben mag?«, fragte er ehrfürchtig, als die letzten Töne verklungen waren. Gulp stutzte. War das doch nicht der richtige Erdling?

»Das waren doch Sie!«, stellte er trocken fest. Sehr trocken, denn an dem dargebotenen Glas hatte er wohlweislich nicht einmal genippt. Dann sah er auf das Display eines kleinen Geräts, das einer Fernbedienung nicht unähnlich war.

»Oh, Mist!«, meinte er dann zerknirscht. »Verzeihung, mein Herr, ich muss mich korrigieren. Ich meinte natürlich: Das werden Sie sein!«

»Wie meinen, Euer Gnaden?« Johann Strauss junior befand sich natürlich geistig äußerst fest verankert im Spätsommer des Jahres 1866 und war daher mit den Fallstricken von Zeitparadoxa eher wenig bis gar nicht vertraut.

»Nicht so wichtig!«, sagte Gulp hastig. »Leider ist meine Zeit begrenzt und ich muss jetzt gehen. Nächsten Sonntag in Hietzing, sagten Sie? Ich werde dort sein, leben Sie wohl!«

Mit einem Plopp verschwand er genauso schnell, wie er erschienen war.

»Aber dann zieh’n S’ sich was G’scheiteres an, in so an roten Anzug kann man do ned auf die Straß’ gehen, oder?«, zeigte sich der Musiker noch mild entrüstet. Doch nun beschäftigte ihn bereits ein ganz anderer Gedankengang und er setzte sich eifrig ans Klavier. Wie war die Melodie doch gleich gegangen? Er summte ein wenig im Dreivierteltakt vor sich hin. Dann griff er beherzt in die Tasten seines Flügels.

Gulp blieb noch länger in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Nachdem er ein paar sehr unerquickliche Erlebnisse mit fürchterlich erschreckten Einheimischen gehabt hatte, bestellte er sich bei Allmazon eine Holotarnung, die es ihm erlaubte, wie ein ganz normaler Bewohner von Wien durch die Stadt zu flanieren. Auch besuchte er solcherart verkleidet oft Tanzveranstaltungen, vorzugsweise, wenn Meister Strauss ein Konzert gab. Dass er dort als Walzertänzer bei der Damenwahl äußerst beliebt war, lag möglicherweise auch daran, dass er sein drittes Bein unter der Tarnung in seiner Körpermitte aufgerollt und verstaut hatte, was bei engeren Tanzschritten zu unglaublichen Verzückungen seiner Tanzpartnerinnen führte. Er selbst fand ja, dass drei Beine für den Walzer weitaus besser geeignet wären als nur zwei, aber in dieser Hinsicht hielt er sich brav an die Konventionen seines Gastplaneten. Gulps Lieblingsmusik war und blieb jedoch der »Donauwalzer«, wenn auch noch viel Wasser ebendiesen Fluss hinabfließen würde, ehe sich zu dessen luftig-leichten Klängen in einem Science-Fiction-Film das riesige Rad einer Raumstation drehte.

Stephanie Lammers: Die Gabe

Dass die Kollegen aus Johannas Abteilung es auch in diesem Jahr versäumt hatten für ein Geburtstagsgeschenk zu sammeln, tat weh.

Ach ja, richtig!

Sorry, total vergessen.

Der Stress, du weißt schon.

Johanna zwang sich zu einem Lächeln und reichte die Tupperdose mit selbst gebackenen Muffins herum. Der Schmerz, der ihr seit Tagen den Magen zusammenknüllte, hatte andere Gründe.

Einer dieser Gründe verließ soeben das Kunden-WC. Er verharrte einen Augenblick, die Hand noch auf der Klinke, schwebte dann quer durch die halbe Belletristik und blieb schließlich vor dem Regal H bis I stehen: ein Mann um die vierzig, Anzugträger, mit dezentem Schlips. Typ: Geschäftsreisender – nur dass seine glänzenden schwarzen Schuhe den Boden nicht berührten.

Johanna fröstelte, trotz der viel zu warmen Heizungsluft.

»Also, ehrlich, die Kundentoilette ist der reinste Bahnhof«, verkündete Henning, der zwar Johannas Blick gefolgt war, aber offenbar nichts Ungewöhnliches bemerkt hatte. Jedenfalls pulte er ungerührt einen Schokomuffin aus seiner Papiermanschette und biss hinein. »Die Leute kommen einfach so von der Straße reinspaziert. Und das nur, um die paar Cent für die Klofrau zu sparen.«

Demnach war Henning entgangen, dass der Kunde die Kundentoilette zwar verlassen, sie aber zuvor nicht betreten hatte.

Die Tür befand sich genau in Johannas Blickfeld. Niemand konnte das WC aufsuchen, ohne an Johannas Verkaufstresen vorbeizugehen. Der schwebende Mann war ihr ganz gewiss nicht unter die Augen gekommen.

»Schon gesehen? Das Überwachungssystem ist mal wieder im Eimer«, schimpfte Doris dazwischen und hämmerte auf der Tastatur des Bestell-PCs herum, so als könnte größerer Nachdruck die Kamerabilder zurückbringen. Der viergeteilte Flachbildschirm revanchierte sich mit Elektroschnee.

»Als wäre das hier eine öffentliche Toilette.« Henning hielt hartnäckig an seinem Thema fest. Eigentlich hatte er als Sortimenter der Reisebuchabteilung in diesem Teil des Ladens nichts verloren, aber er nutzte jede Gelegenheit, sich unter die »drei Damen von der Belletristik« zu mischen und mit Johannas Kolleginnen Doris und Edwina zu flirten. »Also, echt! Können die Leute nicht wenigstens nebenan bei MacDoof gehen?«

»Also« war eines seiner Lieblingsworte.

»Vielleicht mögen sie Bücher?«, murmelte Johanna, ohne die Augen von dem schwebenden Kunden zu wenden. Der Mann, wenn es denn ein Mann war – Johanna war da nicht sicher –, hatte langsam den Arm ausgestreckt und mit spitzen Fingern ein dickes Taschenbuch aus dem Regal gezogen. Nun drehte und wendete er es in seiner Hand, als hätte er noch nie zuvor ein Buch gesehen. Schließlich schlug er das Buch irgendwo in der Mitte auf, betrachtete die bedruckten Seiten, klappte das Buch wieder zu, und wieder auf, und wieder zu. Anschließend strich er mit den Fingerspitzen über die Rückseite, als sei der Klappentext in Blindenschrift verfasst. Zuletzt stellte er das Buch wieder an seinen Platz, nur um sich das Nächste zu greifen, streng nach Alphabet.

»Guck dir den an«, sagte Henning und wies mit dem Kinn auf den Mann, der gerade ein paar Zentimeter höher schwebte, um einen historischen Roman in seine Lücke zurückzustellen. »Also, der Typ kauft bestimmt nichts. Jede Wette.«

»Die Wette halten wir«, warf Doris rasch ein, »nicht wahr, Johanna?«

Johanna hätte sie dafür am liebsten zum Mond geschossen.

»Genau. Klingt nach einem Fall für unser Verkaufswunder«, sagte Edwina kauend und krümelnd, und nicht ohne Biss. »Unsere Johanna findet für jeden Kunden das richtige Buch. Garantiert.«

»Unsere Johanna« gab keine Antwort. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Von wegen Verkaufswunder. Das war einmal. Das war, bevor die Kunden anfingen, durch den Laden zu schweben.

»Los, zeig’s ihm, Johanna«, drängelte Edwina.

Johanna schüttelte den Kopf. Hatten Doris und Edwina nichts Besseres zu tun als diese dumme Wette?

Drüben in der Reisebuchabteilung wanderten schon zwei normale Kunden in einem unregelmäßigen Orbit um Hennings Bestellcomputer. Trotzdem machte Henning keine Anstalten, wieder an seine Arbeit zu gehen.

»Na los, Johanna, nun zier dich doch nicht so.« Edwina verzog den Mund zu einem Schmollen. »Komm schon. Die Ehre der Abteilung steht auf dem Spiel.«

Die Ehre der Abteilung war Johanna egal, jedenfalls im Augenblick. Auch der übliche Wetteinsatz von einer Runde Latte macchiato von nebenan war kein Anreiz. Aber tief in ihrem Inneren war Johanna überzeugt, dass gewisse Menschen und Bücher füreinander bestimmt waren. Johanna stellte sich oft vor, dass Schriftsteller beim Verfassen ihrer Werke eine ganz besondere Sorte Leser vor Augen hatten, bewusst oder unbewusst. Die Aufgabe des Buchhändlers war es, dafür zu sorgen, dass all die vielen Bücher ihren Bestimmungsort auch erreichten.

Bis vor ein paar Tagen noch war Johanna diese Aufgabe leichtgefallen. Doris behauptete immer, Johanna habe eine Art magische Gabe: Sie könne jedem Kunden seinen Bücherwunsch an der Nase ablesen. Das war natürlich Quatsch. Na gut, es kam gelegentlich vor, dass Johanna einem Kunden auf den ersten Blick ansah, welches Buch zu ihm passte, doch in den meisten Fällen kam sie erst im Verlauf eines kurzen Verkaufsgesprächs dahinter.

Seitdem die Kundentoilette jedoch angefangen hatte Kunden auszuspucken, die zwei bis drei Zentimeter über dem Fußboden dahinglitten, fühlte sich Johanna von ihrer Gabe im Stich gelassen. Auch wenn sie jetzt zu dem schwebenden Mann hinüberblickte, regte sich in Johanna gar nichts – abgesehen von der nagenden Angst, den Verstand zu verlieren.

In fast allen Büchern, die sie gelesen hatte, musste sich der Held am Ende seinen Ängsten stellen. Vorhersehbar, wie Johanna fand, Schema F, aber irgendwie auch tröstlich. Natürlich war sie keine Heldin, und Literatur hatte die Wirklichkeit nachzuahmen, nicht umgekehrt, und … und all diese Überlegungen führten zu rein gar nichts. Sie war Buchhändlerin. Buchhändlerinnen verkaufen Bücher, Punkt. Meinetwegen auch an den Grafen Dracula, wenn der in den Laden kam. Ein Kunde war ein Kunde war ein Kunde, oder so.

 

Johanna nahm einen tiefen Atemzug, zupfte ihren Pullover zurecht und setzte ein Lächeln auf, auch wenn ihr gerade nicht danach zumute war. Den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet nahm sie Kurs auf das Regal H bis I. Schritt für Schritt.

Ein zimtiger Geruch stieg ihr in die Nase, und die Luft knisterte wie ein Polyesterpullover.

Der Mann hatte ihr den Rücken zugewandt. Er trug einen schiefergrauen Mantel, darunter Hosen in etwas hellerem Grau, gute Qualität. Nicht so flott wie ein Banker, aber auch nicht so fad wie die Sachbearbeiter des nahe gelegenen Finanzamtes. Schicke Schuhe, dachte Johanna, nervös. Oberflächlich gesehen.

Wenn sie nämlich genau hinschaute, kräuselten sich die Schuhe, die Hose, der Mantel und die blonden Haare des Mannes, wie eine Teichoberfläche, wenn Wind sacht darüberstreicht. Darunter blitzte etwas anderes auf. Nur kurz. Kaum zu sehen, schon wieder weg, unter der Oberfläche verborgen: Da waren weder Schuhe noch Füße, sondern, nun ja, etwas Glänzendes, das sich ringelte und wand wie ein Knäuel Regenwürmer.

Johanna nahm allen Mut zusammen, froh, dass der Mann nicht hören konnte, wie ihr Herz raste. »Verzeihung, kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Mann zuckte zusammen.

Das Taschenbuch, in dem er geblättert hatte, landete mit einem satten Plumps auf dem Teppichboden.

»Oh, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Johanna bückte sich und hob das Buch auf. Sie strich die zerknickte Titelseite glatt und blickte auf.

Fahlgraue, ungewöhnlich flache Augen starrten zurück. Reglos wie auf einer schlechten Fotografie.

Der Mann streckte langsam die Hand nach dem Buch aus. Die Nägel waren kurz geschnitten. Eine protzige Armbanduhr prangte an seinem Handgelenk. Seltsam, was für Details einem manchmal so auffielen. Und unter dem Offensichtlichen, dem Alltäglichen ein Wimmeln und Wuseln, wie von Tintenfischarmen …

Johanna reichte ihm das Buch. Den Instinkt, der ihr riet, sich umzudrehen und schreiend davonzulaufen, rempelte und schubste sie in die hinterste Ecke. Für Hysterie war auch später noch Zeit.

Der Mann verneigte sich. »Ich danke Ihnen.« Seine Stimme war schlüpfrig und nur fast menschlich, und Johanna fiel auf, dass Worte und Lippenbewegungen nicht zusammenpassten, wie bei einem schlecht synchronisierten Film.

Sie schluckte. Entweder sie hatte eine Art Kurzschluss im Gehirn und sah lauter Dinge, die nicht da waren, oder aber das Gewimmel war echt, und die menschliche Gestalt nur eine Art Tarnung. Dann allerdings war die Tarnvorrichtung, die fremdartige Bewegungen und Sprache in menschliche Ausdrucksformen übersetzte, irgendwie kaputt.

»All das«, fuhr der Mann fort und wies auf die Regale voll Bücher, »all das ist passiert, ja?«

»Was in den Büchern steht? Nein, nicht unbedingt. Was darin passiert, ist meistens erfunden, aber nicht das, worum es geht«, sagte Johanna. Ihr Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Bei solchen Gesprächen befand sie sich auf vertrautem Terrain.

Der Mann legte den Kopf schief. Seine Stirn furchte sich. Menschliche Mimik. Ziemlich gut gelungen.

Johanna lächelte. »Gute Geschichten lügen, um die Wahrheit zu sagen.«

»Oh.« Die fahlgrauen Augen zuckten und flimmerten, aber Johanna erschienen sie jetzt nicht mehr ganz so flach. »Gibt es viele solcher ›Geschichten‹?«, fragte er und wackelte heftig mit den Fingern, so als wollte er nach etwas greifen.

»Sehr viele.« Johanna wies auf die Tische mit den Neuheiten. »Und es werden ständig neue geschrieben.«

Unzählige Fragen lagen ihr auf der Zunge: Wo kam er her? War er wirklich ein »er«? Wie viele seiner »Landsleute« gab es noch auf der Erde? Waren sie Touristen oder nur auf der Durchreise? Was war mit der Kundentoilette? Lag es an ihm, dass das Überwachungssystem ausgefallen war? Gab es dort, wo er herkam, auch Bücher – und was für welche? Hatte er überhaupt Geld, um zu bezahlen? Wie kam es, dass er menschliche Schrift lesen konnte? Und wie sahen Menschen in seinen Augen aus? Was sie ihn tatsächlich fragte, war: »Darf ich Ihnen vielleicht ein Buch empfehlen?«

»Das würden Sie tun?« Sein Gesicht hellte sich auf.

»Dazu bin ich da«, sagte Johanna.

Was sollte sie empfehlen? Ulysses? Einen Augenblick lang blitzte das Bild einer riesigen galaktischen Zivilisation vor ihrem inneren Auge auf: Milliarden von tentakelbewehrten Wesen, die gleichzeitig mit der Menschheit den Bloomsday begingen. Oder vielleicht doch eher Shakespeares gesammelte Werke? Sein oder nicht sein unter fernen Himmeln mit grünen Sonnen? Goethes Faust? Harry Potter?

Nachdenklich legte sie die Stirn kraus. Denk nach, sagte sie sich. Bücher sind wie Botschafter. Welchen Botschafter wirst du zu den Sternen schicken? Die Antwort stieg wie selbstverständlich in ihr auf. Natürlich!

Beschwingt schritt Johanna voran. Der Kunde schwebte dicht hinter ihr her. Beim Buchstaben S blieb sie stehen und griff ins Regal. »Man liest sie von vorne bis hinten«, erklärte sie, als sie ihm das Buch reichte. »Das hier ist ein Klassiker. Schauen Sie einfach mal, ob Ihnen das gefällt.«

Johanna verlor die Wette ihrer Kolleginnen. Der schwebende Mann kaufte das Buch nicht. Vielleicht hatte er keine Euros in der Tasche. Aber darum ging es Johanna ja auch nicht. Als sie zum Feierabend hinter den letzten Kunden den Laden abschloss, schwebte er immer noch dort, völlig in das Buch vertieft.

»Verzeihen Sie, wir schließen jetzt.«

Er hob den Kopf, langsam, als koste es ihn große Anstrengung, sich loszureißen. Mit einem letzten bedauernden Blick klappte er das Buch zu und hielt es ihr entgegen.

»Behalten Sie es ruhig.« Johanna lächelte.

Immer noch lächelnd zahlte Johanna den Kaufpreis in die Kasse und sah zu, wie der Mann zurück zur Kundentoilette schwebte, Gullivers Reisen wie einen Schatz unter einen Tentakel geklemmt.