Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Etwas stärkere argumentative Gegenkraft haben die Einwände bezüglich der Nomina Sacra. Hieraus folgt, dass erstens alle außerkanonischen Befunde in Texten und in den archäologischen Zeugnissen44 als Reaktion auf die stilbildende Innovation einer editio princeps zurückführt werden müssen, was allerdings aus chronologischer Sicht durchaus möglich ist. Zweitens ist noch einmal hervorzuheben, dass der Herausgeber in Trobischs Modell lediglich das System, nicht aber die genaue Ausgestaltung etabliert habe. Es wäre daneben aber drittens auch möglich anzunehmen, dass der Herausgeber einen bestehenden Identitätsmarker der frühen Christen aufgegriffen haben könnte. Auch dies könnte die Verbreitung und Variabilität erklären, wäre aber immer noch kein Gegenbeweis der These Trobischs. Insgesamt sollte man aber die Beweislast, die man den Nomina Sacra für den Nachweis einer editio princeps aufbürdet, nicht allzu stark strapazieren.

Die weiteren Einwände – zur Disparatheit der hss. Überlieferung (g) und zu den Abweichungen in der altlateinischen Überlieferung (h) – können hier nicht ausführlich thematisiert werden. Allerdings kann man im textkritischen Befund doch einige Muster und Regelmäßigkeiten bzw. statistische Auffälligkeiten erkennen, die ein Dynamizitätsparadigma wie das des „living texts“ in Frage stellen. Diesbezüglich sei angemerkt, dass das von M. Klinghardt angewandte Modell der Interferenz verschiedener Ausgaben („vorkanonisch“ – „kanonisch“) zur Erklärung von Varianten in der neutestamentlichen Textüberlieferung,45 das in der Theorie und auf der Basis des historischen Befundes konzeptionell noch zu verfeinern wäre, mutmaßlich weiterführende heuristische Potentiale bereithalten kann.46 Der Einbezug der altkirchlichen Übersetzungen (h) wäre sicher eine weiterführende Forschungsperspektive, die erkundet werden müsste. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Übersetzungen selbst schon eine eigene Tradition entwickelt haben könnten und im Sinne des Interferenz-Modells von „vorkanonischen“ Texten und Sammlungen beeinflusst sein könnten.47

2 Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente

Zahlreiche weitere Argumente, die Trobischs These in der Forschung der letzten Jahre entgegengebracht worden sind, können unter der Kategorie Sozial- und Kirchengeschichte subsumiert und in fünf Hauptargumente zusammengefasst diskutiert werden:

2.1 Die Kodexform habe schon vor einer mutmaßlichen Herausgabe der editio princeps für christliche Schriften Anwendung gefunden.1

Dieser Anfrage möchte ich angesichts der Veränderung in der Forschungslage seit der Herausgabe von Trobischs Habilitationsschrift einige weiterführende Fragen gegenüberstellen: Muss man nicht sogar davon ausgehen, dass „vorkanonische“ Sammlungen wie z. B. eine Paulusbriefsammlung oder die Bibel Marcions in Form eines Kodex herausgegeben worden sind? Ist die Annahme der innovativen Einführung der Kodexform durch den/die Herausgeber der editio princeps eine notwendige Bedingung der These Trobischs? Kann man nicht vielmehr annehmen, dass der/die Herausgeber eine bestehende christliche Editionspraxis von Sammlungen aufnahm und weiterführte? Der Kodex wäre in der frühchristlichen Publikationspraxis damit ja nicht „durch mehrere unabhängig voneinander arbeitende Herausgeber“2 eingeführt worden, sondern einfach nur von Herausgebern und Editoren älterer, vorkanonischer Sammlungen. Dies ändert alles nichts an der Einheitlichkeit des Befundes, auf denen Trobischs Schlussfolgerungen beruhen.

Ergänzt werden können die Schlussfolgerungen durch eine Beobachtung von Scheele an den literarischen Quellen der Alten Kirche. Er resümierte schon in den 1970er Jahren:

„Die Verwendungsart von ‚codex‘ in den hier herangezogenen Schriftstellen […] könnte vermuten lassen, daß sich in der alten Kirche ein bestimmter Aufteilungsmodus der Schriften der Bibel mehr oder weniger einheitlich gebildet hätte. Soweit ich sehen kann, ist diese Frage noch nicht gestellt und untersucht worden“.3

2.2 Im 2. Jh. sei es vor allem unter ökonomischen1 und technischen2 Gesichtspunkten noch nicht möglich gewesen, die neutestamentlichen Schriften in einem Kodex bzw. in einer „Vollbibel“ unterzubringen.

Dieses Argument halte ich aus sozialgeschichtlicher Perspektive für nicht tragfähig – man denke nur an das mutmaßliche Vermögen Marcions oder an die Kosten, die durch die paulinischen Reisen entstanden sein müssen.3 Hinter diesem Argument steckt eine m. E. fragwürdige Vorstellung des frühen Christentums als „subkulturelles Phänomen“4, das vor allem für die Unterschichten attraktiv war und in dem der Austausch biblischer Schriften ausschließlich über private Netzwerkstrukturen abgelaufen ist.5 Dabei wird ein sozialromantisches Bild (das aus dem 1Kor und Thesen zum historischen Jesus abgeleitet wird und schon für das 1. Jh aus vielen Gründen fragwürdig ist) ohne Kenntnis der Verhältnisse auf das 2. Jh. übertragen. Diese weit verbreitete Vorstellung in der Forschung ist ein Grund, warum Trobischs These von einer Publikation neutestamentlicher Schriften als Anachronismus gewertet wird.6 Diese Sicht wird zusätzlich genährt von einer gewissen Skepsis in der altphilologischen Forschung gegenüber den älteren Arbeiten7 zum antiken Buchwesen.8 Allerdings wird in der Arbeit Trobischs auch nicht ganz deutlich, wie er sich die Publikation der christlichen Bibel in vier Teilsammlungen (e a p r) im 2. Jh. rein technisch ganz genau vorstellt9 – als Publikation in einem oder zwei Bänden oder in mehreren Teilbänden.

In der Spätantike sind „Teilausgaben“ der Bibel in Kodexform ikonographisch10 und in den literarischen Quellen bezeugt. Es wäre weiterführend zu erörtern, ob und wie die neun Kodizes, die im Codex Amiatinus (f. 4r) abgebildet sind,11 sowie die bei Cassiodor (inst. 1, praef. 8) belegten neun Kodizes mit den von Trobisch postulierten Sammlungseinheiten in Zusammenhang stehen. Cassiodor hatte die gesamte Bibel in (vermutlich alt-)lateinischer Übersetzung12 und in Form von neun Kodizes vorliegen,13 wobei der achte Kodex die „kanonischen Briefe der Apostel“ – vermutlich in der Reihenfolge Paulusbriefe, katholische Briefe – (inst. 1,7,1) und der neunte Kodex die Apostelgeschichte und die Apokalypse (inst. 1,8,1) enthielt. Ein redaktionelles Interesse für diese Zusammenstellung (aus der Sicht Trobischs müsste man sagen: Neuzusammenstellung) liegt in der mutmaßlichen Zusammenfassung nach gattungsmäßigen Kriterien (Briefe vs. Erzähltexte im weitesten Sinne). Cassiodor nimmt aber die Paulusbriefe trotz Zusammenstellung mit den anderen Briefen als eine Einheit wahr; zudem stehen die Katholische Briefe am Ende von Kodex 8 und die Apg am Anfang von Kodex 9 noch in einer gewissen Nähe.14

Für eine Entscheidung vor dem technischen Hintergrund der antiken Buchproduktion besteht für das 2. Jh. ein dramatisches Quellenproblem, das mit der zeitlichen und regionalen Verteilung des handschriftlichen Befundes zusammenhängt: Wir besitzen aus dem 2. Jh. einfach keine materiellen Zeugnisse aus den geographischen Räumen (Kleinasien und Italien), die für eine von Trobisch postulierte Edition in Frage kämen. Den dünnen papyrologischen Befund aus dem provinziellen ägyptischen Hinterland für die technische Frage der frühchristlichen Buchproduktion im 2. Jh. auszuwerten – das gängige Vorgehen –, ist aus meiner Sicht methodisch nicht unproblematisch. Die auf dieser Basis gewonnene Evidenz kann die Beweislast eines validen Gegenarguments nicht tragen, umgekehrt ist aber auch der Beweis einer Existenz von einem Kodex, der das gesamte NT schon im 2. Jh. enthielt, nicht möglich.15

Chr. Markschies weist bei seiner Untersuchung von Bibliotheksinventaren darauf hin, dass „ein vollständiges Neues Testament dagegen häufiger aufzutreten“16 scheint und führt dazu fünf bzw. sechs Bibliotheksinventare an. Die Auswertung des Befundes von Papyri, Ostraka und Inschriften müsste jedoch m. E. im Einzelnen noch einmal diskutiert werden. Wie sicher ist es z. B., dass, wie Markschies vermutet, die Bezeichnung „Apostolos“ wie bei den Lektionaren17 stets die Sammlung der Paulusbriefe und die Sammlungseinheit des „[Prax]apostolos“ (= Apg und Katholische Briefe18) umfasst?19 Besteht hier nicht die Gefahr, Quellensprache und in der Textkritik historisch gewachsene Metasprache zur Bezeichnung der Sammlungseinheiten (e a p r) unsauber zu trennen? Das Ostrakon Till Nr. 148 (KO 679; Crum, Short Texts, 41, Nr. 165) belegt z. B. mit der Auflistung eines „kleinen Apostolos“ (ⲟⲩϣⲏⲙ ⲛⲁⲡⲟⲥⲧⲟⲗⲟⲥ) und eines „kleinen [anonymen!] Evangeliums“ (ⲟⲩϣⲏⲙ ⲛⲉⲩⲁⲅⲅⲉⲗⲓ̈ⲟⲛ) doch eher eine für die Marcioniten bezeugte Bibel. Die Interpretation, das „klein“ bezöge „sich wohl auf das Format der Bücher“20, scheint eher der Verlegenheit aus Ermangelung einer besseren Erklärungsmöglichkeit geschuldet. Dass ein kleiner Apostolos hier zusammen mit einem „kleinen Psalter“ genannt wird, korrespondiert mit den Angaben über einen Psalter häretischer Gruppierungen im muratorischen Fragment. Vgl. C. Mur. 81–85 (Lietzmann, Fragment, 10: arsinoi autem seu Valentini vel Miltiadis nihil in totum recipemus qui etiam novum psalmorum librum Marcioni conscripserunt una cum Basilide Asianum Cataphrygum constitutorem).

2.3 Die These Trobischs stünde im Widerspruch zu den Quellen (z. B. Irenäus, Canon Muratori, Origenes, Euseb), die eine Diskussion über die kanonische Geltung neutestamentlicher Schriften belegten.1

Diesem Kritikpunkt muss man zugutehalten, dass der Canon Muratori tatsächlich nicht die von Trobisch postulierte Zusammenstellung von 27 neutestamentlichen Schriften in vier Sammlungseinheiten belegt. Die diesem zudem noch schwer datierbaren und in seinem Zustand wenig vertrauenswürdigen Text zugemutete Beweislast in einigen Entwürfen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons ist allerdings ebenfalls diskutabel.2 Die These Trobischs ist auf der Grundlage der traditionell für die Kanonfrage ausgewerteten Quellen nicht so einfach zu falsifizieren. Vielmehr ist doch Trobischs Argument einigermaßen plausibel, die in den Quellen ablesbare Diskussion über die Zugehörigkeit einzelner Schriften zum „Kanon“ als „historisch-kritische Reflexionen über eine bereits bestehende Publikation“3 zu interpretieren. Gerade die Konstanz dieser Diskussion und ihre Fortsetzung über einen vermeintlichen „Abschluss des Kanons“ im 4. Jh. hinaus4 lässt das Modell Trobischs, das mit der Herausgabe von Sammlungen operiert und über den „kanonischen“ Status keine Aussage macht, plausibler erscheinen als die These, die „kanonische“ Zusammenstellung der 27 neutestamentlichen Schriften sei im Rahmen eines Identitätsfindungs- und Aushandlungsprozesses erst im 4. Jh. (zumindest vorläufig) abgeschlossen worden.5 Methodologische Schwierigkeiten bereitet zudem der weit verbreitete Ansatz, den Stand des „Kanonisierungsprozesses“ über die Zitation bzw. Nicht-Zitation einzelner neutestamentlicher Schriften in den Schriften der Alten Kirche zu bestimmen.6 Die so gewonnenen Ergebnisse basieren grundsätzlich auf einem argumentum e silentio.

 

Man kann Trobisch lediglich entgegenhalten, dass er die Hypothese einer kritischen Diskussion über eine bestehende Sammlung an den Quellen selbst nicht ausführlich durchgespielt,7 sondern nur knapp skizziert hat. Vor allem die früh bezeugte Diskussion über die paulinische Verfasserschaft des Hebräerbriefes8 erklärt sich viel einfacher, wenn man seine Zugehörigkeit zu einer Paulusbriefsammlung annimmt, da aus dem Text selbst heraus die paulinische Verfasserschaft bekanntermaßen gar nicht erschlossen werden kann.9 Darüber hinaus ist es erstaunlich, wie gut die von Trobisch auf der Grundlage des Handschriftenbefundes vorausgesetzten Sammlungseinheiten (e a p r)10 auch in den Quellen belegt sind. Nur deshalb kann T. Zahn die frühe Existenz eines ideellen Kanons postulieren.11

Man braucht demgegenüber schon einen großen argumentativen Aufwand, um einen Abschluss des vermeintlichen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses mit Athanasius’ 39. Osterfestbrief ins 4. Jh. zu datieren. Der These, der Sammlungsprozess sei erst bei Athanasius abgeschlossen, stehen nämlich zwei Zeugnisse entgegen, die man entweder wegerklären oder sich passend machen muss: So muss man etwa Orig. hom. in Jos 7,1 als Interpolation des Rufinus verstehen12 und die von Euseb angelegten Kategorien zur Systematisierung der neutestamentlichen Schriften gegen den Strich bürsten.13 Gerade an diesen beiden Quellen kann man die in den Handschriften belegten Sammlungseinheiten besonders gut ablesen:

Orig. hom. in Jos 7,1: vier Evangelien in der Reihenfolge Mt, Mk, Lk, Joh; die Apg wird losgelöst vom Evangelium mit den wahrscheinlich sieben katholischen Briefen zusammen genannt (zwei Petrusbriefe, Jakobus und Judas, Anzahl der Johannesbriefe nicht genannt); Vierzehnbriefesammlung des Paulus.14 Dass im Übrigen Origenes an anderer Stelle (hom. in Gen 13,2) die acht Autoren der neutestamentlichen Schriften in der Reihenfolge Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Petrus, Jakobus, Judas und Paulus aufzählt, die den Brunnen des Neuen Testaments gegraben hätten, deutet ebenfalls darauf hin, dass ihm das Neue Testament in Form der von Trobisch herausgearbeiteten Sammlungseinheiten vertraut war. Auch an der Diskussion der neutestamentlichen Bücher bei Euseb (Eus. h. e. 2,23,24f.; 3,25,1ff) lassen sich die Sammlungseinheiten sehr schön ablesen, wobei diese Aufzählung nach den Kriterien der Echtheitskritik in akzeptierte (ὁμολογούμενος), bezweifelte (ἀντιλεγόμενος) und gefälschte (νόθος) Schriften noch einmal untergliedert ist. A. D. Baum hat die Relationalität dieser Kategorien mit philologisch präziser Begründung differenzierend beschrieben: So unterscheidet Euseb „zwischen solchen Antilegomena, die er nicht für echt hielt (νόθοι), und solchen, die er damit implizit als γνήσιος einstuft.“15 Dabei ist auffällig, dass Euseb keine der 27 neutestamentlichen Schriften den νόθοι zuordnet. Es ist zu beachten, dass Euseb nicht die Reihenfolge der Schriften in den Handschriften diskutiert. Euseb reiht die Schriften nach dem Prinzip der Echtheit, nicht aber nach den vorliegenden Sammlungseinheiten. Dass die Sammlungseinheiten in diesen weniger deskriptiv als normativ orientierten Aufzählungen dennoch durchscheinen, ist daher umso aussagekräftiger.

Auch andere Quellen16 weisen auf die Konstanz der Sammlungseinheiten hin:

Zu verweisen wäre z. B. auf Kyrill von Jerusalem (catech. 4,36); Athananasios von Alexandria (epist. fest. 39); den in seiner Ursprünglichkeit umstrittenen 60. Kanon des Konzils von Laodicea;17 Chrysostomos (synopsis Script. Sacr.; PG 56 317); Augustinus (de doctr. Christ. 2,8,13); Innocentius in seinem Brief an Exsuperius, den Bischof von Toulouse;18 Cassiodor (instit. 24); Johannes von Damaskus (de fide Orthod. 4,17). Auch wenn in einigen dieser Quellen die Apg nach den katholischen Briefen aufgeführt wird, so sind die Sammlungseinheiten dennoch klar erkennbar. Anstelle von vier Ordnungen19 kommt eine teilsammlungssensible Kategorisierung lediglich auf zwei Ordnungen. Die weiteren von Zahn postulierten Ordnungen sind lediglich als Umordnung der Sammlungseinheiten zu interpretieren. Die Stellung der Apg zwischen den Evangelien und der Paulusbriefsammlung, die in den „byzantinischen Handschriften“ des NT dokumentiert ist20, kann m. E. plausibel als sekundäre Umstellung (der lectio difficilior „Praxapostolos“21) interpretiert werden, bei der die narrativen Texte zu einer eigenen Sammlung zusammengestellt werden. Vgl. zu dieser Aufteilung der neutestamentlichen Schriften Gregor von Nazianz (carm. 12,31); Amphilochius (Iambi ad Seleucum);22 Rufinus (Comm. in Symb. Apost. 37);23 zur Aussagekraft des muratorischen Fragments s. die Ausführungen oben. Aus Tert. pud. 7–11 und Iren. adv. haer. 3,11,9–3,12,1 sowie der Art der Zitation der Paulusbriefe in den folgenden Kapiteln abzuleiten, die Apg wäre (gegenüber der Sammlungseinheit „Praxapostolos“ ursprünglich) zwischen den Evangelien und den Paulusbriefen eingeordnet gewesen, ist methodisch schwierig. Denn die Argumentation orientiert sich dort entlang der Chronologie, die durch die Hintergrundnarration des NT geprägt ist.24 Ob bzw. wann die Stellung der Apostelgeschichte nach den Evangelien materialiter realisiert wurde, muss offen bleiben. So zeigt Philastrius haer. 88 – ein eindeutiger Beleg für die Sammlungseinheit „Praxapostolos“25 – eindrücklich, dass die gerade genannte Zuordnung der Apostelgeschichte zu den Evangelien (… et Prophetas et Evangelia et Actus Apostolorum, et Pauli tredecim epistolas …) eine materielle Zusammenstellung nicht zwingend impliziert: … et septem alias, […], quae septem Actibus Apostolorum conjunctae sunt. Ganz eigenwillige Zusammenstellungen bieten dagegen die schwer datierbaren Stichenverzeichnisse im Codex Claromontanus und der sog. Cheltenham-Kanon. Es ist jedoch methodisch schwierig, diese beiden Zeugnisse, deren historischer Aussagewert nur schwer einzuschätzen ist, zur Modellbildung der Entstehung des neutestamentlichen Kanons zu stark zu belasten. Die Aufzählung in Can. Apost. 85 (SC 336 8,47) dokumentiert eine Art (im Rahmen der Ersteditionsthese: sekundär) erweiterte Sammlungseinheit „Praxapostolos“, die zusätzlich zwei Clemensbriefe enthält.26 Darüber hinaus ist die Sammlungseinheit „Praxapostolos“ auch für die koptische Überlieferung und für die Altlateiner belegt (s. u.). Aus dem Quellenbefund insgesamt lässt sich m. E. methodisch nicht sicher ableiten, dass die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe später als die Paulusbriefe und die Evangelien in verbindlichere Corpora eingetreten und zunächst als Einzelschriften zirkuliert wären.27 Der recht einheitliche Quellenbefund deutet doch eher darauf hin, die wenigen Abweichungen als Neueditionen zu verstehen, die jeweils aus unterschiedlichen Gründen vorgenommen worden sind. Im Befund der neutestamentlichen Handschriften haben die Abweichungen bis auf die Zusammenstellung der narrativen Texte vor die Briefcorpora jedenfalls keinen Niederschlag gefunden.

Die Quellen, die Trobisch selbst als positive Evidenz für seine These heranzieht, werden von seinen Kritikern zumeist übergangen: z. B. die indirekte und direkte Bezeugung des Titels „Neues Testament“28 und das Zitat des sog. anonymen Antimontanisten bei Euseb, der keinesfalls den Anschein erwecken möchte, „als wollte ich dem Worte der neutestamentlichen Frohbotschaft (τῷ τῆς τοῦ εὐαγγελίου καινῆς διαθήκης λόγῳ) etwas ergänzend beifügen, da doch keiner, der entschlossen ist, nach diesem Evangelium zu leben, etwas beifügen noch abstreichen darf,“ (Eus. h. e. 5,16,3).29

Das gängige Verständnis dieser Stelle in der Forschung, der anonyme Antimontanist würde nicht auf den Titel einer Sammlung, sondern ganz allgemein auf die Botschaft einer als καινὴ διαθήκη gekennzeichneten Ära verweisen,30 ist a) angesichts der Verbsemantik von προστίθημι (vgl. z. B. P. Amh. Gr. 2 77,15) und ἀφαιρέω viel unwahrscheinlicher; vgl. z. B. die gesamte Wendung in Thuc. 5,23, und insb. in Pol. 21,43,27, wo es um einen Vertragstext [συνθήκη] geht. b) Es ist unsachgemäß, Eus. h. e. 5,17 gegen die These in Stellung zu bringen, dass der Antimontanist in Eus. h. e. 5,16,3 auf eine Schriftensammlung verweist. Euseb zitiert hier wiederum den anonymen Antimontanisten, der u. a. formuliert: „Doch wird man weder aus dem alten noch aus dem neuen [scil. Bund] einen Propheten nennen können, der auf solche Weise vom Geiste ergriffen worden wäre. Sie werden sich nicht auf Agabus oder Judas oder Silas oder die Töchter des Philippus oder Ammia in Philadelphia oder Quadratus oder auf sonst jemanden berufen können; denn mit diesen haben sie nichts zu tun,“ (Eus. h. e. 5,17,3; Üb. HÄUSER; leicht modifiziert JH). Laut C. W. van Unnik könne sich der Antimontanist mit der Wendung τῶν κατὰ τὴν παλαιὰν οὔτε τῶν κατὰ τὴν καινὴν nicht auf Schriftensammlungen beziehen, weil in der darauffolgenden Aufzählung Namen stünden, die nicht in diesen Schriften auftauchten.31 Dazu ist zunächst anzumerken, dass der Begriff διαθήκη im Zitat aus der Schrift des Antimontanisten gar nicht auftaucht, sondern in 5,17,2 von Euseb interpretatorisch eingefügt wird; auch die Annahme, der Antimontanist habe Quadratus und Ammia zu den prophetischen Gestalten des Neuen Bundes gerechnet, entstammt der Interpretationsleistung des Euseb (5,17,2), die man strikt von der Aussage des Fragments trennen muss. Sodann: Soweit man den argumentativen Zusammenhang aus dem Fragment noch erkennen kann, impliziert die Formulierung nicht zwingend, dass alle genannten Namen zum vorher definierten Prophetenkreis gehören. So werden Quadratus und Ammia ja von der Gegenseite eingebracht (ὥς φασιν; 5,17,4), wobei nicht deutlich wird, auf welche „Quellen“ sich die Gegenseite stützt; Agabus (Apg 11,28; 21,10–14), Judas und Silas (Apg 15,22.27.32[!]), und die Töchter des Philippus (Apg 21,9) werden hingegen in der Apg als Propheten bezeichnet. Daher ist die viel einfachere Erklärung, es werde, wie auch in den späteren Quellen, schon vom anonymen Antimontanisten mit dem „Worte der neutestamentlichen Frohbotschaft“ auf den Titel einer Schriftensammlung verwiesen, auch aus Gründen des Sparsamkeitsprinzips vorzuziehen. Ein indirekter Verweis auf das Alte und Neue Testament in 5,17,3 (wodurch sonst sollte man wissen, wer zu den Propheten des Alten und Neuen Bundes gehört?), wäre eingehender zu prüfen.

Aufschlussreich ist auch der ebenfalls schon bei Trobisch angeführte Kommentar zu ebendieser Stelle von Zahn: „Man meint in der Hand dieser Männer ein vom Evangelium des Matthäus bis zur Apokalypse des Johannes sich erstreckendes Exemplar des NT’s zu sehen, wie solche heute in Leipzig und Cambridge gedruckt werden; nur die letzte Ziffer der Jahreszahl des jüngsten Druckes müßte gestrichen werden.“32 Sodann sind auch die Beobachtungen Trobischs zu den kohärenzstiftenden Querverweisen im Neuen Testament33 als eigene Evidenz in Rechnung zu stellen.

Außerdem wären noch weitere Quellen als positive Evidenzen für die These Trobischs zu diskutieren: Wenn z. B. Valentin schreibt, „vieles von dem, was in den staatlichen/öffentlichen Büchern (ἐν ταῖς δημοσίαις βίβλοις) geschrieben ist, findet sich auch in der Gemeinde Gottes (ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ) geschrieben“ (Clem. strom. 6,52,4), liegt angesichts der Formulierung die Vermutung nahe, Valentin beziehe sich hier auf ein Schriftencorpus, das ihm nachweislich zugänglich gewesen sein muss. Man könnte hier nun weiter fragen, in welcher Form die „paganen“ Kritiker des Christentums, allen voran Kelsos, und andere Nichtchristen, deren Kenntnis neutestamentlicher Schriften vorauszusetzen ist,34 die Schriften der Kirche rezipiert haben. Kelsos selbst prangert dreifache und vierfache Verfälschung des Evangeliums durch eine Gruppe von Christen an,35 die plausibel in Beziehung zur Herausgabe des Neuen Testaments gesetzt werden kann.36 Bei der weiteren Betrachtung des Quellenbefundes zur Rezeption des Neuen Testaments im 2. und 3. Jh. wäre zudem besonders auf vorausgesetztes Wissen – insbesondere bezüglich der neutestamentlichen Verfasserfiktionen37 – zu achten, das man eigentlich nur aus einer „kanonischen“ Gesamtperspektive gewinnen kann. Eine vollständige Durchsicht der Quellen unter dieser Perspektive steht jedoch noch aus und kann hier nicht geleistet werden.38