Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2.4 Die These Trobischs widerspreche „dem entscheidenden Movens [der Sammlung von neutestamentlichen Schriften bzw. des Kanonisierungsprozesses], die liturgische Lesung im Gottesdienst!“1

Diese vor allem von M. Hengel vorgetragene Kritik verweist auf die nicht erst bei T. Zahn, aber von diesem doch prominent hergestellte Interdependenz zwischen der gottesdienstlichen Lesepraxis auf der einen Seite und der Sammlung neutestamentlicher Schriften und der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite.2 Dieses Junktim der Entstehung des neutestamentlichen Kanons und der Lesung der neutestamentlichen Schriften im Gottesdienst ist bis heute forschungsgeschichtlich sehr wirksam,3 aber nicht unbestritten geblieben.4 An dieser Stelle zeigt sich, wie stark die Beurteilung der Entstehung der christlichen Bibel von spezifischen Vorannahmen und der Modellierung der Geschichte des frühen Christentums abhängt. Eine tiefergehende Untersuchung des Interdependenzverhältnisses zwischen frühchristlicher Lesepraxis und Buchpublikation ist m. E. ein zentrales Forschungsdesiderat, sodass an dieser Stelle keine Entscheidung getroffen werden kann. Es scheint mir allerdings so, als beruhe die Annahme, gottesdienstliche Lesepraxis sei das entscheidende Movens gewesen, auf einer sehr dünnen Quellenbasis5 und zum Teil, wenn man die neueren Einsichten zur zentralen Rolle des Gemeinschaftsmahles für die frühchristlichen Versammlungen betrachtet, auf anachronistischen Eintragungen der späteren liturgischen Perikopenlesung.6 Dass eine gottesdienstliche Lesepraxis der entscheidende Faktor für die Entstehung des Neuen Testaments gewesen wäre, ist begründungsbedürftig und darf schon aus methodischen Gründen nicht a priori vorausgesetzt werden.

2.5 Die Theorie Trobischs setze ein viel höheres Niveau von Strukturierung und Zentralisierung voraus als im zweiten Jh. vorhanden.1

Dieses Trobisch häufig vorgehaltene Argument läuft ins Leere, da Trobischs These eine hierarchisierte und zentralisierte Kirche überhaupt nicht zwingend voraussetzt. Hier werden Argumente aus der älteren Diskussion über die Entstehung des christlichen Kanons fortgeschrieben, die Trobischs These etwa der forschungsgeschichtlich einflussreichen Auffassung Harnacks zuordnen, der Kanon sei eine kirchliche Gegenreaktion auf die dreifache Bedrohung der Kirche durch Marcioniten, Montanisten und den Gnostizismus.2 Trobisch versteht die Endredaktion aber vielmehr als weitgehend kontingente Entscheidung eines Einzelnen (oder einer kleinen Gruppe)3 mit einem durchaus spezifischen theologischen Interesse und einer Stoßrichtung innerhalb frühchristlicher Identitätskonstruktionsprozesse, die im Einzelnen historisch detailliert zu beschreiben wären. Aber erst in ihrer Rezeption wird die editio princeps zu einer „kanonischen“ Ausgabe.4 Wie der Erfolg dieser postulierten Ausgabe erklärt werden kann, ist eine andere Frage, die sich aber leichter erklären lässt als die Alternative, nach der sich die neutestamantlichen Schriften in einem dynamischen Prozess als Einzelschriften durchgesetzt haben müssten. Insgesamt muss daher konstatiert werden, dass die These Trobischs weitgehend quer zu den bisherigen Modellen zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons liegt und daher eine völlig neue Diskussion erfordert.

3 Kritik an fehlender historischer Kontextualisierung

Trobisch wird darüber hinaus in zahlreichen Rezensionen die fehlende genaue historische Kontextualisierung entgegengehalten: Es fehle a) eine Untersuchung zur Datierung und Lokalisierung der editio princeps.1 b) Außerdem bleibe Trobisch genaue Aussagen zur Intention und Konkretisierung spezifischer historischer Faktoren, die zur Herausgabe des NT geführt haben könnten, schuldig.2 In der Bewertung dieser offenen Fragen ist die Forschung gespalten: Während diejenigen, die Trobischs These ablehnen, die offenen Fragen als fehlende Plausibilität der These werten,3 sehen andere darin Desiderata für die zukünftige Forschung. So regt etwa M. Klinghardt an, dass auf der Grundlage der Idee einer editio princeps auch die Vorgeschichte dieser Sammlung zu untersuchen wäre4 – hier hat er mit seiner jüngst fertiggestellten Arbeit zum marcionitischen/protolukanischen Evangelium schon erste große Schritte gemacht.5 Zum anderen mahnt er an, die hermeneutischen und kanonstheologischen Implikationen weiterzudenken.6 Gerade die reflexartigen Abwehrbewegungen zeigen, wie wichtig nicht zuletzt aus wissenschaftssoziologischen Gründen ein möglichst präzise ausgearbeitetes Modell zur historischen Kontextualisierung und Plausibilisierung der Ersteditionsthese ist – gerade weil sie in einem starken Spannungsverhältnis zu etablierten Modellen steht –, damit sie als Diskussionsgrundlage anerkannt wird.

4 Das Problem der katholischen Briefsammlung

Bislang ausgespart habe ich Anfragen an die These Trobischs, die sich auf die Sammlungseinheit der katholischen Briefe beziehen. Während die Quellen doch ein recht eindeutiges Bild bezüglich der Vierevangeliensammlung1 und der Paulusbriefsammlung2 zeichnen und die Diskussion über die Zugehörigkeit der Apokalypse als Diskussion über die Zugehörigkeit zu einer bestehenden Sammlung interpretiert werden kann, stellt sich der Quellenbefund bezüglich der katholischen Briefe disparater dar. Daher wird die frühe Rezeptionsgeschichte der katholischen Briefe in der neueren Forschung, die sich mit der Sammlungsgeschichte des Neuen Testaments beschäftigt, gleichsam als entscheidender Prüfstein herangezogen. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von D. R. Nienhuis und W. Grünstäudl, die sich mit der These Trobischs im Rahmen ihrer Forschung zu den katholischen Briefen auseinandersetzen. Ihre Anfragen rekurrieren primär auf die Entstehungsgeschichte des 2Petr, dem im Rahmen der These Trobischs eine konstitutive Funktion für die Kohärenzbildung innerhalb des NT zukommt.3

Während Nienhuis in Modifikation der Idee Trobischs die These vertritt, erst mit dem Hinzukommen von Jak und 2Petr im 3. Jh. zu einer bestehenden apostolischen Briefesammlung sei die katholische Briefsammlung zunächst im Osten zu ihrer finalen Form gelangt,4 stellt Grünstäudl die Hypothese auf, der 2Petr sei in der zweiten Hälfte des zweiten Jh. in Alexandrien entstanden,5 wobei ihm die bei Origenes belegbare Rezeption als terminus ante quem gilt.6 Seine Hypothese stützt sich neben der „Beachtung der fundamentalen Entsprechung, in der die theologische Konzeption des 2 Petr zu der des Clemens steht“7 auf die gründlich untersuchte Frage nach literarischen Abhängigkeitsbeziehungen, die Grünstäudl u. a. zugunsten einer Abhängigkeit des 2Petr von Justin und der ApkPetr entscheidet.8

Die Argumentationen von Nienhuis und Grünstäudl basieren zu einem großen Teil auf der traditionellen Methodik der Forschung zum neutestamentlichen Kanon, die sich der Auswertung der Rezeption neutestamentlicher Schriften in der patristischen Literatur bedient: Vor allem das Fehlen einer Rezeption bei den „westlichen“ Autoren wird in Stellung gebracht.9 Wenn man wie Grünstäudl die Abhängigkeitsrichtung bei Justin und der ApkPetr umkehrt, findet sich bei Origenes der erste sichere, positive Rezeptionsbeleg für 2Petr.10 Das methodische Problem, von der Nicht-Rezeption darauf zu schließen, eine Schrift sei noch nicht vorhanden oder als neutestamentliche Schrift nicht anerkannt, brauche ich hier nicht weiter zu thematisieren. Vor allem zeigt aber die Diskussion um konkrete mögliche Berührungspunkte und deutliche Parallelen (v. a. zwischen 2Petr und 1/2Clem, Herm, Barn sowie Polyk), dass eine literarische Abhängigkeit der genannten Schriften vom 2Petr zwar nicht bewiesen,11 aber umgekehrt aus dem Befund heraus auch nicht widerlegt werden kann. Hier liegt eine deutlich sichtbare methodische Schwachstelle in der Argumentation von Grünstäudl.

Während Nienhuis Euseb als Kronzeugen für seine These eines Abschlusses der katholischen Briefsammlung im 3. Jh. heranzieht,12 sieht Grünstäudl gegen Trobisch in Eusebs Erklärung, er habe erfahren, dass der als nächstes kommende (wörtl. gebrachte), zweite [Brief des Petrus] nicht im Bund sei (τὴν δὲ φερομένην δευτέραν οὐκ ἐνδιάθηκον μὲν εἶναι παρειλήφαμεν, Eus. h. e. 3,3,1), einen Beleg für die Hypothese, die 27 Schriften des NT hätten sich in einem Prozess herausgebildet.13 Die Formulierung selbst und der Kontext deuten aber eher daraufhin, dass die Stelle eine Diskussion um die Zugehörigkeit von 2Petr zu einer bereits existierenden Sammlung reflektiert (ἐνδιάθηκος), die womöglich den Titel „Neuer Bund“ trug.14 So ist die Bezeichnung πρότερος – δεύτερος am ehesten als Verweis auf die Stellung und Bezeichnung der Briefe in einer Sammlung zu verstehen, vor allem die Formulierung ἡ λεγομένη αὐτοῦ προτέρα („der als sein erster bezeichnet wird“) klingt nach einer Referenz auf eine vorhandene Überschrift.15 Einen Brief mit „erster“ zu spezifizieren, impliziert zwingend, dass ein zweiter, mit einer Ordinalzahl gekennzeichnet, existiert. Ebenso deutet das Verb σπουδάζω auf die Aufnahme in eine Schriftensammlung hin.16 Vor allem der folgende Satz (Eus. h. e. 3,3,2), in dem – grammatisch eindeutig von der Besprechung des 2Petr abgegrenzt – andere Petrus zugeschriebene Schriften diskutiert werden, impliziert, dass 2Petr vor Euseb zu einer Sammlung „katholischer“ Schriften gezählt wurde (… ἐν καθολικοῖς …). Dass Euseb hier die „kanonische“ katholische Siebenbriefesammlung vor Augen hat, bezeugt h. e. 2,23,24f.17 Da nach Euseb auch schon Origenes18 von einem zweiten, allerdings in seiner Authentizität bezweifelten Petrusbrief spricht (ἔστω δὲ καὶ δευτέραν: ἀμφιβάλλεται γάρ h. e. 6,25,8), ist es durchaus wahrscheinlich, dass auch dieser schon die Diskussion um die Zugehörigkeit zu der von Trobisch postulierten katholischen Briefsammlung reflektiert.19 Es stellt sich nämlich die Kontrollfrage, wie Origenes und Euseb darauf kommen konnten, 2Petr als zweiten Brief zu bezeichnen, wenn er nicht als solcher in einer Sammlung gekennzeichnet gewesen wäre. Im Referenzrahmen der These Trobischs wird die Debatte um die Zugehörigkeit von 2Petr zum Neuen Testament gerade deshalb so stark geführt, weil er in einer Sammlung von sieben katholischen Briefen überliefert wird und die deutlichen Differenzen zwischen den beiden Petrusbriefen wahr- und ernstgenommen werden.20

 

Im Anschluss an Klauck vermutet Grünstäudl, dass der „aufgrund seiner elaborierten Sprachgestalt an seine Leser durchaus Ansprüche stellende 2 Petr […] in einem Zirkel gebildeter Christen, die auch seine Verfasserfiktion durchschauten, entstanden“ und rezipiert worden und „dann im weiteren Raum der weniger Gebildeten als Testament des Petrus zur Geltung gekommen“21 sei. Die Schwäche seines Modells zur Erklärung, wie dieses Pseudepigraphon im zweiten Jh. entstanden und Teil der katholischen Briefsammlung wurde, bringt er selbst zum Ausdruck: „Wie dann dieser testamentarische Text des Petrus rund 100 Jahre nach dem Tod des Petrus in Umlauf kam und so rezipiert wurde, dass er zur Zeit des Origenes bereits eine gewisse Akzeptanz als Text des Apostels Petrus erlangt hatte, lässt sich schlicht nicht sagen“.22 Hier ist zu fragen, ob nicht der Erklärungswert von Trobischs Modell, Fälschungen durch die Integration in Sammlungen zu verschleiern, höher anzusetzen ist.

Die These Trobischs dispensiert jedoch nicht davon, pseudepigraphe Schriften, die nicht auf die editio princeps zurückgehen (können), historisch plausibel zu erklären. Das bedeutet nicht zuletzt, dass die „vorkanonische“ Geschichte der katholischen Briefesammlung im Referenzrahmen der These einer editio princeps noch zu erforschen und plausibel zu begründen wäre. Eine Fälschung der kompletten katholischen Briefsammlung durch den Herausgeber der editio princeps erscheint sowohl angesichts des Quellenbefundes als auch im Blick auf die Verschiedenheit der beiden Petrusbriefe als unwahrscheinlich.23

Zuletzt hat sich W. Grünstäudl in zwei Beiträgen ausführlich mit der These Trobischs auseinandergesetzt.24 Im Folgenden sind nun die Argumente, die über das oben Genannte hinausgehen, abschließend kurz zu diskutieren. Grünstäudls Gegenargumentation kondensiert in seiner Feststellung, dass die katholische Siebenbriefesammlung aus der Sicht sowohl der altkirchlichen Quellen (a) als auch der hss. Evidenz (b) sehr spät entstanden sein müsse – eine frühe Edition aller von Trobisch postulierten Sammlungseinheiten also nicht im 2. Jh. stattgefunden haben könnte:

a) Grünstäudl behauptet, Eus. h. e. 2,23,24f25 wäre der erste Beleg für diese Schriftengruppe als klar umrissene Größe.26 Er stellt allerdings auch fest, dass „[d]ie Existenz aller sieben Katholischen Briefe […] doch spätestens in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts vorausgesetzt werden“27 darf. Da u. a. bei Clemens von Alexandrien und Origenes die „Gesamtheit dieser sieben Texte in keiner Weise in den Blick kommt“28, könne man jedoch noch keine Sammlung dieser sieben Briefe annehmen.29 Ausgehend von diesen Beobachtungen datiert er die Entstehung der Siebenbriefesammlung in die zweite Hälfte des 3. Jh.30 Die Sicherheit dieser Schlussfolgerung ist jedoch mindestens in zweifacher Hinsicht zu hinterfragen.

Erstens kann man die Quellen, die Grünstäudl anführt, durchaus als Beleg für die Existenz einer katholischen Briefammlung werten. Es ist zwar richtig, dass die Bezeichnung ἐπιστολὴ καθολική in der frühchristlichen Literatur nicht exklusiv für die in der Siebenbriefesammlung enthaltenen Texte verwendet wird, alle frühen Belege stehen jedoch in einem signifikant engen Zusammenhang mit den katholischen Briefen im Neuen Testament bzw. lassen sich plausibel aus den paratextuellen Informationen einer Sammlung von „katholischen Briefen“ ableiten.

Die meisten Belegstellen finden sich bei Origenes. Dieser bezeichnet sehr häufig den 1Joh,31 außerdem den 1Petr als „katholischen Brief“,32 an einer Stelle (nur in der lateinischen Überlieferung) auch den Jud.33 Gerade einem Brief wie dem 1Joh, der ausweislich seines Inhalts an eine exklusive Gruppe gerichtet ist, als „katholisch“ zu bezeichnen, ist am einfachsten dadurch zu erklären, dass diese Attributierung die paratextuellen Informationen in den Hss. referenziert. Dass Origenes trotz mutmaßlicher Existenz der beiden kleinen Johannesbriefe (in der Sammlung) von dem einen katholischen Brief des Johannes sprechen kann, ist darauf zurückzuführen, dass er die anderen beiden wie Euseb34 einem anderen Verfasser, nämlich dem in den Briefen genannten Presbyter zugeschrieben haben könnte. Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass zu einem späteren Zeitpunkt, als die Siebenbriefesammlung definititv mit allen drei Johannesbriefen existierte, der 1Joh noch analog zu Origenes als der eine katholische Brief des Johannes genannt wird.35 Analoges gilt interessanterweise auch für den 1Petr.36 Dass Clemens von Alexandrien, der die „katholischen Briefe“ lt. Eus. h. e. 6,14,6 in seinen Hypotyposeis kommentiert hat,37 das sog. Aposteldekret in Apg 15,23–29 als „katholischen Brief“ bezeichnet, ist angesichts der engen intratextuellen Verflechtungen zwischen den Verfassern der Briefe in der Siebenbriefesammlung und den namentlich erschließbaren Verfassern des Aposteldekrets (vgl. insb. Apg 15,13.22; Gal 2,9) nicht erstaunlich. Diese erzählte Situation in „kanonischer“ Perspektive im Hintergrund könnte auch für Origenes den Ausschlag gegeben haben, an einer Stelle (Orig. Cels. 1,63) den Barn als „katholischen Brief“ zu bezeichnen.38

Zweitens übergeht Grünstäudl die Evidenz für eine katholische Siebenbriefesammlung, die im Zusammenhang mit der Apostelgeschichte steht, in Orig. Hom. in Jos 7,1 und hom. in Gen 13,2, da er diese im Anschluss an die traditionelle Kanonforschung für eine Interpolation Rufins hält. Diese Bewertung jener nur im Lateinischen überlieferten Stellen in Origenes’ Werk ist jedoch in der jüngeren Forschung fraglich geworden und basiert zuletzt auf einem Zirkelschluss, da die Hauptargumente für die Interpolationsthese vor allem kanongeschichtliche sind (s. o., insb. Anm. 89). Grünstäudl begründet die sukzessive Entstehung der Siebenbriefesammlung u. a. auf der Grundlage des lateinischen Origenes, den er für interpoliert (und spät) hält, und begründet die Interpolation von Origenes mit der Entstehungsgeschichte der Sammlung der 27 neutestamentlichen Schriften.

b) Grünstäudl stellt anhand eines Vergleichs der drei großen Kodizes ‎‏א‏‎ 01, A 02 und B 03 gegen die gängige Einschätzung in der Textkritik39 die These auf, dass man im 4. Jh. noch nicht von einer Einheit von Apg und Katholischen Briefen sprechen könne, sondern dass diese erst für das 5. Jh. durch ein Kolophon im Alexandrinus (f. 84v) sicher bezeugt wäre. Als Argument führt er im Rahmen einer ausführlichen kodikologischen Betrachtung der Übergänge zwischen den Schriften an, dass „[a]m Ende der Apostelgeschichte (L 88/B 1r [dritte Spalte]) […] eine ganze Spalte freigelassen [ist], sodass der Jakobusbrief auf L 88/B 1v (erste Spalte) beginnt und die Lücke zwischen Apostelgeschichte und Jakobusbrief somit den Umfang einer ganzen Spalte – wie zwischen Barnabasbrief und Hirt des Hermas – umfasst,“40 wodurch Apg und Katholische Briefe optisch voneinander getrennt würden.41 Bei seiner Argumentation fehlt die Feststellung, dass dieser Einschnitt optisch weniger markant ist als die anderen Vergleichststellen, die er anführt. Zudem implizierte die Logik des Arguments, dass auch die vier Evangelien nicht als Einheit wahrgenommen worden wären; wobei der Einschnitt dort noch viel deutlicher gestaltet ist (durch ein gänzlich unbeschriebenes Blatt zwischen Lk und Joh), auf den Grünstäudl selbst hinweist. An dieser Stelle fällt der methodische Vorwurf auf Grünstäudl zurück, den er gegenüber D. C. Parker erhebt,42 dass man die Ebene der redaktionellen Strategien im Hintergrund einer einzelnen Hss. und die textkritische Argumentation sauber trennen muss.

Grünstäudl führt aus, dass es rein rechnerisch acht Varianten gäbe, Apg, die Paulusbriefe und die Katholischen Briefe zwischen den vier Evangelien und der Johannesoffenbarung anzuordnen und in den zwei erhaltenen Unzialhandschriften des 4. Jh. zwei davon realisiert worden seien.43 Dies bleibt allerdings ein hypothetisches Argument, da die meisten dieser Varianten hss. nicht realisiert worden sind und die Stellung der Apg zwischen Tetraevangelium und Corpus Paulinum eindeutig sekundär ist, während die Umstellung der Apg hinter die Katholischen Briefe immer noch eine Zuordnung der beiden Größen impliziert.44 Dieser Befund in den späteren Vollausgaben des Neuen Testaments, der freilich immer noch recht einheitlich ist,45 hat jedoch wenig Relevanz für die folgende Feststellung: Unter Anwendung der textkritischen Methodik – die beim Ziel der Rekonstruktion des Ausgangstextes sowohl für den Text als auch für die Anordnung der Schriftensammlungen gelten muss – lässt der hss. Befund der großen Kodizes keine andere Schlussfolgerung zu, als dass im Ausgangstext, auf den die drei großen Kodizes unabhängig zurückgehen, die Apg den Katholischen Briefen zugeordnet war. Bei dieser Zuordnung handelt es sich angesichts der eindeutigen inhaltlichen Zusammengehörigkeit des LkEv und der Apg außerdem um die lectio difficilior.

Aus textkritischer Sicht schwierig ist daher auch die Formulierung, dass in der Kategorie, die im Nestle-Aland mit dem Siglum „a“ (Apg + katholische Briefe) bezeichnet wird, von den Herausgebern der textkritischen Ausgaben zwei „ganz unterschiedliche Überlieferungseinheiten zusammengestellt worden sind“.46 Ob es sich nämlich bei der Zusammenstellung von Apg und Katholischen Briefen in einer Sammlungseinheit um ein Phänomen der Textüberlieferung handelt, ist doch gerade fraglich: Die Zusammengehörigkeit von LkEv und Apg kommt in den griechischen Kodizes und auch in den Versionalhandschriften nirgends vor und auch die Zirkulation der Apg in einer Einzelhandschrift ist nicht belegt.47 Zusätzlich ist auch Grünstäudls Datierung der Zusammenstellung von Apg und Katholischen Briefen ins 7. Jh. zu hinterfragen: Die Zusammenschau des Gesamtbefundes in den frühchristlichen Quellen48, in den griechischen, in einigen koptischen Zeugnissen49 und vor allem auch in den altlateinischen Hss.50 zeigt, dass die redaktionelle(!) Zuordnung der Apg zu den Katholischen Briefen vor dem 4. Jh. erfolgt sein muss. Methodisch nicht haltbar ist es, aus griechischen Handschriften aus dem 7. Jh., in denen die Katholischen Briefe und die Apostelgeschichte in einer Einzelhandschrift zusammengestellt sind, eine Datierung der redaktionellen Zusammenstellung ins 7. Jh. zu erschließen.51 Hier ist der in der Textkritik zu Recht immer wieder betonte Unterschied zwischen Hs. und Textzeuge genau zu beachten: Das Alter einer Hs. sagt noch nicht viel über das Alter des enthaltenen Textes bzw. in diesem Fall des erhaltenen Sammlungszusammenhangs aus.