Das Science Fiction Jahr 2020

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Bernhard Kempen

Transgender Translation

Geschlechtsidentitäten als Übersetzungsproblem in der Science Fiction

Manchmal ist es schon erstaunlich, wie sich persönliche und berufliche Themen miteinander verstricken, selbst wenn man wie ich »einfach nur« Science Fiction schreibt und übersetzt. Die persönliche Sache ist die, dass vor einigen Jahren eine ganz besondere Frau in mein Leben getreten ist. Nun gut, so etwas passiert auch anderen Männern, aber das Besondere in meinem Fall ist, dass ich selbst diese Frau bin. Ja, manchmal bin ich nicht Bernhard Kempen, sondern Barbara, einfach nur Barbara. Meine Persönlichkeit hat auch eine weibliche Seite, die ich auf Partys, auf der Bühne und gelegentlich auch im Alltag auslebe.

Anfangs habe ich darauf geachtet, meine Transidentität von meiner Arbeit auf dem Gebiet der Science Fiction zu trennen, weil ich fand, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Doch dann drehte der brasilianische Videokünstler Antoine Golay alias Guerreiro do Divino Amor im Jahr 2013 mit mir den Kurzfilm Ich bin dann mal Barbara, der auf vielen Transgender-Filmfestivals gezeigt wurde. Wie der Titel andeutet, geht es darin um meine Transidentität, doch Antoine hat sich bei der Vorbereitung auch sehr für meine Arbeit interessiert. Als ich zu ihm meinte, Science Fiction sei doch ein ganz anderes Thema, hat er mir entschieden widersprochen. Erst da wurde mir bewusst, dass es bei den Themen Transgender und Bisexualität ähnlich wie in der Science Fiction um neuartige Perspektiven und die Überschreitung menschlicher Normen geht. Zumindest waren diese Erfahrungen für mich ein Vorstoß in mir bislang völlig unbekannte Regionen.

Außerdem ist mir irgendwann aufgefallen, dass sich unter den über 150 Science-Fiction-Romanen, die ich übersetzt habe, relativ viele Titel finden, in denen die Themen Gender und Transgender eine Rolle spielen – nicht nur inhaltlich, sondern auch übersetzungstechnisch. Das scheint tatsächlich ein seltsamer Zufall zu sein, denn eigentlich spielen solche inhaltlichen Details keine besondere Rolle, wenn Verlage Übersetzungsaufträge vergeben. Und ich glaube, die meisten Redakteure wissen auch gar nicht, dass ich in diesem Punkt sozusagen vorbelastet bin.

Im Folgenden werde ich etwas genauer auf ein paar Beispiele aus meiner Übersetzungspraxis eingehen.

Eine Figur, mit der ich mich durchaus ein wenig identifizieren konnte, war Burgoyne 172, ein Besatzungsmitglied des Raumschiffs Excalibur unter dem Kommando von Captain Calhoun. Diese STAR TREK-Crew wurde von Peter David für seine Romanserie DIE NEUE GRENZE (STAR TREK – NEW FRONTIER, ab 1997) erfunden. Burgoyne 172 ist ein Hermat, wie der Name bereits andeutet, eine hermaphroditische Alien-Spezies. Dieses Zwitterwesen hat unter anderem eine Affäre mit einem männlichen Menschen. Später bekommt eine Vulkanierin ein Kind von Burgoyne.

Für diese Person verwendet David die Personalpronomen »s/he« und »hir«, die bereits zuvor von anderen englischsprachigen Autoren benutzt wurden. Da sich im Deutschen nicht so elegante Mischformen bilden lassen, habe ich lediglich den Schrägstrich als Prinzip übernommen, also »er/sie«, »ihm/ihr« und »seine/ihre«. Vielleicht stolpert man beim Lesen über diese etwas sperrigen Formen, aber diese/r Burgoyne 172 ist schließlich auch ein besonderer Fall.

Inzwischen gibt es verschiedene Vorschläge für inkludierende deutsche Pronomen, zum Beispiel »sier« oder »sif«, doch vor zwanzig Jahren musste ich mir noch selbst etwas ausdenken.

Mit einer ganz anderen Situation hatte ich es zu tun, als ich den Roman Qual (Distress, 1995) von Greg Egan ins Deutsche übertrug. Darin beschreibt der Autor eine zukünftige menschliche Gesellschaft, in der es nicht zwei, sondern sieben Geschlechter gibt. Männer und Frauen treten in jeweils drei unterschiedlich ausgeprägten Variationen auf, und das siebte Geschlecht sind die Asexuellen, die außerhalb des binären Genderspektrums stehen und im Extremfall überhaupt keine Geschlechtsmerkmale aufweisen. (Egan meint damit also etwas anderes als tatsächlich existierende Asexuelle, die zwar eindeutig männlich oder weiblich sind, sich aber dadurch definieren, dass sie kein Interesse an Sex haben.) Im Roman gibt es übrigens auch eine sehr erotische Sexszene mit einer solchen asexuellen Person, die Egan wirklich gut umgesetzt hat, auch wenn es zunächst etwas widersinnig klingen mag.

Für dieses Geschlecht benutzt Egan die Pronomen »ve«, »ver« und »vis«, was auf einen Vorschlag der Autorin Keri Hulme für gendergerechtes Englisch aus dem Jahr 1980 zurückgeht. Nach einiger Überlegung habe ich das mit den Formen »hie« und »hein« wiedergegeben. Ich hatte damals so etwas wie eine Mischung aus »he« und »sie« im Sinn, aber vielleicht klingt es letztlich doch noch etwas zu »männlich«, vor allem die Endung des possessiven »hein«.

Auch sonst hat Egan immer wieder recht queere Sachen in seine Romane eingebaut. In Teranesia (Teranesia, 1999) wird nebenbei erwähnt, dass der männliche Protagonist in einer Beziehung lebt, aber erst in der Mitte des Romans kommt er tatsächlich nach Hause, und während des folgenden Gesprächs wird plötzlich klar, dass er mit einem Mann liiert ist. Und das wird gar nicht weiter thematisiert oder gar problematisiert. Er ist einfach nur schwul, okay, und eigentlich geht es in dem Buch auch um ganz andere Themen. Ich fand es sehr angenehm, wie selbstverständlich Egan die Homosexualität dargestellt hat – und so sollte es ja eigentlich auch sein.

Ian McDonalds Roman Cyberabad (River of Gods, 2004) spielt in Indien im Jahr 2047, als dort das hundertjährige Unabhängigkeitsjubiläum gefeiert wird. Auch in dieser spannenden und komplexen Geschichte gibt es ein zusätzliches Geschlecht, die »nutes«, was ich mit »Neuts« wiedergegeben habe. McDonald benutzt für sie die Pronomen »yt« und »yts«, woraus ich »ys« und »sys« gemacht habe.

Diese Neuts sind zwar geschlechtslos im herkömmlichen Sinne, aber keineswegs asexuell. Wie das funktioniert, veranschaulicht folgende Szene, in der die Neuts Thal und Tranh ein Taxi besteigen und sich näherkommen:

Auf der Rückbank des ruckelnden Phatphat lässt Thal sys Unterarm, die weiche Haut der Innenseite nach oben, auf Tranhs Schenkel fallen. Ein kurzes Zögern, dann streicheln Tranhs Finger über die empfindsame, haarlose Haut, suchen die verborgenen Knospen des Hormonkontrollsystems unter der Haut und klopfen zart den Erregungskode. Unmittelbar darauf spürt Thal, wie sys Herzschlag zulegt, wie sys Atem stockt, wie sys Gesicht errötet. Sex lässt sys Körper schwingen wie eine angeschlagene Sitar, jeder Akkord und jedes Organ klingen harmonisch zusammen. Tranh bietet Thal sys Arm an. Ys spielt mit den subdermalen Empfängern, winzig und empfindlich wie Gänsehaut. Ys spürt, wie Tranh erstarrt, als der Hormonschub kommt. Sie sitzen Seite an Seite im schaukelnden Taxi, ohne sich zu berühren, doch sie zittern vor Lust, unfähig zu sprechen. (Ian McDonald, Cyberabad, S. 93 f.)

Mit wieder ganz anderen Problemen hatte ich zu tun, als ich die IMPERIAL RADCH-Trilogie von Ann Leckie übersetzt habe, bestehend aus den Bänden Die Maschinen (Ancillary Justice, 2013), Die Mission (Ancillary Sword, 2014) und Das Imperium (Ancillary Mercy, 2015). Die Ich-Erzählerin Breq entstammt einer Kultur, in der geschlechtliche Unterschiede so gut wie keine Rolle spielen. Ihre Muttersprache, das Radchaai, kennt überhaupt keine Genus-Markierungen, was die Autorin zum Anlass genommen hat, im englischen Original als generische Form ausschließlich weibliche Pronomen zu verwenden, auch wenn von männlichen Personen die Rede ist.

Nach den ersten paar Seiten wurde mir schnell klar, dass ich vor einer schwierigen Entscheidung stand. Zum Beispiel wird für Lieutenant Awn durchgängig das Pronomen »she« verwendet, was sich natürlich problemlos mit »sie« übersetzen lässt. Aber was mache ich, wenn von »the lieutenant« die Rede ist? Damit es zum weiblichen Pronomen passt, muss ich konsequenterweise von »der Leutnantin« sprechen. Und aus einem »visitor« oder »friend« werden unweigerlich eine »Besucherin« und eine »Freundin«. Die »Verweiblichung« geht im Deutschen also weit über das hinaus, was die Autorin im Sinn hatte – bis hin zu »Sklavinnenhändlerinnen«.

Damit ist meine Übersetzung dieses Romans, soweit ich feststellen konnte, der erste deutschsprachige literarische Text, der konsequent im generischen Femininum geschrieben ist. Es handelt sich also um eine Umkehrung des »üblichen« generischen Maskulinums: Wenn von »Ärzten« die Rede ist, sind selbstverständlich auch die »Ärztinnen« eingeschlossen – ein sprachwissenschaftlicher Ansatz, der von feministischer Seite stark kritisiert wird. Anfangs irritiert es ein wenig, dass alle Figuren des Romans weiblich markiert sind, auch wenn offensichtlich einige von ihnen männlichen Geschlechts sind. Doch während der Lektüre gewöhnt man sich sehr schnell daran, wie mir einige Leserinnen (und Leser) des Romans bestätigt haben. Ein interessantes Experiment, das veranschaulicht, wie es sich anfühlen muss, einfach nur »mitgemeint« zu sein, ohne direkt angesprochen zu werden.

Nachdem ich den Roman Das Syndrom (Lock In, 2015) von John Scalzi bereits fertig übersetzt hatte, kam die Frage auf, ob ich berücksichtigt hätte, dass der Autor seine Hauptfigur Chris Shane geschlechtsneutral beschrieben hat. Meine erste Reaktion war ein leichtes Zusammenzucken, denn ich muss zugeben, dass mir das während der Arbeit tatsächlich nicht bewusst geworden war. Scalzi selbst hat diesen Umstand erst etwas später offenbart, und auch viele andere Leser und sogar Rezensenten der Originalfassung hatten es zunächst nicht bemerkt. Die öffentliche Wahrnehmung änderte sich erst, als das englischsprachige Hörbuch herauskam, das in zwei Versionen erhältlich ist: entweder mit einer männlichen oder einer weiblichen Erzählerstimme (gesprochen von Will Wheaton bzw. Amber Benson).

 

Wenn man die gedruckte Fassung liest, fällt diese Besonderheit anfangs wirklich nicht auf, da der Roman als Ich-Erzählung angelegt ist, was bedeutet, dass geschlechtlich markierte Pronomen nur dann ins Spiel kommen würden, wenn andere Personen über Chris sprechen. Doch dieses Problem hat Scalzi geschickt vermieden, indem Chris konsequent beim Namen ge nannt wird, statt mit »he« oder »she« tituliert zu werden.

Allerdings erinnere ich mich, dass ich während der Übersetzung kurz gestutzt habe, als Chris beim FBI anfängt und erstmals mit Agent Leslie Vann zusammenarbeitet. (Ein gutes Beispiel für die Problematik: An diesem letzten Satz habe ich lange gefeilt, um ihn geschlechtsneutral zu formulieren.) Vann ist eindeutig weiblich und somit Chris’ Partnerin. Doch dann spricht Vann über Chris als »my partner«. Und in diesem Moment musste ich mich entscheiden, ob ich das mit »mein Partner« oder »meine Partnerin« wiedergebe.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon ein paar Seiten des Romans übersetzt, und irgendwie stand für mich außer Frage, dass die Geschichte von einem Mann erzählt wird. Leslie Vann ist eine der typischen starken Frauenfiguren, wie Scalzi sie häufiger beschreibt, und Chris Shane ist für mich ganz klar eine der typischen sensiblen männlichen Figuren aus Scalzis Rollenrepertoire. Chris hat auch nichts Trans- oder Intersexuelles an sich, wenn man davon absieht, dass er als jemand mit dem Lock-In-Syndrom einen Roboterkörper fernsteuert, dem jegliche Geschlechtsmerkmale fehlen. Also kam Scalzi auf die Idee, diese Frage einfach mal offen zu lassen.

Eine interessante Idee – nur dass sie sich auf Deutsch nicht so einfach umsetzen lässt. Das Ganze erinnert an ein viel allgemeineres Problem, das bei der Übersetzungsarbeit häufiger vorkommt. Da taucht irgendwann ein »assistant« auf, und erst ein paar Seiten später wird klar, dass es kein »Assistent«, sondern eine »Assistentin« ist – oder umgekehrt. Okay, also noch mal zurück und alle Nomen und Pronomen ändern! Und wenn das Geschlecht im englischen Original unklar bleibt, muss ich mich in der deutschen Fassung dennoch irgendwie festlegen.

In der Fortsetzung Frontal (Head On, 2018) tritt eine Nebenfigur auf, die von Scalzi ebenfalls nicht gegendert wird. In diesem Fall habe ich versucht, meinen Fauxpas gewissermaßen »wiedergutzumachen« und auch im Deutschen auf eine geschlechtliche Zuordnung zu verzichten. An einigen Stellen war es recht knifflig, aber dann hat es doch ganz gut funktioniert, zumal die Figur nur zwei oder drei recht kurze Auftritte hat.

Als ich eine Weile später mit der Arbeit an John Scalzis dreibändiger Space-Opera DAS IMPERIUM DER STRÖME (THE INTERDEPENDENCY, 2017–20) begann, kam aus der Redaktion der Vorschlag, ich solle den Titel »Emperox« mit »Imperatrix« übersetzen. Worauf ich zu bedenken gab, dass das »-ox« im Englischen gelegentlich als geschlechtsneutrale Endung benutzt wird und von Scalzi auch so gemeint ist. Also einigten wir uns auf die unbestimmte Form »Imperatox«. Klingt erst mal gut, wenn man nicht mehr zwischen »Imperator« und »Imperatorin« unterscheiden muss. Doch im Roman geht es darum, dass nach dem Tod von Attavio VI. nun seine Tochter Grayland II. den imperialen Thron besteigt. Auf Deutsch lässt es sich nur so ausdrücken, dass der Vater »der« ehemalige Imperatox ist und Grayland nun »die« aktuelle Imperatox. Im Plural klappt es noch recht gut, wenn allgemein von »Imperatoxen« die Rede ist, aber was ist, wenn es zum Beispiel um die Befugnisse eines oder einer Imperatox geht?

Der Knackpunkt, der bei Vorschlägen für eine geschlechtsneutrale Sprache häufig übersehen wird, ist, dass ein Substantiv im Deutschen einen geschlechtlich markierten Artikel braucht. Konsequenterweise müsste man also auch einen weiteren Artikel einführen, der neben »der«, »die« und »das« ein unbestimmtes Geschlecht bezeichnet. Mit bloßen Substantivformen wie »ImperatorIn«, »Imperator*in« oder »Imperatox« ist das Problem noch nicht gelöst.

In den genannten Beispielen finden sich sehr unterschiedliche sprachliche Ansätze, mit Geschlechtsidentitäten umzugehen, aber man sollte dabei nicht übersehen, dass auch sehr unterschiedliche Dinge beschrieben werden. Zunächst müsste genau definiert werden, was gemeint ist, wenn man sich jenseits von »er« oder »sie« bewegt. Eine gendergerechte Sprache kann versuchen, männliche und weibliche Formen gleichwertig nebeneinanderzustellen, aber man kann auch neutrale Formen benutzen, die beide Geschlechter meinen. Redet man also von »Studentinnen und Studenten« oder von »Studierenden«? Und was macht man mit Personen, die sich nicht in das binäre Männlich-Weiblich-Schema einordnen lassen? Betont man, dass sie beides sind, wie im Fall von Hermaphroditen, oder keins von beiden, wie bei geschlechtslosen Asexuellen, oder etwas ganz anderes, also ein tatsächliches »drittes« Geschlecht? Im Grunde müsste man für alle diese Möglichkeiten eigene Pronomen erfinden. Formen wie »sier« oder »er/sie« passen nicht auf McDonalds Neuts, da sie eben nicht männlich und/oder weiblich sind, während Burgoyne 172 sich niemals als »yt« bezeichnen würde, da er/sie in sexueller Hinsicht alles andere als ein Neutrum ist.

Ich persönlich gehe damit übrigens recht entspannt um. Wenn ich dann mal Barbara bin, bemühen sich die meisten Leute, mich korrekt anzusprechen, aber hin und wieder rutscht ihnen doch mal ein »Bernhard« oder ein »er« heraus. Vielleicht weil sie mich ursprünglich so kennengelernt haben, oder weil sie in diesem Moment eher meine männliche Seite wahrnehmen. Andererseits haben sich einige meiner Freunde und Freundinnen angewöhnt, mich fast immer »Barbara« oder »Babsi« zu nennen, auch wenn ich gerade männlich konnotierte Kleidung trage. Ich selbst weiß manchmal nicht so genau, wie ich mich gerade fühle, also kann ich wohl kaum erwarten, von anderen Personen stets korrekt gegendert zu werden. Ich finde es eher interessant zu beobachten, wie ich in bestimmten Momenten auf meine Mitmenschen wirke. – Das ist allerdings, wie gesagt, meine ganz persönliche Einstellung. Andere Transmenschen, die vielleicht einen völlig anderen Hintergrund haben als ich, sehen das eventuell auch völlig anders.

Die Science Fiction hat viel zur Genderdebatte beigetragen und bereits sehr unterschiedliche Möglichkeiten durchdekliniert. Konkrete Prognosen sind naturgemäß schwierig, da sich heute noch gar nicht abschätzen lässt, auf welche Weise die Biotechnologie das Geschlechterspektrum verändern oder erweitern könnte und welche gesellschaftlichen und sprachlichen Folgen sich daraus ergeben würden. Der Idealfall wäre ohnehin eine Utopie, in der physische oder psychische Geschlechtsmerkmale gar keinen Einfluss mehr auf die Art des zwischenmenschlichen Umgangs miteinander hätten.

Quellen

Ich bin dann mal Barbara (D/CH/BR 2013), Kurzfilm, 13 min., Regie: Antoine Guerreiro do Divino Amor, https://vimeo.com/83859734

Peter David, Captain Calhoun. Die neue Grenze 1 (München: Heyne, 2000); Nachdruck: Kartenhaus (Ludwigsburg: Cross-Cult, 2011) [Star Trek – New Frontier: House of Cards & Into the Void, 1997]

Greg Egan, Qual (München: Heyne, 1999) [Distress, 1995]

Greg Egan, Teranesia (München: Heyne, 2001) [Teranesia, 1999]

Ann Leckie, Die Maschinen (München: Heyne, 2015) [Ancillary Justice, 2013]

Ann Leckie, Die Mission (München: Heyne, 2016) [Ancillary Sword, 2014]

Ann Leckie, Das Imperium (München: Heyne, 2017) [Ancillary Mercy, 2015]

Ian McDonald, Cyberabad (München: Heyne, 2012) [River of Gods, 2004]

John Scalzi, Das Syndrom (München: Heyne, 2015) [Lock In, 2015]

John Scalzi, Frontal (Frankfurt am Main: Fischer Tor, 2018) [Head On, 2018]

John Scalzi, Kollaps – Das Imperium der Ströme 1 (Frankfurt am Main: Fischer Tor, 2017) [The Collapsing Empire, 2017]

John Scalzi, Verrat – Das Imperium der Ströme 2 (Frankfurt am Main: Fischer Tor, 2019) [The Consuming Fire, 2019]

John Scalzi, Das Imperium der Ströme 3 (im Erscheinen) [The Last Emperox, 2020]

Kai U. Jürgens

»Ich könnte diese vage, verschwommene Stadt verlassen …«

Zum 40. Geburtstag der Übersetzung von Samuel R. Delanys Roman Dhalgren

Mein Leben hier ähnelt mehr und mehr einem Buch,

dessen Anfangskapitel, ja auch dessen Titel Rätsel

beinhalten, die erst am Ende enthüllt werden.

Dhalgren, S. 956[1]

1

Jede Literatur hat ihre Großromane: Bücher, die bereits dem Umfang nach Herausforderungen darstellen und mit dem respektgebietenden Nimbus versehen sind, ihre Themen auf innovative, komplexe und bisweilen schwer verständliche Weise abzuhandeln. Mitunter geht von diesen erratisch wirkenden Ungetümen eine erstaunliche Aura aus, die sie nicht nur zu erfolgreichen »Longsellern«, sondern auch zu Kultbüchern macht. Ulysses (1922) von James Joyce wäre so ein Fall oder Zettel’s Traum (1970) von Arno Schmidt; ein Zehnkiloobjekt, das seinen Ruf als Überbuch in immer neuen Auflagen (und zwei Raubdrucken) verteidigt.

Im Bereich der Science Fiction kommt dieser Status Dhalgren von Samuel R. Delany zu, ein im Original »voluminös verstörender«[2] 800-Seiten-Roman, der 1975 erstveröffentlicht wurde und trotz ambivalenter Kritiken – sowohl Harlan Ellison als auch Philip K. Dick lehnten das Buch ab – zum erfolgreichsten Titel des Autors wurde; die Gesamtauflage soll eine Million Exemplare schon länger überschritten haben. Acht verschiedene Ausgaben sind über die Jahre erschienen; dazu kommen noch eine Version als E-Book und eine limitierte Auflage für Sammler. Und das, obwohl offenbar kein Verlag bislang die den Autorenintentionen entsprechende Fassung einzurichten vermochte, wie eine von Delany autorisierte und umfängliche Korrekturliste aus dem Jahr 2012 belegt.[3]

In Deutschland erschien Dhalgren im September 1980 als »SF-Special« bei Bastei Lübbe, wobei Michael Görden als Herausgeber fungierte und Michael Kubiak das Lektorat besorgte. Annette Charpentier[4] hat bei Dhalgren »wochen-, ja monatelang an der Übersetzung herumgetüftelt« und schreibt rückblickend: »Ich weiß noch, wie ich mich völlig in den Text versenkt habe, sozusagen von innen heraus übersetzt, und manche Szenen sind mir noch lebhaft im Gedächtnis.«[5] Die Leistung ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass kein Kontakt zum Autor bestand.[6] Dhalgren eröffnete eine Art Werkausgabe, in deren Verlauf der Verlag Bastei Lübbe bis 1988 die meisten Delany-Texte mit Genrebezug veröffentlichen konnte. Dieser weitreichende Schritt dürfte auf das gestiegene Publikumsinteresse in der Nachfolge des Welterfolgs Star Wars (George Lucas; USA 1977) zurückzuführen sein, der den etablierten Science-Fiction-Reihen und ihren Herausgebern neue Spielräume ermöglichte. Dass diese nicht von Dauer sein sollten, zeigt sich schon daran, dass Bastei Lübbe den NEVÈRYON-Zyklus unabgeschlossen ließ, da der vierte Band The Bridge of Lost Desire (1987) dort nicht erscheinen konnte. Dies mag auch damit zu tun gehabt haben, dass Delany in einem Verlag erschien, der vom Feuilleton nicht wahrgenommen wurde, sodass ein literarisch erfahreneres Publikum dort nicht einzuspringen vermochte, wo Genreenthusiasten zunehmend mit Ratlosigkeit und Desinteresse reagierten. Dhalgren konnte zwar im November 1981 noch eine zweite Auflage erreichen, doch die offensichtlichen Ambitionen wurden dem Roman selbst in Reclams Science Fiction Führer zum Vorwurf gemacht – er wäre keine SF, daher an Hochliteratur zu messen und im Hinblick auf Thomas Pynchons Meisterwerk Gravity’s Rainbow (1973; dt. Die Enden der Parabel) »arm an Aussagen und Originalität«.[7] Nachfolgend sollte es dann nur sehr vereinzelt zu einer weiteren Beschäftigung mit Delany im deutschsprachigen Raum kommen. Kein Wunder also, wenn Dhalgren unterdessen weitgehend vergessen ist; ein Schicksal, das das Buch mit seinem Autoren teilt: Die 2012 begonnene Neuedition von Delanys Werken durch den Golkonda Verlag ist trotz aller Sorgfalt bereits drei Jahre später ins Stocken geraten; eine Weiterführung erscheint fraglich. Annette Charpentier: »Für Dhalgren war auch eine überarbeitete Neuausgabe geplant, bei Golkonda, wiederum unter Michael Görden, aber das Projekt wurde nach den sehr mäßigen Verkaufszahlen der Neuauflage der Nimmèrÿa-Geschichten nicht realisiert.«[8]

Bedenkt man, welche Rolle Delany im literarischen Betrieb der USA spielt, dann trägt diese Entwicklung zumindest erstaunliche Züge. Der Autor ist dort nämlich längst keine Genrefigur mehr, sondern wird schon lange als »Schüsselautor der Postmoderne«[9] gewürdigt; er gilt als »writer and thinker whose work had an enormous influence across a startling range of literary and paraliterary genres, including science fiction, autobiography, pornography, historical fiction, comic books, literary criticism, queer theory, and more«.[10] Doch selbst wenn man sich auf seine Anfänge als reiner Science-Fiction-Autor beschränkt, liegt die Messlatte hoch: »Unbestritten war [Delany] zusammen mit Roger Zelazny das Ereignis in der amerikanischen Science Fiction der sechziger Jahre und hat, wie kaum ein zweiter, die Gestalt und die Ausdrucksfähigkeit der Gattung auf ein neues, in diesem Genre nicht zu vermutendes Niveau gehoben.«[11] Dass für Delany hierzulande weder in- noch außerhalb der SF Platz sein soll, bleibt eine irritierende Tatsache. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, welche Akzeptanz die Bücher von Philip K. Dick oder William Gibson unterdessen genießen.

 

Samuel R. Delany

2

Welche Perspektiven ergeben sich nun auf Dhalgren, wenn man das Buch vierzig Jahre nach Erscheinen liest? Lässt man die Tatsache beiseite, dass die fünfeinhalb Zentimeter Buchrücken in der Tat schwer handhabbar sind, zeigt sich der Roman trotz seiner zeitgenössischen Bezüge – wie Raumfahrt, Vietnamkrieg und Jugendkultur – kaum gealtert, zumal überzeitliche Aspekte dominieren: Selbsterfahrung, kreative Entfaltung und das Ausleben der eigenen Sexualität sind ebenso zeitlos wie der nach wie vor schwelende Konflikt zwischen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe. Auch wenn Dhalgren in vielen Dingen ein »typischer« Roman aus den USA der 1970er-Jahre ist, lässt er sich keineswegs auf die Dekade festlegen. Vor allem erzählerisch erscheint er weiterhin frisch: Die größte Herausforderung beim Lesen besteht darin, die bewusste Vagheit und Verschwommenheit zu akzeptieren, die das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht – der Erklärungsmangel wird »zu einem wesentlichen Faktor«[12] in der literarischen Ausgestaltung. Dhalgren ist fragmentarisch, sprunghaft und gegen jede lineare Lektüre entworfen, was eine kausale Interpretation erschwert. Obwohl der Roman durchaus eine wiedergebbare Geschichte erzählt, bleiben viele Details – wie etwa die Zeitstruktur und die Beschaffenheit bestimmter Ereignisse – dauerhaft offen und müssen in dieser Offenheit auch akzeptiert werden. Dies ist speziell aus der auf Eindeutigkeit abzielenden Genreperspektive eine Herausforderung, und so schreibt William Gibson treffend: »Dhalgren is not there to be finally understood. I believe its ›riddle‹ was never meant to be ›solved‹.«[13]

3

Zunächst kurz zum Autor und zur Handlung. Der 1942 geborene Samuel R. Delany hatte bereits mit zwanzig Jahren begonnen, SF zu veröffentlichen, wobei seine frühen Arbeiten literarisch weniger ergiebig sind. Ab 1966 jedoch publizierte er in rascher Folge ambitionierte und vielschichtige Bücher, die beinahe durchgehend preisgekrönt wurden: Babel-17 (1966; dt. Babel-17), The Einstein Intersection (1967; dt. Einstein, Orpheus und andere) sowie Nova (1968; dt. Nova) gehören mit den beiden Erzählungen »Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones« (1968; dt. »Zeit, angenommen als eine Helix aus Halbedelsteinen«) und »Aye, and Gomorrha« (1966; dt. »Jawohl, und Gomorrha«)[14] zu den wichtigsten modernen Science-Fiction-Arbeiten überhaupt und sind im US-amerikanischen Kontext dieser Zeit mit den besten Texten von Thomas M. Disch, Robert Silverberg und Roger Zelazny gleichzusetzen; ihre Zugehörigkeit zur »New Wave« dürfte unstrittig sein. Delanys Talent und seine breit gefächerten Interessen sollten ihn mit Dhalgren (1975) erstmals in einen Bereich bringen, der mit dem Etikett »Science Fiction« nur ungenügend erfasst wird; dies gilt auch für seine nachfolgenden Romane Triton (1977) und Stars in My Pocket Like Grains of Sand (1984; dt. In meinen Taschen die Sterne wie Staub), die aber formal konventioneller ausfallen. Seither hat Delany Science Fiction weit weniger beschäftigt als etwa die Fantasy (RETURN TO NEVÈRŸON-Serie, 1979–1987), auch wenn er vereinzelt Bücher mit entsprechenden Elementen publiziert.

Dhalgren lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein siebenundzwanzigjähriger »Indio-Amerikaner« (S. 95) macht sich, nachdem er in einer Höhle eine Kette aus Prismen gefunden hat, auf den Weg nach Bellona, einer verbotenen Stadt, die von einer unbestimmten und lokal begrenzten Katastrophe heimgesucht wurde. Beim Betreten erhält er, der seinen Namen nicht kennt, von zwei jungen Frauen eine als »Orchidee« bezeichnete Waffe und kurz darauf vom Ingenieur Tak Loufer einen Namen: Kid (auch »Kidd« oder »The Kid«). Er lernt Mitglieder einer Jugendgang kennen, die sich als »Skorpione« bezeichnen und auf der Straße hinter Hologrammen verstecken. Von der attraktiven Lanya, die kurz darauf seine Geliebte wird, bekommt er ein bereits benutztes Notizbuch, auf dessen leeren Seiten er Lyrik und spontane Beobachtungen festhält; dabei gibt es Hinweise darauf, dass die Aufzeichnungen zumindest Teile des Texts von Dhalgren enthalten. Kid bemerkt am Nachthimmel einen zweiten Mond und lernt nach und nach verschiedene Subkulturen von Bellona kennen, die sich auf ihre Weise mit der zerstörten Infrastruktur der Stadt arrangiert haben. Familie Richards beispielsweise simuliert eine »Heile Welt«, in welcher der Vater jeden Tag zur Arbeit geht, wohingegen ihre (weiße) Tochter unentwegt versucht, eine sexuelle Beziehung mit dem (schwarzen) George Harrison einzugehen, obwohl er sie einem – allerdings fragwürdigen – Zeitungsbericht nach vergewaltigt haben soll. Als ihr Bruder droht, ihre Neigung publik zu machen, stößt sie ihn in einen Fahrstuhlschacht. Kid hilft den Richards bei einem Umzug, wird aber um seinen Lohn geprellt. Seine Gedichte finden bei dem Dichter Ernest Newboy Anklang, und er erhält von dem Zeitungsverleger Roger Calkins das Angebot, sie in Buchform erscheinen zu lassen. Kid entscheidet sich für den Titel Messing Orchideen. Er nimmt am Überfall auf ein Kaufhaus teil und bemerkt, dass er fortgesetzte Schwierigkeiten mit der Zeitwahrnehmung hat. Sein Buch wird wunschgemäß anonym veröffentlicht; kurz darauf erscheint über Bellona eine riesenhaft aufgeblähte Sonne, die jedoch keine Hitze ausstrahlt. Kids Versuche scheitern, dieses Phänomen wie auch das Rätsel um den zweiten Mond mit dem Astronauten Captain Michael Kamp zu lösen, der ebenfalls keine Erklärung findet. Kid und Lanya gehen mit dem fünfzehnjährigen Denny eine dauerhafte Ménage à trois ein, die aber weitere sexuelle Eskapaden nicht ausschließt. Kid rutscht immer mehr in die Rolle eines Anführers der Skorpione hinein, was bisweilen zu ruppigem Verhalten bei Streitereien führt. Zufällig entdeckt er, dass die hochgeachteten Insignien der Skorpione – wie etwa seine Kette – Produkte industrieller Massenfabrikation sind. Das Erscheinen der Messing Orchideen wird bei Roger Calkins gefeiert, dabei muss sich Kid anhören, er habe die Gedichte gar nicht selber geschrieben, sondern in besagtem Notizbuch vorgefunden. Nach einer Phase vorübergehenden Selbstbewusstseins wachsen nun seine Selbstzweifel.

Während die ersten sechs Teile von Dhalgren größtenteils personal erzählt werden, dominiert im siebten und letzten Kapitel die Ich-Perspektive. Der Text zerfällt in zahlreiche, teilweise mehrspaltig montierte Fragmente, die bisweilen Streichungen aufweisen und von einer Herausgeberinstanz kommentiert sind. – Kid hat mit George Harrison Kinder gerettet und wundert sich, dass der Farbige in dem entsprechenden Zeitungsartikel nicht vorkommt. Kurz darauf wird Kid aufgrund seiner vergleichsweise hellen Hautfarbe verdächtigt, für ein rassistisches Attentat verantwortlich zu sein, was er abstreitet. Kid bringt die Arbeit am Notizbuch zu Ende und hört von einem zweiten Gedichtband, den er geschrieben haben soll, von dem er jedoch nichts weiß. Er begegnet endlich Roger Calkins, der sich in ein Kloster zurückgezogen hat und als Politiker versteht; an Kids Literatur hat er kein Interesse, wohl aber an dessen Rolle in Bellona. Schließlich schreibt Kid in der dritten Person über sich selbst und stellt fest, dass sein Leben mehr und mehr einem Buch ähnelt, bei dessen Lektüre sich der Eindruck einstellt, »der Autor habe den Faden verloren« (S. 956). Es kommt zu einer psychoanalytischen Sitzung bei Madame Brown, in deren Verlauf Kid äußert, dass er Bellona – die »vage, verschwommene Stadt« (S. 489) – verlassen will. Bei einem ausgelassenen Fest erinnert er sich an seine Vornamen »Michael Henry«; der Reporter Bill, mit dem er sich kurz darauf unterhält, ist offenbar jener »William Dhalgren«, dessen Name Kid auf einer Liste begegnet ist, die dem Notizbuch beilag. Kurz darauf findet eine unbestimmte Katastrophe statt, bei der es sich auch um jene handeln könnte, die Bellona vor Handlungsbeginn zerstört hat. Kid verlässt die Stadt und gibt seine Orchidee einer jungen Frau, die nach Bellona will; dabei kommt es zu zahlreichen spiegelbildhaften Entsprechungen der Szene zu Beginn des Romans. Der letzte Satz des Buchs geht (beinahe) nahtlos in den allerersten über: »Warte hier, weg von dem schrecklichen Waffenarsenal, heraus aus den Hallen aus Dunst und Licht, jenseits der Leinwand und in die Berge bin ich gekommen / um / die herbstliche Stadt zu verwunden.« (S. 1011 und S. 5) Der Roman erweist sich als Text ohne Anfang und Ende, der nach dem Prinzip einer Möbiusschleife funktioniert; er könnte daher auch an einem anderen Punkt beginnen oder abschließen.