Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

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2.2 Kodexform

Es bietet sich an, bei der Besprechung der vier Hauptargumente für die Editionsthese dem vermutlich ältesten erhaltenen griechischen Manuskript des 2 Petr zu folgen. Gerade aufgrund seines idiosynkratischen Charakters, den David Trobisch völlig zu Recht betont,1 erscheint es mir ein heuristisch wertvoller Anknüpfungspunkt zu sein. Der im Handschriftenverzeichnis von Gregory/Aland als 𝕻72 geführte Textzeuge umfasst den vollständigen Text von 1 Petr, 2 Petr und Jud. Allerdings sind, was in der „Liste“ nicht unmittelbar erkennbar ist,2 diese drei Texte Teil eines Sammelkodex, der nicht nur eine Reihe weiterer frühchristlicher Texte enthält, sondern auch – wie unter anderem noch die differierende Paginierung verrät – aus unterschiedlichen Vorläufermanuskripten (bzw. Teilen von diesen) zusammengestellt und neu gebunden wurde.3 Ob sich in diesem Arrangement ein bestimmtes Sammlerinteresse oder gar eine theologische Intention erkennen lässt, ist eine spannende, aber kaum sicher zu beantwortende Frage.4 Ganz offensichtlich ist aber, dass als Trägermedium für 2 Petr hier ein (in diesem Fall aus Papyrusblättern hergestellter) Kodex, nicht etwa eine Schriftrolle, fungiert.

Dieses Spezifikum teilt 𝕻72 mit der großen Mehrheit christlicher Manuskripte – und zwar nicht nur jener ab dem 3./4. Jhdt. (der vermuteten Entstehungszeit des genannten Sammelkodex), einem Zeitraum also, in dem der Kodex als Medium auch für literarische Texte zusehends populär wird, sondern auch derer aus dem zweiten und frühen dritten Jh., in dem das weithin übliche Medium für literarische Texte noch die Rolle ist. Für diese deutliche Bevorzugung des Kodex seitens der frühen Christen wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe geltend gemacht, eine einhellig akzeptierte Erklärung fehlt aber bislang.5

Für David Trobisch lässt sich „die Einführung des Kodex für die neutestamentlichen Texte“ am ehesten als Folge einer bewussten editorischen Entscheidung verstehen, da mit der „Einheitlichkeit in allen Teilen der Sammlung“ (sc. dem Alten und dem Neuen Testament, Anm. Grünstäudl) und der „von den Verfassern unabhängige[n] Einführung“ bereits „zwei Kriterien zur Bestimmung der Kodexform als Element der Endredaktion erfüllt [wären]“6.

Dieser Schluss ist meines Erachtens aus einem einfachen methodologischen Grund nicht zulässig: Der Kodex findet frühchristlich nicht nur für diejenigen Texte Verwendung, deren Präsenz in der Kanonischen Ausgabe angenommen wird.7 Wenn Larry Hurtado unter den von ihm gelisteten „second-century Christian codices“8 eine „far greater number of biblical texts in codex form“9 verzeichnet, so könnte dies auf den ersten Blick dennoch als Indiz für die Editionsthese gelten. Allerdings ist das Übergewicht der biblischen Texte unter den Kodizes dann nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie auch das Übergewicht unter den gesamten erhaltenen christlichen Texten dieses Zeitraums bilden.10

Unter anderem wegen dieser christlichen „appropriation of the codex that appears to have been as thorough as it was early“11 lässt sich auch nicht wahrscheinlich machen, dass der Kodex zuerst nur für die der Kanonischen Ausgabe zugerechneten Texte Verwendung fand und dann (aufgrund des Einflusses dieser Edition) erst für andere christliche Texte in Gebrauch kam.

Solange man chronologische Differenzierungen berücksichtigt,12 muss dabei eine Wechselwirkung zwischen dem Gebrauch der Kodexform und der Ausprägung eines canon consciousness durchaus nicht ausgeschlossen werden, wenngleich Umfang und Struktur des Befundes zur Vorsicht mahnen.13 Die Verwendung des Kodex ist somit ein auffälliges Spezifikum frühchristlicher Textproduktion, das hinsichtlich seiner Genese wie auch seiner Bedeutung für die Ausprägung des christlichen Kanons mit Sicherheit weiterhin intensiv erforscht zu werden verdient; es ist aber kein Spezifikum einer bestimmten Gruppe von (biblischen) Texten, dass diese und nur diese Texte auszeichnen würde.

2.3 Nomina Sacra

Beginnt man 2 Petr in 𝕻72 zu lesen, so springen unmittelbar die kontrahierten und mit einem Oberstrich markierten Formen von Begriffen wie Ἰησοῦς, Χριστός (2 Petr 1,1) und θεός (2 Petr 1,2) ins Auge. Diese markanten Kurzformen, für die sich die Bezeichnung nomina sacra eingebürgert hat, zählen sicherlich zu den auffälligsten – und in ihrer Entstehung umstrittensten – Kennzeichen christlicher Manuskripte. Trobisch führt sie auf „redaktionelle Entscheidungen eines bestimmten Herausgeberkreises“1 zurück und erkennt in ihnen ein Element der Endredaktion der Kanonischen Ausgabe.2

Wie aber bereits eine kursorische Lektüre des Sammelkodex, dessen Teil 𝕻72 ist, verdeutlicht, treten nomina sacra keineswegs nur in neutestamentlichen bzw. biblischen Texten auf. Sie begegnen hier nicht nur in den OdSal oder 3 Kor, sondern etwa auch in einem Fragment eines frühchristlichen Hymnus.3 Analog zur Situation hinsichtlich der Verwendung des Kodex findet sich dieser breite Gebrauch der nomina sacra bereits im Bereich der ältesten christlichen Manuskripte,4 sodass sich am Ausgang des zweiten Jh. nomina sacra sogar in einem Irenäus-Fragment (P. Oxy. 3.405; vgl. der revidierte Text P. Oxy. 4, S. 264f) „dated to a time not long after the autograph“5 begegnen.

Der Gesamtbefund zu den nomina sacra ist dabei durch eine eigentümliche Kombination von Stabilität und Varianz gekennzeichnet: Einerseits finden die nomina sacra so breite und durchgängige Verwendung, dass sie zum Teil sogar zur Bestimmung von Manuskripten als „christlich“ herangezogen werden können, wobei nochmals in der Behandlung der Kerngruppe θεός, κύριος, Ἰησοῦς und Χριστός eine besondere Konsistenz zu verzeichnen ist. Andererseits variiert die Notierung der nomina sacra nicht nur im Umfang der so behandelten Begriffe, sondern auch in deren Form wie in ihrer Anwendung innerhalb eines Textes (in 𝕻72 z. B. ausgeschriebenes κυρίου in 2 Petr 1,2) oder zwischen unterschiedlichen Schreibern in ein und demselben Manuskript6 beträchtlich. Besonders hervorzuheben ist dabei die frühe Präsenz der suspensiven Form ιη (für Ἰησοῦς), die gerade unter historischen Vorzeichen nicht nur als bloße Ausnahme von der (kontraktiven) Regel verzeichnet werden sollte.7

Eine solche Befundlage ist meines Erachtens mit der Annahme, die nomina sacra seien – zumindest in ihrer Kerngruppe θεός, κύριος, Ἰησοῦς und Χριστός8 – Innovationen einer Edition (hier muss man sagen: erst) aus der Mitte des zweiten Jh., die überdies noch zur Verbreitung und Anerkennung gelangen muss, bereits grundsätzlich kaum zu vereinbaren.9 Um aber aus der Präsenz der nomina sacra einen Hinweis auf ein biblisches Editionsprojekt zu gewinnen, müsste darüber hinaus gezeigt werden, dass ihr Gebrauch anfänglich in herausgehobener Weise mit den später kanonischen Schriften verbunden war. Ähnlich wie die Verwendung des Kodex bilden die nomina sacra gerade aufgrund ihrer sehr frühen und breiten Verwendung kein spezifisches Kennzeichen neutestamentlicher (bzw. biblischer) Manuskripte und damit kein tragfähiges Indiz für deren einheitliche Redaktion im zweiten Jh.10

2.4 Titel

2 Petr ist die einzige Schrift des Neuen Testaments, deren Titel (in 𝕻72 als ΠΕΤΡΟΥ ΕΠΙΣΤΟΛΗ Β in in- und subscriptio präsent) sich sogar inklusive der Zählung direkt aus dem Text selbst ableiten lässt (vgl. 2 Petr 3,1). Aus dem Umstand, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, wurde ein weiterer Hinweis auf die Kanonische Ausgabe gewonnen:1

„Die einheitlich strukturierten und in ihrer Funktion über die Einzelbeiträge hinausweisenden Titel wurden nicht von den Verfassern der einzelnen Schriften formuliert. Sie sind redaktionell. Auch können die Gattungsbezeichnungen, Verfasserangaben und die Struktur der Überschriften in den meisten Fällen dem Text nicht eindeutig entnommen werden. Es ist deshalb davon auszugehen, daß die Endredaktion der Titel nicht unabhängig voneinander stattgefunden hat, sondern auf eine Hand zurückgeht.“2

Wenngleich man darüber diskutieren kann, welche Texte welche Titelinformationen selbst bereitstellen und welche nicht, verweisen die Bezeichnungen der später neutestamentlichen Texte sicherlich auf redaktionelle Phänomene. Die Diskussion über die Herkunft der auffälligen Evangelientitel oder die Einbindung von Texten wie Eph oder Hebr in die Überlieferung der Paulusbriefe verfügt entsprechend bereits über eine lange forschungsgeschichtliche Tradition.

Um hieraus jedoch ein Argument für eine einheitliche Endredaktion des gesamten Neuen Testaments (resp. der christlichen Bibel) zu gewinnen, muss man voraussetzen, dass die Titel, die ja nur innerhalb der Teilsammlungen „einheitlich strukturiert[..]“3 sind, für alle Teilsammlungen auf ein und denselben Ursprung zurückgehen. Dies ist aber den unterschiedlichen Titelkonzeptionen selbst – (εὐαγγέλιον) κατά + Verfasser bei den Evangelien, πρός + Adressat(en) bei den Paulusbriefen (wobei ἐπιστολὴ Παύλου jeweils vorausgesetzt ist), Genitiv des Verfassers bei den Katholischen Briefen4 – gerade nicht zu entnehmen.5

Dieses missing link in der Argumentationskette lässt sich nicht durch den Verweis auf intertextuelle Verknüpfungen, die ex post, also an einer bereits eruierten Schriftensammlung, festgestellt werden,6 ersetzen. Methodologisch richtig trennt Trobisch deshalb auch klar zwischen dem angestrebten Nachweis einer Endredaktion und der diesen Nachweis voraussetzenden Beschreibung eines redaktionellen Konzepts, wenngleich zum Teil doch durchscheint, dass bei der Bewertung des Titel-Arguments bereits an das später erhobene redaktionelle Konzept gedacht wird.7

 

Wie hinsichtlich der Kodexform und den nomina sacra fehlt somit auch in Bezug auf die Titel der neutestamentlichen Schriften das Entscheidende, um aus einer aufschlussreichen Beobachtung am handschriftlichen Befund ein Indiz für eine gemeinsame Edition von 27 Texten werden zu lassen. War es dort jeweils die fehlende Abgrenzung gegenüber einer auch für andere frühchristliche Texte gebrauchten Praxis, so ist es hier der fehlende Nachweis, dass die unterschiedlichen Titelstrukturen der Teilsammlungen zusammen aus einer Hand stammen.

2.5 Die Reihenfolgen der Einzelschriften

Das mit Abstand stärkste Indiz für die Existenz der Kanonischen Ausgabe ist nach Trobisch1 die in großen Teilen der Manuskripttradition2 einheitliche Abfolge der Schriften innerhalb der biblischen Teilsammlungen.

„Wenn Anzahl und Reihenfolge der Einzelschriften in den Abschriften einheitlich sind, so ist die Überlieferung der Sammlung auf einen gemeinsamen Archetyp zurückzuführen. Variiert dagegen der Umfang der Sammlung stark und lassen sich verschiedene redaktionelle Konzepte abgrenzen, so ist das Corpus das Ergebnis eines allmählichen Wachstumsprozesses, der an unterschiedlichen historischen Orten zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat.“3

Ausgehend von den vier großen Majuskelkodizes findet Trobisch eine solche einheitliche „Anzahl und Reihenfolge der Einzelschriften“ in den christlichen biblischen Textzeugen der ersten sieben Jahrhunderte weitgehend belegt, wobei abweichende Manuskripte – wie der 𝕻72 enthaltende Sammelkodex, der sogar auf zwei verschiedenen Entwicklungsstufen eine „falsche“ Einordnung des Jud bietet – einzeln diskutiert und als letztlich irrelevante Ausnahmen („mavericks“4) ausgewiesen werden. Im Folgenden soll zuerst die Argumentation zum Neuen Testament – in der 2 Petr und die Katholischen Briefe wieder einen besonderen Platz einnehmen – und dann die zum Alten Testament besprochen werden.5

2.5.1 Die Reihenfolgen in neutestamentlichen Handschriften

Bei einem im Wesentlichen statistischen Argument1 ist es besonders angebracht, genau auf die ins Spiel gebrachten Zahlenverhältnisse und die zugrunde gelegten Datenmengen zu achten, da es sonst schnell zu nicht zutreffenden Einschätzungen kommen kann. Wenn etwa David Trobisch im Laufe seiner Argumentation festhält, dass „nur 59 der etwa 5300 erhaltenen Handschriften … alle vier Sammlungseinheiten des Neuen Testaments [umfassen]“2 und schlussendlich folgert, dass sich „[b]is auf fünf Zeugen … alle ausgewerteten Handschriften der ersten sieben Jahrhunderte als Abschrift der gleichen Ausgabe interpretieren [lassen]“3, so sind die dabei genannten Zahlen durchaus nachvollziehbar, solange man beachtet, dass erstens Trobisch selbst sechs „Handschriften mit Anordnungen und Anzahl von Schriften, die nicht mit der Kanonischen Ausgabe übereinstimmen“4 einzeln bespricht und zweitens zwischen erhaltenen und ausgewerteten Handschriften ein signifikanter Unterschied besteht.5

Doch schon in einer der ersten Rezensionen zu Trobischs Arbeit werden daraus die „rund 5300 nt.lichen HSS aus den ersten sieben Jhh. (dh. vor den byzantinischen Ausgaben)“6, was nahelegt, dass sich der bis auf fünf (bzw. sechs) Ausnahmen einheitliche Befund auf der Basis von mehreren tausend ausgewerteten Handschriften ergebe. Noch pointierter formuliert Matthias Klinghardt in einer jüngeren Darstellung von Trobischs Ergebnissen:

„Nur fünf von rund 2500 Handschriften zeigen Abweichungen in der Reihenfolge der enthaltenen Schriften, während die restlichen (also beeindruckende 99,8%) den einheitlichen Befund bestätigen.“7

Beachtet man allerdings, dass sich in dem von Trobisch zugrunde gelegten Referenzwerk von Kurt und Barbara Aland die Zahl der in die ersten sieben Jahrhunderte datierten neutestamentlichen Handschriften insgesamt auf nur etwa 250 beläuft,8 so wird deutlich, dass diese eindrucksvollen Zahlenverhältnisse nicht dem von Trobisch erhobenen Befund entsprechen können.

Dieser kommt vielmehr dadurch zustande,9 dass Trobisch in einem ersten Schritt aus den in NA27 aufgelisteten Manuskripten der ersten sieben Jahrhunderte zuerst eine nicht benannte Anzahl von Texten ausscheidet, die seiner Einschätzung nach „nicht im Rahmen des antiken Buchwesens für den Vertrieb bestimmt waren“10. Sodann werden alle Manuskripte ausgeschlossen, die nur einen neutestamentlichen Text (bzw. Teile von einem solchen) wiedergeben und daher für die Frage nach der Reihenfolge der Texte unergiebig scheinen.11 Bis auf die dieser Gruppe zuzurechnenden Papyri werden diese Manuskripte auch einzeln aufgeführt. Ebenfalls einzeln gelistet und der Gruppe der „[n]icht auswertbare[n] Handschriften“12 zugeordnet werden jene Manuskripte, die mehr als einen neutestamentlichen Text bezeugen, allerdings keine sicheren Aussagen mehr über deren ursprüngliche Reihenfolge erlauben.

Übrig bleiben schließlich 20 (21) Manuskripte, von denen nach Trobisch 15 die Anordnung der kanonischen Ausgabe bezeugen und fünf (sechs) eine andere Abfolge bieten.13 Zu beachten ist allerdings, dass nur wiederum zwei dieser 15 Zeugen – nämlich 𝕻74 (Apg + Katholische Briefe, 7. Jhdt.) und 022 (Evangelien, 6. Jhdt.) – im strengen Sinn als sichere Zeugen für die Anordnung der Kanonischen Ausgabe gelten können, da sie die exakte Reihenfolge aller Schriften einer Teilsammlung aufweisen. Als einen dritten Zeugen wird man 016 (Paulusbriefe, 5. Jhdt.) hinzuzählen dürfen, da zwar Röm zu Beginn fehlt, seine ursprüngliche Präsenz im Manuskript aber alle Plausibilität für sich hat. Immerhin zwölf Manuskripte bieten eine auch mit der Kanonischen Ausgabe kompatible Teilsequenz, wobei in 𝕻61 (Paulusbriefe, 7./8. Jhdt.) und 048 (Apg, Katholische Briefe, Paulusbriefe, 5. Jhdt.) die entscheidende Lokalisierung des Hebr (in 048 zusätzlich auch die der Apg) nicht mehr zu klären ist.14

Unter Berücksichtigung der Altersgliederung der Handschriften – vor und nach der textgeschichtlichen „Grenze“15 des 3./4. Jhdts. – sowie der Differenzierung nach Teilsammlungen16 lässt sich dieser Befund folgendermaßen darstellen:17

Bestimmbare Reihenfolgen in ntl Manuskripten (nach Trobisch, Endredaktion, 44–54):


1.–3. Jhdt. 4.–7. Jhdt. (ausgenommen 01, 02, 03)
ident mit KA kompatibel mit KA anders als KA ident mit KA kompatibel mit KA anders als KA
Evangelien --- 𝕻75 𝕻45? 022 042, 043, 064 05, 032
Paulusbriefe --- 𝕻30 𝕻46 016? 𝕻61, 015, 048, 0285 06
Apg + Katholische Briefe --- --- 𝕻45? 𝕻72 𝕻74 048, 0166, 0247, 0251 05

Hinter den „ausgewerteten Handschriften der ersten sieben Jahrhunderte“18, mit denen das argument from sequence begründet wird, verbergen sich also letztlich nicht mehr als 21 Manuskripte, wobei überdies nur der deutlich geringere Teil von diesen – nämlich fünf – der entscheidenden Phase vor den für die Rekonstruktion der Kanonischen Ausgabe herangezogenen Unzialhandschriften des 4./5. Jhdts. zuzurechnen ist.19 Wiederum nur zwei dieser fünf Manuskripte – 𝕻75 (3. Jhdt.20) mit Lk/Joh und 𝕻30 (3. Jhdt.) mit 1–2 Thess – bieten eine mit der Kanonischen Ausgabe zumindest kompatible Teilsequenz. Auffällig ist zudem das Fehlen der Kombination von Apg und Katholischen Briefen vor den Unzialen: In 𝕻45 (3. Jhdt.) steht die Apg hinter den – ursprünglich vermutlich in der sogenannten westlichen Reihenfolge Mt, Joh, Lk, Mk angeordneten21 – Evangelien,22 während sich in 𝕻72 nur 1–2 Petr und Jud finden.

Ein „einheitliches Bild“23, das dafür sprechen könnte, die übereinstimmenden Teil-Reihenfolgen in Sinaiticus, Vaticanus und Alexandrinus auf die bewusste Gestaltung von vier neutestamentlichen Teilsammlungen durch ein und dieselbe Gesamtredaktion bereits im zweiten Jh. zurückzuführen, ergibt sich durch diesen schmalen und divergenten handschriftlichen Befund gerade nicht. Vielmehr zeigt sich an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich, wie sehr der Versuch einer möglichst plausiblen Rekonstruktion der neutestamentlichen Kanongeschichte darauf angewiesen ist, die Zeugnisse der (griechischen) Manuskripte mit dem Gesamt des historischen Quellenmaterials in Beziehung zu setzen.

2.5.2 Die Reihenfolgen in alttestamentlichen Handschriften

Betrachtet man nun die Situation in der alttestamentlichen Manuskriptüberlieferung, so wartet zunächst eine Überraschung:

„Umfang und Anordnung der Schriften des Alten Testaments präsentieren sich in den großen Bibelunzialen nicht so einheitlich wie in ihrem neutestamentlichen Teil.“1

Hinter dieser nüchternen Feststellung verbirgt sich für die These, die Redaktion der Kanonischen Ausgabe habe auch das Alte Testament umfasst und dort unter anderem „Titel und Gruppierungen festgelegt“2, natürlich eine enorme Herausforderung.3 David Trobisch stellt sich ihr, indem er in den alttestamentlichen Teilen von Sinaiticus, Vaticanus und Alexandrinus „fünf Sammlungseinheiten und drei Anhänge“4 beschreibt und deren Anordnung folgendermaßen tabellarisch darstellt:

Atl Schriftenarrangement in den Unzialen des 4./5. Jhdts. (nach Trobisch, Endredaktion, 99):


Vaticanus 1 + a 2 3 4 5
Sinaiticus 1 + a 3 + b 5 4 2
Alexandrinus 1 4 5 3 + a + b 2 + c

Durch die oben wiedergegebene Tabelle5 könnte der Eindruck entstehen, in Analogie zur Situation im neutestamentlichen Bereich der Unzialen, wo Apg und Katholische Briefe den Paulusbriefen folgen (Sinaiticus) oder voraufgehen (Vaticanus, Alexandrinus), aber innerhalb dieser Gruppen jeweils dieselben Einzelschriften in derselben Reihenfolge erscheinen,6 sei auch der alttestamentliche Bereich aus in unterschiedlichen Abfolgen angeordneten Textgruppen mit jeweils identischer Reihenfolge der enthaltenen Einzeltexte aufgebaut.

Doch dem ist nicht so. Trobisch notiert selbst zum Sinaiticus: „Bar folgte nicht auf Jer und ist nicht erhalten“7. Das bedeutet aber, dass die Reihenfolge der prophetischen Schriften im Sinaiticus sicher nicht, so wie in Vaticanus und Alexandrinus, Jer-Bar-Klgl-EpJer gelautet hat8. Es finden sich zudem noch weitere Varianzen. So steht im Vaticanus Tob nach Jdt (Est-Jdt-Tob), während Sinaiticus und Alexandrinus die Abfolge Est-Tob-Jdt bieten. Das Buch Ijob ist sogar dreimal an unterschiedlicher Stelle eingeordnet: Im Sinaiticus nach Sir am Ende der poetischen Schriften (und damit in diesem Manuskript am Ende des gesamten Alten Testaments), im Vaticanus nach Hld und vor Weish, im Alexandrinus nach den hier auf die Psalmen folgenden Oden und vor Spr. Schließlich finden sich von den Makkabäerbüchern, die im Alexandrinus vollständig vertreten sind (1–4 Makk), im Sinaiticus nur 1 Makk und 4 Makk, während sie im Vaticanus gänzlich fehlen.

 

Selbst wenn man also mit Trobisch die alttestamentlichen Schriften in „fünf Sammlungseinheiten und drei Anhänge“9 gruppiert, was keineswegs selbstverständlich ist,10 begegnen hinsichtlich Ijob in Sammlungseinheit 2 (diese ist im Alexandrinus noch um die Oden ergänzt), Tob in Sammlungseinheit 3 und Bar in Sammlungseinheit 5 auch innerhalb dieser Gruppen klare Varianzen in der Reihenfolge der Schriften.11 Eine einheitliche „Anzahl und Reihenfolge der Einzelschriften“12, die für das Editionsparadigma so hohe Relevanz besitzt, findet sich somit hinsichtlich der alttestamentlichen Texte nicht einmal in den die Ausgangsbasis der Argumentation bildenden großen Majuskelhandschriften.