Das Science Fiction Jahr 2020

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Hardy Kettlitz

KAPSEL: Chinesische Science Fiction

Interview mit Lukas Dubro (Herausgeber) und Felix Meyer zu Venne (Chefredakteur)

KAPSEL ist das erste Magazin in Deutschland, das sich ausschließlich mit chinesischer Science Fiction beschäftigt. Wie seid ihr auf die Idee gekommen bzw. was war der Auslöser dafür, dass ihr das Magazin herausgeben wolltet?

LUKAS: Als wir mit KAPSEL angefangen haben, gab es keine einzige der vielen Science-Fiction-Erzählungen, die gerade in China geschrieben werden, auf Deutsch. Erst ein halbes Jahr bevor die erste Ausgabe erschien, veröffentlichte der Heyne Verlag Die drei Sonnen von Liu Cixin. Dabei gibt es dort so viel mehr gute Stoffe.

FELIX: Aber wir wollten die Geschichten nicht einfach nur übersetzen, sondern auch Leser für sie begeistern, die noch nie SF gelesen haben oder wenig über China wissen. Deshalb widmen wir eine Ausgabe je einer Erzählung und geben der Diskussion darüber viel Platz. Es gibt also den Gossip gleich dazu.


Die ersten beiden Ausgaben des Magazins im Frühwerk Verlag. Covergestaltung: Marius Wenker

Wie habt ihr den Kontakt zu den Autoren hergestellt?

LUKAS: Für die erste Ausgabe haben wir im Internet einen Hilferuf abgesetzt. Damals waren wir auf der Suche nach einer Utopie. Gemeldet hat sich ein Science-Fiction-Fan aus Schanghai. Sie gab uns Chi Huis Chat-Namen. Inzwischen sind wir mit vielen der Autorinnen und Autoren befreundet. Felix ist regelmäßig in China.

FELIX: Ja, genau, ich bin jedes Jahr mehrmals dort, treffe dann viele Autoren, Verleger und engagierte Fans und besuche alle möglichen Veranstaltungen. Mittlerweile weiß ich genau, wen ich wo antreffen kann, und plane die Etappen meiner Reisen entsprechend. So konnte ich in den vergangenen Jahren mit vielen Autoren und Größen der Szene über KAPSEL sprechen. Ich bin jedes Mal wieder überrascht, wenn ich auf Veranstaltungen in China mit Autoren ins Gespräch komme, die ich vorher noch nie persönlich getroffen habe, und sie dann plötzlich sagen: »Ach, du bist der von der Zeitung aus Deutschland!«

LUKAS: Im Kunsthaus Acud in Berlin veranstalten wir eine Reihe, zu der wir die Autoren, die wir in dem Magazin präsentiert haben, nach Berlin einladen. Dort diskutieren sie mit Künstlern und Wissenschaftlern aus der Stadt über Zukunftsfragen. Was können wir tun, um unsere Welt besser zu machen? Welche Chancen birgt künstliche Intelligenz? Auch Chi Hui holten wir nach Deutschland und waren mit ihr auf der Frankfurter Buchmesse. Es war ein toller Moment, als sie auf einmal in der riesigen Messehalle vor uns stand. Schließlich hatte damals alles im Chatroom begonnen. Super war auch der lange Spaziergang mit Jiang Bo durch Berlin!

Wie umfangreich ist der chinesische SF-Markt?

FELIX: In China gibt es im Moment um die fünfzig Verlage, die Science Fiction veröffentlichen. Ihr Output variiert allerdings stark. Insgesamt kommen jedes Jahr einige Hundert Publikationen auf den Markt – Romane, Reihen, Anthologien, Kinderbücher und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. In den vergangenen Jahren sind die SF-Abteilungen in den Buchhandlungen immer weiter gewachsen. Seit dem Erfolg von Liu Cixin habe ich in den Eingangshallen zahlreicher Buchhandlungen ganze Büchertische zur SF gesehen. Der sticht dort am meisten heraus. Neben seinen Romanen, die in China enorm erfolgreich sind, gibt es Anthologien, Analysebände, Interpretationen, Adaptionen, Kinderbücher und auch Comics. Bisher habe ich nur ein paar Bilder von den Comics gesehen, freue mich aber schon sehr darauf, sie zu lesen.

Welche SF-Magazine gibt es dort?

LUKAS: Das einzige Magazin, das wirklich wichtig ist, ist die SCIENCE FICTION WORLD. Mit der Redaktion haben wir im Rahmen unserer Diskussionsreihe im Acud gearbeitet. Felix, erzähl mal von deinem ersten Besuch bei ihnen in Chengdu!

FELIX: Das war super! Gleich am Eingang stapelten sich Kartons mit Liu-Cixin-Büchern. Es gibt aber nicht nur die SCIENCE FICTION WORLD. In den späten 70er- und frühen 80er-Jahren tauchten die ersten Magazine auf dem chinesischen Markt auf. Die meisten hielten sich nur wenige Jahre oder hatten kleine Auflagen. SCIENCE FICTION WORLD ist zurzeit vermutlich das größte SF-Magazin in China. Das Magazin erscheint monatlich mit einer Auflage von ungefähr 150.000 Exemplaren.

LUKAS: Um das Jahr 2000 war die Auflage noch höher: Fast eine halbe Million Hefte sollen da jeden Monat gedruckt worden sein!

FELIX: SCIENCE FICTION WORLD veröffentlicht auch noch eine Ausgabe mit Übersetzungen von Science Fiction und Fantasy aus dem Ausland. Seit 2016 gibt es den SCIENCE FICTION CUBE und der ist ein großer Hit: Von den ersten Ausgaben gingen um die 50.000 Exemplare über den Ladentisch, berichtet Regina Kanyu Wang in ihrem Essay über die chinesische SF-Szene, der in dem gerade erschienenen Sammelband Zerbrochene Sterne von Ken Liu abgedruckt wurde.

Wie verbreitet ist die Wahrnehmung der SF in der allgemeinen chinesischen Leserschaft?

LUKAS: Liu Cixin und Hao Jingfang haben jeweils einen Hugo Award gewonnen; Barack Obama und Mark Zuckerberg sind selbsterklärte Fans. Hat das auch in China das Genre beliebter gemacht? Aber einige Autoren selbst sind da eher skeptisch.

FELIX: Mit den internationalen Preisen stieg auf jeden Fall die Aufmerksamkeit. Als ich vor einigen Jahren, kurz nachdem ich bei KAPSEL eingestiegen bin, meiner ehemaligen Chinesischlehrerin in Xi’an stolz ein Heft in die Hand drückte und ihr begeistert von Science Fiction und Liu Cixin erzählte, war ihre Reaktion sehr verhalten: »Mein Sohn liest so etwas auch gern«, sagte sie nur. Damit war das Thema beendet. Erst jetzt, einige Jahre später, sprach sie mich wieder auf Liu Cixin an. Sie habe Die drei Sonnen nun endlich gelesen und sei absolut begeistert. »Was gibt es noch? Was liest du gerade?« Wir tauschen uns nun regelmäßig aus und wollen bei meinem nächsten Besuch Trips zu den kleineren Buchhandlungen der Stadt machen. Meine Bekannte ist sicherlich kein Einzelfall.

LUKAS: Derjenige, der maßgeblich zur internationalen Bekanntheit beigetragen hat, ist Autor und Übersetzer Ken Liu, der seit seiner Jugend in Kalifornien lebt. Er ist zufällig in das Thema gerutscht. Auf der Liste seiner Übersetzungen finden sich alle großen Namen der chinesischen SF – das ist sehr beeindruckend. Wir finden es toll, was er mit den Texten macht. Liu Cixin meinte in einem Interview, er finde die Übersetzung von Die drei Sonnen besser als das Original. Wir hatten ihn im März nach Berlin eingeladen, doch dann begann die Corona-Krise. Ich hoffe, dass wir das noch nachholen können!

FELIX: In China sind diese Autoren aber auch sehr angesagt! Ich kenne viele Schüler und Studenten, die begeistert alle neuen Publikationen verschlingen und sehnsüchtig auf die neueste Ausgabe von SCIENCE FICTION WORLD warten. In meiner Lieblingsbuchhandlung kam mir einmal ein Schüler mit einem Stapel der Zeitung entgegen. Als ich ihn fragte, was er denn mit so vielen Heften wolle, sagte er nur, dass die für all seine Freunde seien. Eine Stunde später saß er zusammen mit fast zwanzig weiteren Schülern auf einer Treppe vor dem Laden. Alle lasen gebannt das Magazin. Viele dieser jungen Leser entwickeln sich zu eingefleischten Fans, die auch Jahre später sehnsüchtig auf Neuerscheinungen warten.

Gibt es ein mit Europa oder den USA vergleichbares Fandom mit Conventions, Fanzines und Ähnlichem?

LUKAS: In Schanghai ist viel los. Besonders aktiv sind da Regina Kanyu Wang und der Club Science Fiction Applecore. Peking und Chengdu sind auch wichtige Zentren des Fandoms. Regina hat das sehr anschaulich in einem Essay zusammengefasst, den wir in der Ausgabe von KAPSEL über Ken Liu veröffentlicht haben.

FELIX: Neben Schanghai sind unter anderem noch Peking, Chengdu, Nanjing und Xi’an wichtige Städte. In den 80er-Jahren gründeten sich dort erste Fanclubs, wie man erzählt. In den frühen 90er-Jahren kamen zahlreiche Lese- und Fan-Clubs dazu. Häufig waren Studierende vorn mit dabei. Die Gruppen organisierten eigene Events. Heute ist das tatsächlich auch noch so.

LUKAS: Viele der Autoren waren zuerst Fans. Regina Kanyu Wang zum Beispiel. Jetzt schreibt sie selbst und reist zugleich durch die Welt, um das Genre im Ausland bekannt zu machen. Generell sind die Leute dort mit viel Leidenschaft bei der Sache. Es macht großen Spaß, mit ihnen zu arbeiten!

FELIX: Zwei der wichtigsten Science-Fiction-Preise sind der Galaxy und der Nebula Award. Zeitgleich zu den jährlichen Verleihungen finden in China informelle Veranstaltungen für die Fans statt, die US-amerikanischen und europäischen Conventions sehr ähnlich sind. Im vergangenen Jahr war ich zum Nebula Award eingeladen, konnte aber leider nicht teilnehmen. Ich hoffe, dass es dieses Jahr klappt.


Gibt es eine längere Tradition chinesischer SF bzw. »klassische« SF in China?

LUKAS: Das geht ziemlich weit zurück. Felix, kannst du ein paar Autoren zur Geschichte der chinesischen SF empfehlen, die man auf Deutsch oder Englisch lesen kann? In der ersten KAPSEL hatten wir einen sehr schönen Artikel zu dem Thema, aber die ist schon vergriffen.

FELIX: Song Mingwei, Nathaniel Isaacson, Regina Kanyu Wang, Ken Liu und Xia Jia haben hierzu interessante Essays geschrieben, die es teils auch online gibt!

LUKAS: Die Forschung ist sich einig darüber, dass das Genre Anfang des 20. Jahrhunderts den Weg nach China über Übersetzungen fand. Damals ging es vor allem darum, die Entwicklung des Landes zu fördern.

 

FELIX: Auch einige chinesische Autoren versuchten sich in dem Genre und brachten einige utopische Geschichten und idealisierte Vorstellungen zu Papier. So richtig blühte das Genre aber erst ab 1949 auf. Mehrere Autoren, darunter Zhang Ran und Zheng Wenguang, widmeten sich der SF und publizierten einige sehr enthusiastische, utopische Entwürfe nach sowjetischem Vorbild, die sich mit dem Ziel der Vermittlung von Wissen – viele Autoren waren tatsächlich Wissenschaftler – verstärkt an eine junge Leserschaft richteten. Diese erste Blütephase klang Ende der 60er-Jahre mit der aufkommenden Kulturrevolution aus, in der das Genre nahezu vollständig verschwand.

LUKAS: Das Golden Age startete dann in den 80er-Jahren.

FELIX: Genau! Mit dem Ende der 70er-Jahre und dem Ende der Kulturrevolution begann ein goldenes Zeitalter für die chinesische Science Fiction. Zahlreiche Werke und aufkommende Magazine konnten mehr und mehr Leser für das Genre begeistern. Der kürzlich verstorbene Ye Yonglie war in dieser Zeit besonders erfolgreich. Eine seiner Geschichten verkaufte sich mehr als eine Million Mal. Aber schon kurz danach fand der Aufschwung ein jähes Ende: Science Fiction verbreite Pseudowissenschaft und sei politisch inakzeptabel, hieß es.

Ende der 80er-Jahre erholte sich das Genre wieder: Die chinesische New Wave begann. Die SF konnte sich als literarisches Genre behaupten und etablieren. Die drei »Generäle« Liu Cixin, Wang Jinkang und Han Song, aber auch viele andere publizieren seither ihre Bücher, die nicht mehr ausschließlich utopische, sondern vermehrt dystopische bis düstere Züge haben.

Einige Namen chinesischer Autorinnen und Autoren sind in Europa inzwischen bekannt, wie zum Beispiel Liu Cixin und Hao Jingfang. Wer ist darüber hinaus aber noch maßgeblich für die gegenwärtige chinesische SF?

FELIX: Wer ein paar Klassiker lesen will, der sollte sich als Secondhand den Sammelband SF aus China von Ye Yonglie und Charlotte Dunsing aus den 80ern besorgen! Die frühen Romane und Erzählungen aus den 90er-Jahren von Wang Jinkang, Han Song und natürlich von Liu Cixin sowie deren aktuellere Texte kann ich auch sehr empfehlen. Und na klar, die Texte der jüngsten Generation: Xia Jia, Chen Qiufan, Jiang Bo, Chi Hui, Anna Wu, Mo Xiong, Zhang Ran, A Que, Baoshu und so weiter und so weiter.

LUKAS: Oh, das ist eine schwierige Frage. Es gibt so viele gute Texte! Jiang Bo, der in erster Linie für seine Space Operas bekannt ist, schreibt Krimis über künstliche Intelligenz und Big Data. Xia Jia und Chi Hui erwähnten wir bereits – Chi Hui hat eine tolle Coming-of-Age-Story geschrieben mit Riesenkäfern und Raumtoren. Ken Liu schreibt auch unglaublich gute Geschichten, auch wenn er in den USA lebt und veröffentlicht und deshalb streng genommen nicht zur chinesischen Science Fiction zählt. Es gibt zwei tolle Erzählungsbände: The Paper Menagerie und The Hidden Girl.


Worin unterscheidet sich chinesische SF grundsätzlich von der US-amerikanischen und europäischen? Welche zentralen Themen werden behandelt?

LUKAS: Als ich Regina Kanyu Wang im Januar im Central Congress in Hamburg interviewt habe, sagte sie, dass die Geschichten immer eine sehr persönliche Seite haben. Ich kann ihr da nur zustimmen: Es gibt so eine Energie zwischen den Zeilen, die mich an den Geschichten, die ich bis jetzt gelesen habe, sehr reizt.

FELIX: Nach einer Lesung in Peking sagte ein Autor einmal zu mir, dass genau diese Frage nahezu auf jeder Veranstaltung gestellt wird. Und es sei eine schwierige ohne eindeutige Antwort. Selbstverständlich gibt es Themen, die für chinesische Autoren besonders bedeutend sind, oder eine Poetik, die sich gegebenenfalls von Science-Fiction-Autoren aus anderen Ländern unterscheidet.

Gibt es neben der Literatur auch SF in anderen Medien, wie Film und Comic und so weiter?

FELIX: Die Verfilmung von Die wandernde Erde von Liu Cixin war in China ein großer Erfolg. Die Branche möchte mit Sicherheit an diesen Erfolg anknüpfen. Ich weiß von einigen Autoren, die auch in der Filmbranche arbeiten, und höre immer mal wieder etwas von neuen Filmprojekten. Nach wie vor hoffe ich, dass Die drei Sonnen verfilmt wird und auch außerhalb von China in die Kinos kommt. Film und Literatur sind aber nur der Anfang. Weitere Medien folgen bestimmt. Comics und illustrierte Bände sind bereits auf dem Weg. Ich bin gespannt, was noch alles publiziert wird!

Wie ist das Geschlechterverhältnis bei den chinesischen Autorinnen und Autoren?

FELIX: Charakteristisch für die derzeitige Phase ist, dass viele Frauen als Autorinnen aktiv sind und publiziert werden. Und es werden immer mehr! Viele Debüts in den vergangenen Jahren waren von jungen Frauen. Einige der etablierten Autorinnen sind auch außerhalb Chinas bekannt. Die Texte von Xia Jia, Chi Hui und Anna Wu wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, unter anderem von Ken Liu und von uns. Fortsetzung folgt.

LUKAS: Wir mögen sehr an der Szene in China, dass so viele Frauen schreiben – und so erfolgreich sind! Xia Jia gehört definitiv zu den Stars der jungen SF-Szene Chinas. Ihre Storys sind fast schon meditativ. Es spricht auch für sich selbst, dass Hao Jingfang ein Jahr nach Liu Cixin ebenfalls mit dem Hugo-Award ausgezeichnet wurde.

Worin seht ihr den Grund für das zunehmende Interesse an chinesischer SF in den USA und Europa?

LUKAS: Das haben wir ja oben bereits angerissen. Es gibt unglaublich engagierte Leute wie Ken Liu, Song Mingwei und Regina Kanyu Wang. Die haben eine tolle Vorarbeit geleistet! Die Empfehlungen von Obama und Zuckerberg haben ihr Übriges getan. Aber wir können vor allem für uns sprechen: Als wir vor fünf Jahren angefangen haben, gab es hierzulande kaum Genre-Literatur aus China. Das meiste, was bis dahin publiziert worden war, waren sehr ernste Texte, so wie die von Mo Yan, der für seine Erzählungen den Nobelpreis erhalten hat. Darüber hinaus erreichte von den Hunderttausenden Büchern, die Jahr für Jahr in China erscheinen, nur ein Bruchteil den deutschen Markt.

FELIX: China entwickelt sich derzeit rasant. Und das bekommt man auch außerhalb des Landes mit. Ich finde vor allem technische Neuerungen, zum Beispiel im Bereich der KI, spannend und denke, dass es vielen anderen auch so geht. Science Fiction ist im Umkehrschluss das literarische Genre, das genau derartige Prozesse aufgreift und sich auf künstlerische Weise damit auseinandersetzt. Möglicherweise auch ein Grund für den Erfolg des Genres in dieser Zeit.

Was plant ihr für die Zukunft für euer Magazin?

LUKAS: Gerade arbeiten wir an zwei neuen Ausgaben. Die eine erscheint diesen Herbst. Dafür haben wir eine Geschichte von Jiang Bo übersetzt, in der es um ein Big-Data-Experiment geht, das aus den Fugen gerät. Im kommenden Jahr erscheint dann eine Sonderausgabe, in der wir zwei Autorinnen und Autoren aus China und Deutschland positive Zukunftsvisionen schreiben lassen. Anna Wu und Baoshu sind dabei! Und aus Deutschland Anja Kümmel und Tim Holland. Wir brauchen dringend alternative Zukunftsentwürfe, und das nicht erst seit heute!

Lena Richter

Queer denken.

Erzählstrukturen und Weltenbau aus queerfeministischer Perspektive

Inhaltliche Hinweise: Dieser Artikel behandelt und thematisiert systemische Ungleichbehandlung, Leiden queerer Menschen, Cis-Sexismus, Misogynie, Ableismus (bezogen auf Neurodiversität) und beschreibt Body-Horror-Aspekte eines Computerspiels.

In der Diskussion um queere Geschichten geht es oft um Repräsentation und Diversität der Figuren. Doch Repräsentation ist nur ein Aspekt des Strebens nach queeren Erzählungen; der Wunsch nach diversen Figuren ist wichtig, bewegt sich aber nur an der Oberfläche. Auf der Suche nach queerfeministischen Perspektiven müssen wir tiefer blicken.

Zuerst möchte ich kurz die in diesem Beitrag verwendeten Begriffe erläutern. Ich wähle hier queer als Oberbegriff statt LGBTQ oder ähnliche Abkürzungen, weil die konkrete Benennung von queeren Identitäten durch die Buchstabenfolge nicht alle Personengruppen umfasst und dadurch ausschließend wirken kann. Queer meint hier alle Menschen, die bezüglich Geschlechterrollen, sexueller Orientierung oder ähnlichem auf irgendeine Weise von der deklarierten Norm unserer Gesellschaft abweichen. Die Betrachtungen in diesem Essay sind außerdem queerfeministisch. Damit ist gemeint, dass es einerseits darum geht, heteronormative Sichtweisen und die binären Kategorien von männlich und weiblich aufzubrechen, aber eben auch darum, die Ungleichbehandlung von weiblich gelesenen Personen zu kritisieren. Auf den Begriff der Heteronormativität gehe ich später noch ausführlich ein.

Queere Repräsentation, das sei noch einmal bekräftigt, ist ein wichtiger Aspekt, denn noch immer ist es in der Phantastik nicht selbstverständlich, dass z. B. homo-, bi- und pansexuelle Figuren, trans und nicht-binäre Figuren, asexuelle und aromantische Figuren als Protagonist*innen, Antagonist*innen oder zumindest Nebenfiguren vorkommen und hierbei angemessen repräsentiert statt auf ihre Sexualität oder Genderrolle reduziert werden. Auch werden Bücher, Filme oder Serien mit queeren Inhalten oft noch in eine Nische geschoben, und es wird angenommen, dass nur queere Menschen ein Interesse an ihnen haben, während Geschichten, in denen nur cis-heterosexuelle Beziehungen vorkommen, als normal und für alle gemacht gelten. Dennoch geht die Diskussion bei Weitem nicht tief genug, wenn wir nur über die Figuren einer Erzählung sprechen. Um wahrhaft Geschichten zu erzählen, die geeignet sind, die Strukturen der Gesellschaft aufzubrechen, müssen wir umgekehrt erst einmal verstehen, wie diese Strukturen unsere Erzählungen seit Jahrhunderten beeinflussen. Dieser Einfluss erstreckt sich bis in die Grundlagen unserer Erzähltraditionen und der fiktiven Welten, die wir erschaffen.

Was uns die Heldenreise lehrt

Deutlich wird dies beispielsweise bei der Heldenreise nach Campbell. Diese diente zahllosen Büchern, Filmen und Serien als Schablone und ist immer noch als Erfolgsrezept bekannt, nach dem Geschichten funktionieren. Aber auch darüber hinaus wird sie in Selbsthilfebüchern und Coachings verwendet. Der Protagonist der Heldenreise hört den Ruf des Abenteuers, folgt ihm nach erster Verweigerung, besteht Gefahren und Prüfungen und stellt sich schließlich dem Endgegner, der größten Gefahr, ehe er transformiert und mit Schätzen oder Belohnungen versehen, den Weg zurück in sein altes Leben antritt, wo Anerkennung und oft auch Liebe auf ihn warten. Dieser Monomythos ist Grundlage unendlich vieler Geschichten. Damit trifft er gleichzeitig eine Aussage darüber, was von der Mehrheitsgesellschaft als Grundlage von Geschichten angesehen wird und was nicht. Immer wieder wird argumentiert, jede Geschichte ließe sich auf wenige kurze Grundformeln herunterbrechen und eigentlich sei alles schon einmal erzählt worden. Doch dies sagt lediglich aus, dass jene bestimmten Grundformeln gesellschaftlich etabliert sind und als die Norm angesehen werden. Wie jede andere Norm ist auch diese geprägt von den Grundpfeilern unserer Gesellschaft, zu denen Patriarchat und Heteronormativität ebenso gehören wie kapitalistisches und oft auch noch kolonialistisches Denken. Welche Werke Einzug in den Literaturkanon und die immer neu aufgelegte Reihe der Klassiker gefunden haben, hing schon immer davon ab, welche Personen die Macht hatten, darüber zu entscheiden, und es gab seit der Erfindung der Druckerpresse niemals eine Zeit, in der das nicht beinahe ausschließlich weiße, wohlhabende, heterosexuelle cis-Männer waren. Wenn wir also von der Heldenreise als Monomythos sprechen, müssen wir zumindest in Betracht ziehen, das andere Erzählstrukturen auch in der Vergangenheit existiert haben und lediglich nicht ausreichend verbreitet und archiviert wurden, um sie heute noch zu kennen.

Doch zurück zur Heldenreise. Dieser soll zuallererst nicht ihre Funktion und Wirkungsweise abgesprochen werden, die selbstverständlich als Grundlage einer spannenden Erzählung ihren Wert hat und nicht umsonst bis heute immer wieder reproduziert wird. Dennoch kommen wir an einer kritischen Betrachtung des Monomythos nicht vorbei, wenn es darum geht, aufzuzeigen, wie Heteronormativität Grundlage unserer Geschichten ist. In ihrem Artikel I Don’t Want to Be the Strong Female Lead in der NEW YORK TIMES machte die Filmemacherin Brit Marling eine bemerkenswerte Aussage über die Heldenreise. »Manchmal habe ich das Gefühl, sie greifen zu können. Eine wahrhaft freie Frau. Aber wenn ich versuche, sie in die Heldenreise zu pressen, dann weicht sie aus dem Bild wie eine Fata Morgana. Sie sagt mir: ›Brit, die Heldenreise besteht aus jahrhundertelang erzählten Präzedenzfällen, geschrieben von Männern, die andere Männer mythologisieren. Ihr Muster ist ein aufstachelndes Ereignis, gefolgt von steigender Spannung, einem explosiven Höhepunkt und Auflösung. Woran erinnert dich das?‹ Und ich sage, an einen männlichen Orgasmus.« Marling kommt in dem Artikel zu dem Schluss, dass neue Geschichten nicht erzählt werden können, wenn man lediglich den Helden in der Heldenreise durch eine Heldin austauscht, durch die oft angepriesene starke Frau, die sich genauso verhält wie ihr männliches Gegenstück. Solange die Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in ihrem binären Geschlechterdenken als weiblich ansieht (siehe hierzu auch den Artikel von Judith Vogt in diesem Buch), nicht als solche angesehen werden, die zur Lösung von Problemen beitragen können, ist es unerheblich, welche Art von Figur die Heldenreise durchläuft. Diese ist schon in sich die geschichtengewordene Zementierung von patriarchalen, kapitalistischen und heteronormativen Strukturen.

 

Obwohl der Schwerpunkt dieses Artikels auf der Heteronormativität liegt, soll kurz auch auf die anderen Bereiche eingegangen werden. Beispielsweise fungiert in vielen Geschichten, die der Heldenreise folgen, die sexuell-romantische Beziehung zu einer Frau als Belohnung und Anreiz für den männlichen Protagonisten. Oft muss der Protagonist sich erst beweisen, seinen Wert zeigen, Ruhm oder Schätze erlangen oder sich in bewaffneten Auseinandersetzungen als der Stärkere erweisen, ehe sein Interesse von der Frau erwidert wird. Damit fördert die Heldenreise das patriarchalische Anspruchsdenken, das Recht des Helden auf die ihn liebende Frau. Kapitalistisch geprägt ist hingegen die Vorstellung, dass kein klassischer Held von seiner Heldenreise ärmer zurückkehrt als er aufgebrochen ist. Sei es Gold, das magische Schwert, das eigene Raumschiff oder gleich der Anspruch auf den Thron – die Reise muss sich am Ende gelohnt haben. Selbst wenn der Held gutherzig ist und anderen ohne das Versprechen einer Gegenleistung hilft, so erhält er diese am Ende doch. Nicht von ungefähr wird die Heldenreise auch in jenen Geschichten verankert, die in der Realität spielen – der American Dream, der verspricht, dass es jeder vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann, ist nichts anderes als das. Dadurch wird der einzelnen Person das Heldentum und die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal aufgebürdet und jegliche strukturelle Benachteiligung ausgeblendet.

Wie sich Heteronormativität in Erzählungen zeigt

Heteronormativität ist ein Begriff aus der Queer Theory, der bezeichnet, dass Heterosexualität und binäre Geschlechtszuordnung als soziale Norm angenommen wird. Daraus folgt, dass heterosexuelle Personen die privilegierte Stellung genießen, dass die Gesellschaft mit ihren Gesetzen, Gepflogenheiten und eben auch ihren Geschichten auf sie zugeschnitten ist. Ein Beispiel hierfür ist die immer noch präsente Benachteiligung und Diskriminierung von queeren Familienmodellen, in denen beispielsweise ein Elternteil nicht automatisch rechtliche Mutter oder Vater des innerhalb einer Ehe geborenen Kindes ist. Andere sind Gendermarketing, also das Anpreisen von Produkten mit dem Zusatz »für Männer« oder »für Frauen«, welches schon bei Spielzeugen, Kleidungsstücken etc. für Säuglinge und Kleinkinder beginnt. In erzählten Geschichten liegt die Heteronormativität, wie oben erwähnt, scheinbar auf der Hand: Heterosexuelle Figuren sind die Norm, queere Figuren und Liebesgeschichten werden oft behandelt, als seien sie nur für ein bestimmtes Zielpublikum gedacht.

Doch die Heteronormativität von Erzählungen zeigt sich noch in vielen anderen Punkten. Ein Beispiel hierfür ist die Idee von Protagonist*innen, die sich stets verbessern und, wenn auch mit Rückschlägen, dem eigenen Erfolg entgegenstreben. Ein stetiges Vorankommen, ein stetiger Gewinn an Fähigkeiten, Wissen und Reichtum, gespeist aus dem eigenen Willen und den eigenen Talenten, ist schon in sich eine heteronormative Idee. Die allermeisten queeren Personen – und das gilt auch für alle anderen marginalisierten Gruppen – erfahren ihr ganzes Leben lang Diskriminierung und müssen sich mit sehr viel mehr Hindernissen herumschlagen, um voranzukommen, während gleichzeitig das von der Mehrheitsgesellschaft propagierte Bild von Erfolg (gutes Einkommen, Eigentum, Heirat, eigene Kinder) etwas ist, was sie nicht oder nur schwer erreichen können und vielleicht auch gar nicht wollen. Hinzu kommt, das queere Communities sich oft gegenseitig stark unterstützen und erlangter Reichtum und geknüpfte Beziehungen aneinander weitergegeben werden, sodass auch deswegen die einzelne Person weniger für sich behält.

Auch die eigene Agenda, die Protagonist*innen antreibt, das Streben nach bestimmten Zielen oder größerer Macht, ist etwas, was sich mit marginalisierten Identitäten schwer vereinbaren lässt. Die Vorstellung, etwas verändern zu können, ist nicht nur ganz praktisch abhängig von Geld, Zeit und Energie, die queere Personen oft schon im Alltag nicht haben, sondern auch von dem Selbstbewusstsein, das eigene Schicksal in die Hand nehmen zu können. Hinzu kommt, dass auch die Idee, die Macht würde schon denjenigen zufallen, die sie auch verdient haben, von derselben heteronormativen Zuversicht geprägt ist. Wenn am Anfang der Geschichte böse Tyrann*innen herrschen, dann wird alles besser werden, wenn die Held*innen sie erst einmal gestürzt haben. Im Gegensatz hierzu steht die Lebensrealität von queeren Menschen, die oft ungeachtet politischer Machtwechsel denselben diskriminierenden Strukturen ausgeliefert bleiben.

Schlussendlich ist auch die Gewissheit der eigenen Identität eine heteronormative Sichtweise. Zwar sind auch Enthüllungen über die wahre Herkunft von Protagonist*innen oder deren Rolle als Auserwählte ein gern verwendetes Element von Geschichten, doch dabei wird selten die grundlegende Identität einer Figur infrage gestellt. Im Gegensatz dazu ist das Finden, Verfestigen und Verteidigen der eigenen Identität für queere Personen oft allgegenwärtig. Das Hinterfragen des eigenen Selbstbilds, das ständige Aushandeln der eigenen Wahrnehmung und das stetige Verhandeln darüber, dass diese Wahrnehmung valide und korrekt ist, begleiten queere Menschen oft ihr Leben lang. Der oder die Auserwählte einer phantastischen Geschichte wird oft nach kurzer Zeit als solche*r akzeptiert – auch dies wieder eine heteronormative Erfahrung, die von beispielsweise trans Personen, die jahrelang mit Gutachten, Gerichtsverfahren und komplizierten Behördengängen kämpfen müssen, leider nicht geteilt werden kann.

Heteronormatives Denken prägt also nicht nur die Auswahl der Protagonist*innen einer Geschichte, sondern die Geschichte selbst. Deshalb kann die Repräsentation nur der erste Schritt auf einem Weg zu queeren und queerfeministischen Geschichten und Welten sein. Queere Science Fiction zu schreiben bedeutet nicht, die immer gleichen Geschichten zu erzählen, und nur, wie es die kanadische Spieldesignerin Avery Alder nennt, »’nen Schwulen draufzupappen«. Alder hat in einem Talk über queeres Spieldesign aufgezeigt, wie sehr Heteronormativität auch Grundlage von Spielmechaniken ist und wie man diese aufbrechen kann. Viele der von ihr genannten Aspekte lassen sich ebenso auf Erzählstrukturen und Weltenbau in der Literatur anwenden.

Die Rolle der Gemeinschaft

Ein erstes Beispiel ist die Berücksichtigung der großen Rolle, die die Gemeinschaft spielt, und das Teilen der eigenen Ressourcen mit dieser. Eine solche Erzählung findet sich beispielsweise in dem Cyberpunk-Roman The Tiger Flu von Larissa Lai. Dieser entwirft eine Gemeinschaft geklonter Frauen, unter denen die sogenannten Starfish eine besondere Rolle spielen: Sie können Organe und Gliedmaßen nachwachsen lassen und geben diese an andere Mitglieder der Community weiter. In einem Interview zum Buch gibt Lai an, dass eine der Inspirationen für den Roman die Idee war, dass Menschen in einer Gemeinschaft biologisch voneinander abhängig sind. Das Weitergeben der Organe nimmt außerdem Bezug auf die Geschichte Those Who Walk Away from Omelas von Ursula Le Guin. Während dort ein Kind, das unter der Stadt gegen seinen Willen gehalten wird, leidet und alles Negative für die Gesellschaft aufzusaugen scheint, befindet sich die Starfish in The Tiger Flu in einer Liebesbeziehung mit einer anderen Frau der Gemeinschaft und sieht das Versorgen der anderen Frauen mit Teilen ihres Körpers als ihre Pflicht an.