Das Science Fiction Jahr 2020

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Gerade in diesen späteren Kurzgeschichten sehen wir die Autorin, allen kritischen Stimmen zum Trotz, in Bestform. Sie präsentiert eine Vielzahl möglicher Zukunftsentwürfe, die zeigen, dass die Vielfalt menschlichen (Zusammen)Lebens keine Grenzen kennt … und die große, ersehnte gesellschaftliche Utopie eines friedlichen Zusammenlebens gleich welcher Hautfarbe oder sexuellen Orientierung erst dann – und nur dann – möglich sein wird, wenn jeder Einzelne seine eigene, private Utopie lebt und andere leben lässt.

Der Sänger Udo Lindenberg übrigens, sah sich – abschließend – schon deutlich früher veranlasst, einen Kommentar zu den sozialen, politischen und vor allem sexuellen Umwälzungen der Zeit abzugeben – im Gegensatz zu seinem Kollegen Grönemeyer allerdings deutlich entspannter. Er nahm keinen Anstoß an David Bowie, »der seinen Gitarristen auf der Bühne küsst«, sondern quittierte die neue sexuelle Freizügigkeit mit einem lapidaren »ist doch ganz egal, ob du ’n Junge oder ’n Mädchen bist.«

Anmerkungen

[1] Charles Fourier: Die Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen (Théorie des quatre Mouvements), Deutsch von Gertrud von Holzhausen, Wien/Frankfurt am Main 1966, Europäische Verlagsanstalt (S. 190)

[2] Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine, Berlin 2019, Matthes & Seitz Verlag (S. 444)

[3] Ursula K. Le Guin: »Is Gender Necessary?«, in: Dancing at the Edge of the World, Thoughts on Words, Women, Places, New York 1989, Grove Press (S. 16)

[4] Ebenda (S. 8)

[1] Ist das Buch eine Utopie? Das ist es ganz unverkennbar nicht; es bietet keine praktische Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaft.

[2] Um 1967 verspürte ich ein gewisses Unbehagen […] Ich wollte die Bedeutung von Sexualität und die Bedeutung Geschlecht in meinem Leben und in unserer Gesellschaft definieren und begreifen. Ich glaube, dasselbe Bedürfnis veranlasste Beauvoir Das andere Geschlecht und Friedan Der Weiblichkeitswahn zu schreiben, und es brachte gleichzeitig Kate Millett und andere dazu, ihre Bücher zu schreiben und den neuen Feminismus zu begründen. Aber ich war keine Theoretikerin, keine politische Denkerin oder Aktivistin, keine Soziologin. Ich war und bin Verfasserin von Literatur. Und so drückte ich meine Gedanken in einem Roman aus.«

Aşkın-Hayat Doğan

Muslimische Figuren in Mainstream Science Fiction?

Vor ein paar Jahren machte ein »lustiges Bild« in den sozialen Medien und WhatsApp-Gruppen die Runde: Eine weiße, gutbürgerliche Kernfamilie, wahrscheinlich aus den 50ern, sitzt am Esstisch. Die Mutter bringt gerade lächelnd das Tablett mit Rostbraten an den Tisch, während der Sohn und die Tochter mit glücklichem Gesichtsausdruck neben dem amüsierten Vater in Anzug und Krawatte am Tisch sitzen. Diese Idylle in Schwarz-Weiß – anscheinend ein altes Werbefoto für irgendwas ganz anderes – wird mit zwei Sprechblasen ergänzt:

Sohn: »Dad why are there no muslims in Star Trek?«

Vater: »Because it’s the future son.«


Hier wird eine Frage aufgegriffen, die ich mir seit meinen Teenagerjahren in den 90ern selbst gestellt habe: Wie kommt es, dass muslimische oder muslimisch gelesene Figuren gar nicht bis sehr selten in den Mainstreamprodukten der westlichen Welt, sprich der USA und Europas, vorkommen? Wenn ich im nicht muslimischen und fast ausschließlich weißen Kolleg*innen und Freund*innenkreis frage, die sich in einem großen Spektrum professionell bis hobbymäßig mit Science Fiction und Fantasy beschäftigen, werden nach kurzem Nachdenken zwei Namen genannt: Bashir aus STAR TREK: DEEP SPACE NINE und Avasarala aus THE EXPANSE – meist noch gefolgt von einem zögerlichen »Vielleicht noch Khan?«.

Ist das so?

Doktor Julian Subatoi Bashir ist Chefarzt auf der Raumstation Deep Space 9 aus der gleichnamigen STAR TREK-Serie, die von 1993 bis 1999 ausgestrahlt wurde und im 24. Jahrhundert des STAR TREK-Universums stattfindet. Verkörpert wird die Figur vom sudanesischbritischen Schauspieler Alexander Siddig und Bashirs vermeintlicher Glaube oder eine Religionszugehörigkeit innerhalb der Serie wird nie thematisiert oder offengelegt. Hierbei ist zu erwähnen, dass es vor Serienbeginn kein Charakterkonzept für Bashir gab und erst beim Casting von Siddig, der ursprünglich für die Rolle des Captains Sisko vorgesehen war, anschließend die Rolle des angedachten Doktors von Julian Amoros zu Julian Bashir geändert wurde.

Chrisjen Avasarala ist die stellvertretende UN-Untersekretärin der Exekutivverwaltung der Erde in der Science-Fiction-Romanreihe THE EXPANSE, die im 24. Jahrhundert unserer Zeit spielt und vom Autorenduo James S. A. Corey erschaffen wurde. Avasarala ist eine indische Frau jenseits der 60 mit tiefer politischer Raffinesse, die in der gleichnamigen Serie THE EXPANSE von der iranisch-amerikanischen Schauspielerin Shohreh Aghdashloo gespielt wird. Laut den Büchern ist Avasarala Buddhistin.

Khan Noonien Singh ist ein wiederkehrender Gegenspieler in der Welt von STAR TREK, der erstmals 1967 in der Originalserie in Erscheinung getreten ist. Danach trat die Figur erneut in den STAR TREK-Filmen Der Zorn des Khan im Jahre 1982 und Into Darkness 2013 auf. Khan ist ein genetisch manipulierter »Übermensch«, der eine indische Herkunft hat. Er wurde in der Serie und im Film von 1982 vom mexikanischen Schauspieler Ricardo Montalbán und zuletzt 2013 vom britischen Schauspieler Benedict Cumberbatch gespielt. Eine vermeintliche Religion von Khan wurde in STAR TREK-Produkten bisher nicht thematisiert.


THE EXPANSE

Marked Muslims

Bei keiner der drei Figuren wurde je explizit erwähnt, dass sie muslimisch seien. Wie kommt es dann, dass sie den Befragten zuerst in den Sinn kommen, wenn sie über muslimische Figuren in Science Fiction nachdenken – insbesondere wenn die Definition eine*r Muslim*in »Person islamischen Glaubens« oder »Angehörige*r des Islam« ist?

Bei allen handelt es sich im Vergleich zu den mehrheitlich westlich geprägten menschlichen Figurenensembles in den Serien um »Fremde«: Die angenommene Religionszugehörigkeit wird hier mit einer von der repräsentierten westlich eurozentristischen Norm abweichenden nahöstlichen oder indischen Herkunft verknüpft. Von dieser Assoziation sind nicht nur praktizierende Muslim*innen betroffen, sondern auch Figuren, die aufgrund ihres physischen Aussehens oder Namens – Bashir, Avasarala und Khan – muslimisch markiert werden, unabhängig davon, ob sie es sind oder sich selbst so bezeichnen würden: Sie werden aber als Muslim*innen gelesen. Werden in der realen Welt diese Assoziationen zusätzlich mit negativen Zuschreibungen versehen, die zur Ausgrenzung und Diskriminierung führen, ist die Rede von antimuslimischem Rassismus, wie es bisweilen Kopftuch tragende Frauen und Arabisch sprechende Menschen mit einem nahöstlichen Migrationshintergrund in den westlichen Ländern erleben.

Screentime vs. Symbolic Annihilation

Khan ist ein faszinierender Gegenspieler, der in zwei Filmen der Antagonist war, und sowohl Bashir als auch Avasarala sind Hauptfiguren in den jeweiligen Serien – sie haben genug Screentime, um sich mit ihrer Diversität im Gedächtnis des Publikums festzusetzen. Auch wenn sie nicht genuin muslimisch erschaffen wurden, geben die beiden Letztgenannten positive Repräsentationen ab – wenn Zuschauer*innen sie muslimisch lesen würden.

Der Grund für die Assoziation der Anfangsfrage mit diesen drei Figuren ist die fehlende Repräsentation von muslimischen Figuren in Mainstream-SF aus dem Westen allgemein. Auch wenn gerade in vielen futuristischen Welten postreligiöse oder säkulare Verhältnisse herrschen, sind muslimisch gelesene Figuren – insbesondere in entscheidenden (Haupt-)Rollen eine Rarität.

In einer Welt, in deren Beschreibung oder visueller Darstellung eine bestimmte Gruppe Menschen – in unserem Beispiel Muslim*innen – nicht vorkommt, liegt der Schluss nahe, dass sie in dieser Welt auch nicht existiert oder sie keine nennenswerte Rolle spielt – zumindest so lange, bis sie explizit thematisiert wird.

Es gibt Welten, in denen das Nichtvorhandensein einer bestimmten Gruppe innerweltlich begründet wird: In vielen Science-Fiction-Settings wird die Abwesenheit von Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen durch einen technologischen Fortschritt erklärt. Oder Ethnien und Nationen wurden durch erdumfassende Kriege und Seuchen ausgelöscht. Doch eine innerweltlich fehlende, kohärente Erklärung für das völlige Fehlen von Repräsentation kann zum Ausdruck bringen, dass bestimmte Personengruppen in dieser Welt schlicht nicht existieren (sollen). Insbesondere in fiktionalen Welten wie Science Fiction ist diese Botschaft besonders bitter: Ihre Schöpfer*innen verfügen über jede kreative Freiheit, allen einen Raum in der Welt zu geben, und nutzen sie nicht.

Für dieses symbolische Auslöschen einer Gruppe Menschen aus dem medialen Bewusstsein hat der Kommunikationswissenschaftler George Gerbner ebenjenen Begriff der »Symbolic Annihilation« geprägt – die Verweigerung einer adäquaten Repräsentation in Medien. Das heißt in unserem Zusammenhang: Findet man in einer Science-Fiction-Welt keine Muslim*innen, erwächst mit großer Wahrscheinlichkeit bei vielen von ihnen beim Konsum solcher Produkte das Gefühl des Nichtdazugehörens und des Nichterwünschtseins.

 

Sayid & Samir – Happily ever after?

Minimale Thematisierungen von Muslim*innen und dem Islam am Rande mögen wie auch 1993 in der ersten Staffel der Serie BABYLON 5, in der im 23. Jahrhundert diverse Religionen der Welt vorgestellt werden und ein Vertreter des Islams mitspielt, in Science-Fiction-Serien vorgekommen sein. Die erste explizit muslimische Figur mit einer tragenden Hauptrolle in einer SF-Serie war jedoch Sayid Hassan Jarrah. Von 2004 bis 2010 spielte damals der britische Schauspieler mit indischem Migrationshintergrund Naveen Andrews in LOST den Iraker Sayid, der einen Flugzeugabsturz auf eine mysteriöse Insel überlebt habt. Sayids Religion bleibt meist im Hintergrund und wird ab und zu eingestreut, wie wenn er die Schahāda – das islamische Glaubensbekenntnis – aufsagt oder den Salāt – das islamische Gebet – praktiziert. Nach dem Tod einer geliebten Person lässt er seine Gebetskette auf ihrem Grabkreuz liegen und in einer Folge besteht er darauf, die Leiche eines muslimischen Freundes den islamischen Bräuchen entsprechend zu begraben. Anfangs von Schicksalsgenoss*innen auf der Insel wegen seines Aussehens als Terrorist oder nur als Araber bezeichnet, gilt er von Anfang an als eine tragende und positiv besetzte Figur. Diese bleibt trotz aller Sympathien alles andere als moralisch unproblematisch, denn Sayid ist auch ein Kindermörder und geläuterter Folterer – aber nichts davon wird mit seiner Religionszugehörigkeit verknüpft.

Eine aktuellere Figur ist Samir Abboud in der 2018 ausgestrahlten ersten Staffel der Serie ALTERED CARBON – DAS UNSTERBLICHKEITSPROGRAMM, der Serienadaptation des Romans von Richard Morgan. Samir wird von dem amerikanischen Schauspieler mit palästinensischer Migrationsgeschichte Waleed Zuaiter verkörpert. Samir ist Polizist im 24. Jahrhundert und der Dienstpartner der Hauptprotagonistin Kristin Ortega beim Bay City Police Department. Er spricht hin und wieder Arabisch, erwähnt Allah und wird von einer Christin, die ihm sehr nahesteht, als eine Person definiert, die an einen anderen Gott glaubt als sie selbst. Ungefähr in der Mitte der ersten Staffel opfert er sein Leben, als er sich schützend zwischen seine Partnerin Ortega und eine tödliche Kugel wirft. Samir existiert nicht im Roman und wurde eigens für die Serie erschaffen, die somit eine weitere Dimension von kultureller und religiöser Diversität erfährt. Die Figur wird durchweg positiv als eine väterliche, milde und behutsame Person dargestellt, verschwindet allerdings zu schnell von der Bildfläche. Sein Tod stellt den gewohnten Status quo der uniformen Gesellschaft ohne den kulturell und religiös fremdempfundenen »Anderen« wieder her. In Anlehnung an die Trope des »Bury Your Gays« – wer sich auf gleichgeschlechtliche Liebe einlässt, nimmt kein gutes Ende – kann hier auch von »Bury Your Muslims« die Rede sein.

Deutschsprachiger Mikrokosmos

Gehen wir vom großen Mainstream zur aktuellen deutschsprachigen Science Fiction, sind muslimische Figuren nicht minder rar gesät. In seinem Near-Future-Hörbuch Neopolis – Die Stadt aus Licht, das dieses Jahr erschien und im Jahre 2048 spielt, bedient sich der Autor Karl Olsberg an Saudi-Arabien als Kulisse und baut einen Thriller um das Thema der Augmented Reality mit der islamischen Mythologie als Kernelement – wobei die Muslim*innen als klischeehafte Randfiguren fungieren. Judith und Christian Vogt vermengen in ihrem 2019 erschienenen Hopepunk-Roman Wasteland, der in einem futuristischen Deutschland nach einer Apokalypse im Jahre 2064 spielt, Redewendungen in diversen Sprachen zum Allgemeingut der Überlebenden, sodass inşallah, Allah-weiß-wohin, (Aman) Allahım und maşallah Teil einer englisch-deutsch-türkisch durchdrungenen, als alltäglich und normal empfundenen neuen Sprache werden. Zudem betet die Protagonistin Laylay zu Allah. Im Rollenspiel Aces in Space, das dieses Jahr von Harald Eckmüller und ebenfalls von den Vögten herausgebracht wurde, gibt es sogar eine mit Kopftuch illustrierte muslimische Archetypin: die Influencerin. Das 2018 ins Deutsche übertragene Rollenspiel Coriolis – Der dritte Horizont baut in seinem Space-Opera-Setting fast ausschließlich auf islamische und nahöstliche Mythologie auf. Dass die Vorfahren aller in der Zukunft überlebenden Menschen aus dem Nahen Osten stammen, spiegelt sich weitestgehend frei von Exotik in jeglicher Form des kulturellen Alltags wieder – von Namensgebung über Kleidung bis zu sozialen Gepflogenheiten.


Appell/Frust/Fazit

Diese Aufzählungen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, mögen optimistisch stimmen, trotzdem sind das nur erste wackelige Schritte in der Repräsentation von Muslim*innen, die im westlichen Mainstream quasi nicht existent ist. Sie bleibt nicht im Gedächtnis haften und glänzt mit einer ausufernden Abwesenheit – so prägt es sich auch ins (pop-)kulturelle Gedächtnis der Rezipient*innen wie auf dem eingangs gezeigten Bild ein: »In der Zukunft gibt es keine Muslim*innen.« Vielleicht ist es ja an der Zeit, in einen der zukünftigen STAR TREK-Ableger einen muslimisch konzipierten Sufi-Vulkanier zu implementieren – schließlich kennt Science Fiction bekanntlich keine Grenzen!

Literatur:

Gerbner, Georg & Larry Gross: »Living with Television: The violence profile«. In: Journal of Communication, 1976. S. 172–199.

Hafez, Farid: »Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie: Worüber sprechen wir?«. In: Uçar, Bülent & Wassilis Kassis (Hrsg.): Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit. V&R unipress: Göttingen, 2019. S. 57–75.

Hulan, Haley: »Burry Your Gays: History, Usage, and Context«. In: McNair Scholars Journal, Vol. 21, No. 1, S. 17–27.

Kanzler, Katja: »›Khan!‹ – Verfremdung und Serialität als Modi politischer Reflexion in Star Trek«. In: Besand, Anja (Hrsg.): Von Game of Thrones bis House of Cards – Politische Perspektiven in Fernsehserien. Springer VS: Wiesbaden, 2018. S. 71–85.

Merz, Sibille: »Islam«. In: Arndt, Susan & Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.): (K)erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache – Ein kritisches Nachschlagewerk. Unrast: Münster, 2015. S. 365–377.

Reeves-Stevens, Garfield & Judith Reeves-Stevens: Star Trek, Deep Space Nine – Die Realisierung einer Idee. Heyne: München, 1996.

Reiss, Frank: »Wofür wir eine bessere Repräsentation von Vielfalt im Pen & Paper-Rollenspiel brauchen«. In: Vogt, Judith, Frank Reiss & Aşkın-Hayat Doğan (Hrsg.): Roll Inclusive – Diversität und Repräsentation im Rollenspiel. Feder & Schwert: Köln, 2019. S. 9–29.

Judith C. Vogt

Die drei Geschlechter: Männer, Frauen und Aliens

Nichtbinäre Geschlechter in der Science Fiction

Ihr kennt es vielleicht auch: Das witzige Toilettentürschild mit dem Strichmännchen in Hose, dem Strichmännchen im Kleid und dem Alien. Vielleicht noch versehen mit einem: »Egal, Hauptsache, du wäschst dir die Hände«. Auf den ersten Blick gibt es natürlich nichts daran auszusetzen, die Aussage ist sonnenklar. Und dennoch steht dieses Kloschild sinnbildlich für eine Weltordnung, in der Menschen in genau zwei Geschlechterschubladen gesteckt werden und alle Abweichung als fremd oder gar unnatürlich markiert wird. Diese Weltordnung zeigt sich, wie alle Elemente unserer Gegenwart, auch in der Science Fiction. Doch so, wie Geschlechterrollen und -identitäten diskutiert, in neue Worte gefasst und aus anderen Blickwinkeln betrachtet werden, ist »Gender« auch in der Science Fiction im Wandel und auf dem Weg zu einer neuen, menschlicheren Repräsentation einer auch in dieser Hinsicht vielfältigen Gesellschaft. Damit hat Science Fiction, wenn sie es richtig macht, vielleicht literarisch eine ungeahnte Bandbreite an Möglichkeiten, die nur darauf wartet, genutzt zu werden.

Schubladen fürs Denken

Die obersten Kategorien für Menschen sind »männlich« und »weiblich«. Das ist als vermeintlich neutraler Fakt in unseren Köpfen verankert, und beim Entwerfen einer Romanfigur stellt sich Schreibenden zuallererst die Frage: Ist meine Figur weiblich oder männlich? Unsere Gesellschaft sagt uns seit Tausenden von Jahren, dass das die beiden möglichen Kategorien sind. Alles darüber hinaus, selbst wenn es soziologisch, biologisch und psychologisch unterfüttert wird, macht vielen von uns schlichtweg in seiner Komplexität Angst. Und nicht nur das: Das Konstrukt von einem fundamentalen und augenscheinlichen Unterschied zwischen den beiden als einzig »gültig« angesehenen Geschlechtern ist ein Narrativ, das dazu dient, eine der einfachsten Hierarchien in unserer Gesellschaft und unserer Geschichte zu zementieren. Wenn es zwei Geschlechter gibt und diese fundamental und angeboren verschieden sind, müssen sich auch ihre Aufgaben in der Gesellschaft klar unterscheiden. Die einen bekommen die Kinder, die anderen bekämpfen den Säbelzahntiger, so lautet die Geschichte, die wir uns erzählen. Bestrebungen, etwas anderes als das sichtbar zu machen, bedrohen diese Erzählung. Sie erschweren es, eine Machtposition aufrechtzuerhalten und auszuüben.

Diese Geschichte versucht in all ihren Aspekten, sich auf vermeintliche Natürlichkeit zu stützen. Wer hat welche Chromosomen? Wer hat welche Reproduktionsorgane? Eine Einteilung in männlich und weiblich – so wird uns gesagt – ist der natürliche Urzustand. Auf dieser Basis ziehen wir gefährliche Schlüsse: Diesen Status quo infrage zu stellen, ist ein Aufbegehren gegen die menschliche Natur. Es ist künstlich, unnatürlich, vielleicht sogar ein »Hype«. Aber was, wenn dieser Status quo gar nicht der natürliche Urzustand ist, sondern einfach nur eine besonders erfolgreiche Erzählung?

Es ist uns als Mitteleuropäer*innen mit unserem Weltbild, unserer Geschichte, unserer Kultur und Gesellschaft fremd, sprachlich wie gesellschaftlich, uns gedanklich von den beiden Oberkategorien zu entfernen, neue Schubladen dazuzuschrauben oder die Schubladen zu durchlässigen und ineinander übergehenden Körben zu verflechten. Es ist eine kreative Leistung, nach all diesen Jahren, Jahrhunderten, Jahrtausenden, in denen Geschlecht binär gedacht wurde, diese Gedanken zu erweitern. Es ist beinahe schon Science Fiction.

Und genau diese Science Fiction gibt uns die Möglichkeit, uns über das Fiktive, das ganz Fremde – Aliens, KIs, Roboter – einer Vielfalt der Geschlechtsidentitäten anzunähern. Aber danach müssen wir einen weiteren Schritt unternehmen: Nichtbinäre Geschlechter, Genderfluidität, Ungeschlechtlichkeit, das große Spektrum jenseits und zwischen männlich und weiblich, muss von Aliens, KIs, Robotern wieder zu menschlichen Figuren finden. Zu Hauptfiguren am besten. Und von dort aus in unsere Sprache und unsere Realität. Denn dort gibt es uns längst.

Doing Gender

Geschlecht ist eine komplexe Sache, und im Rahmen dieses Essays kann ich nur einen kurzen Exkurs in die Thematik unternehmen. In unserem mitteleuropäischen Sozialgefüge hat sich seit Jahrtausenden die binäre Teilung in zwei Geschlechter etabliert. Die erste Aussage, die über uns getroffen wird, während wir noch um unseren ersten Atemzug ringen, ordnet uns nach sichtbaren Geschlechtsorganen in Mädchen und Jungs. Würde daraus keine weitere gesellschaftliche Zuordnung entstehen, wäre eine Aussage über die mutmaßliche zukünftige Variante der Reproduktionsfähigkeit vermutlich halbwegs unproblematisch. Aber die Hierarchie zwischen Mann und Frau ist nach wie vor im Gesellschaftlichen, Alltäglichen, Politischen, in der Kunst und allen anderen Bereichen wirkmächtig. Aus dieser ersten Aussage wird Aussage um Aussage geschlussfolgert – zu allen möglichen Formen von Befähigung und Beteiligung.

Es gibt und gab immer schon Länder, Kulturen, Regionen und Gesellschaften, die weitere Geschlechter und Geschlechtsidentitäten kennen, mehr Fluidität zulassen oder andere Positionen auf den Breitengraden zwischen den Polen »männlich« und »weiblich« benennen. Viele Kulturen weisen trans Frauen eine dritte Geschlechterkategorie zu (beispielsweise in Nepal, im Oman und auf den Philippinen). Manche Bezeichnungen beziehen sich auf angeborene Geschlechtsidentität, andere auf zugewiesene Geschlechterrollen, wenn beispielsweise eine Frau das verstorbene männliche Familienoberhaupt ersetzen soll oder als einziger »Sohn« großgezogen wird (z. B. in Afghanistan und Albanien).

Aber die mitteleuropäische Kultur, ihr binäres Weltbild und die damit verbundene Hierarchie sowie die als »natürlich« und angeboren angenommenen Unterschiede in der Wesensart sind dank Kulturimperialismus und Kolonialismus in die ganze Welt exportiert worden, und so sehen wir weltweit auch in der Fiktion vor allen Dingen Frauen und Männer als Hauptfiguren in Geschichten. Hinweise auf die Existenz von trans Menschen und genderqueeren Menschen, also Menschen, deren Geschlecht nicht mit dem übereinstimmt, was ihnen bei der Geburt anhand eines Blicks auf ihre Geschlechtsorgane zugewiesen wurde, gibt es natürlich durch die ganze aufgezeichnete Geschichte hindurch.

 

Die Wissenschaft fing im 19. Jahrhundert an, sich mit queerer Sexualität zu befassen, und stieß früh darauf, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität verschiedene Paar Schuhe sind, die eine ungeahnte Vielfalt an Kombinationen zulassen. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts hat Magnus Hirschfeld umfassend zu Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und von ihm so genannten »Geschlechtscharakteren« geforscht – Merkmalen, die queere oder hetero Sexualität, queeres oder cis-Gender ausmachen. Die Forschungen des jüdischen, homosexuellen Wissenschaftlers wurden zwei Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstört. Damit wurden Jahrzehnte der intensiven, internationalen Forschung an queerer Sexualität und Trans*geschlechtlichkeit wieder ausradiert. Jahrzehntelang ging es jetzt wieder darum zu beweisen, dass zur menschlichen Varianz und Vielfalt gehört, dass nicht alle Menschen mit dem Geschlecht, das ihnen zugeordnet wurde, korrekt beschrieben werden.

Immer noch obskur

Nach wie vor ist vielen Menschen die Vorstellung von Geschlecht und Identität außerhalb der »Gender-Binarys« nicht geheuer. Die Einführung eines diversen, auch »dritte Option« genannten Geschlechtseintrags wurde 2018 in Deutschland beschlossen. Leider bedeutet er bislang alles andere als eine rechtliche Gleichstellung oder gar die selbstbestimmte Definition des eigenen Geschlechts. Es gibt ihn vor allen Dingen, damit Eltern sich bei inter* Kindern nicht sofort nach der Geburt für ein binäres Geschlecht entscheiden müssen, wie es vor der Gesetzesänderung der Fall war. Es geht also explizit nicht darum, Menschen mehr Vielfalt zuzugestehen, als an ihren Geschlechtsorganen zu erkennen ist. Und in den Köpfen angekommen ist das sogenannte »dritte Geschlecht« (das es ja zudem wegen der Vielfältigkeit und des Spektrums menschlicher Geschlechter gar nicht als abschließende Zahl geben kann) nicht. Wie auch? Das gesellschaftliche Narrativ hat unsere Sprache und unser Leben um Zweigeschlechtlichkeit herum organisiert: Öffentliche Toiletten, Kleidung, Spielzeug, Konsumartikel in allen Varianten – sogar die Farbe der Scheren, mit denen die Nabelschnur eines Säugling in manchen Geburtszimmern durchtrennt werden, sind binär aufgeteilt.

Darüber, was diese Einteilung mit uns macht, welche einem Geschlecht zugewiesenen Eigenschaften wir höher schätzen und wie wir Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichstellen können, wird an vielen Stellen geredet, innerhalb und außerhalb feministischer Kontexte. Doch diese Diskussionen können nur dann zu tatsächlicher Gerechtigkeit führen, wenn sie auch die bislang unsichtbaren, an den Rand gedrängten Geschlechter mitdenken, mitmeinen und mit aussprechen. Selbst Feminist*innen beäugen jedoch die, die bislang kaum irgendwo dazugehören, misstrauisch. Die SF-Rollenspielautorin Avery Alder nennt das Zugehörigkeitsgefühl, das sich aus einer solchen gesamtgesellschaftlichen Unsichtbarkeit entwickelt, »Belonging outside belonging« (»zu etwas gehören, was nirgendwohin gehört«).

Und wegen dieses An-den-Rand-Drängens von nichtbinären Menschen führt auch der Weg ihrer Repräsentation in der Science-Fiction-Literatur über das »Andere«, das »Outside Belonging«.

Das Nichtbinäre als das Fremde

Fantasy und Science Fiction können Wegbereiter für Realitäten sein, die von unserem Status quo abweichen, der die Existenz von nichtbinären Geschlechtern zumeist leugnet, wo immer es geht. In welchem anderen Genre ist es möglich, Geschlecht anders zu definieren und neue Varianten des Zusammenlebens zu finden, die nicht auf einer binären Einteilung in zwei Geschlechter beruhen, die zugleich zwei gesellschaftliche Klassen etabliert haben?

Doch der erste Schritt in Richtung einer Gesellschaft, die mehr als zwei Geschlechter kennt, scheint einen Schlenker über das Fremde und Nichtmenschliche zu erfordern. Nichtbinäre Figuren existieren – jedoch neben menschlichen Männern und Frauen; als KIs, Aliens und Roboter. Beispielsweise die genderfluiden Aandrisk in Becky Chambers’ WAYFARER-Saga durchlaufen, ähnlich wie die (generisch männlich beschriebenen) Gethenianer in Le Guins Die linke Hand der Dunkelheit, andere geschlechtliche Zyklen und bewegen sich auf einem Spektrum zwischen männlich und weiblich.

Die Pflanzenspezies der Floryll in Bernd Perplies’ Am Abgrund der Unendlichkeit sind zweigeschlechtlich, sodass Perplies ein Neopronomen aus den deutschen Pronomen zusammengesetzt hat.

Breq, die Perspektivfigur aus Ann Leckies Die Maschinen, erzählt im generischen Femininum. Breq selbst, eine Schwarm-KI, die durch unglückliche Umstände in einem einzigen Körper gelandet ist, ist jedoch nicht weiblich. Auch »Murderbot« aus Martha Wells Tagebuch eines Killerbots ist ungeschlechtlich und stellt generell menschliche Kategorien infrage. (Im Roman tauchen aber auch menschliche nichtbinäre Nebenfiguren auf!)

Octavia Butler hat in ihrer LILITH’S BROOD-Trilogie bereits in den 1980ern einen Wandel zu einer nichtbinären Erzählperspektive vorgenommen, wenn sie auch das Außerirdische als Katalysator dafür nutzt: Lilith, die Hauptperson des ersten Bands, lernt die drei Geschlechter der außerirdischen Oankali kennen, und ihr Sohn, der Protagonist des dritten Bandes Imago, transformiert dank außerirdischer Gene zum Ooloi genannten dritten Geschlecht und bietet somit eine menschliche Identifikationsfigur auf dem Weg zu einer neuen Identität.

Viele nichtbinäre Menschen kennen einen solchen Weg: Es fehlten lange das Vokabular und der gesellschaftliche Platz, um das gespürte Nichtdazugehören in Worte zu fassen und zu begreifen. Doch einen eigenen Platz zu behaupten ist oftmals lebenslange Arbeit, und dabei hilft es natürlich nur begrenzt, auf fiktive Aliens, Roboter und Menschen mit Aliengenen deuten zu können.

Nichtbinär als menschliche Identität

Ich kann nachvollziehen, dass etwas, das in unserer Gesellschaft sehr lange nicht akzeptiert und daher als nicht existent markiert wurde, den Umweg über das Erfundene, das Fremde gehen muss, bevor es vertrauter wird. Doch diese Übertragung von »Belonging outside belonging« auf Außerirdische und KIs ist nur als erster Schritt hilfreich. Während im Englischen sogar schon bei Shakespeare das Singular-»they« zur Beschreibung eines geschlechtlich nicht definierten Charakters genutzt wird, gibt es in der deutschen Sprache keine Pronomen für nichtbinäre Geschlechter – »es« empfinden die meisten Menschen durch die Versachlichung als abwertend. Viele nichtbinäre Menschen nutzen Neo-Pronomen, wie z. B. xier oder sier. Dass diese Neo-Pronomen akzeptiert und in der Alltagssprache verwendet werden, ist jedoch noch Science Fiction. An Neo-Pronomen entzünden sich immer wieder auch in der Verlagswelt Diskussionen, die letztlich genau auf die oben erwähnte Nicht-Akzeptanz und unterstellte Nicht-Existenz herauslaufen. Meine erste Begegnung mit Neo-Pronomen fand in der Science Fiction statt: Ein nur auf wenigen Seiten vorkommender Nebencharakter in Chuck Wendigs STAR WARS-Trilogie NACHSPIEL nutzt im englischen Original das Neo-Pronomen »zhe«. In der deutschen Übersetzung wird der Charakter – vermutlich der viel beschworenen »Lesbarkeit« geschuldet – weiblich gegendert, und das ist symptomatisch.

Die Ablehnung von Neo-Pronomen in der Prosa, in journalistischen Texten und generell im Schriftdeutsch hat noch eine weitere Kehrseite: Dadurch, dass wir sie nur sehr selten lesen, fühlen sie sich (noch) wie Fremdkörper in der Sprache an und markieren damit in fiktiven Texten Figuren als »anders«, als Abweichler*in, oft genug sogar als Nicht-Mensch. Sie sagen letztlich meist: »Sieh, wie fremd diese Kultur/Alien-Spezies ist, sie hat mehr als zwei Geschlechter!«