Dein Herz lebe auf!

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Wie gut, dass es diesen Thomas gibt

BISCHOF DR. FRANZ-JOSEF BODE

19 Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! 20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. 21 Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. 22 Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! 23 Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.

EINE WEITERE ERSCHEINUNG JESU UND DER GLAUBE DES THOMAS

24 Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. 26 Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! 27 Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.Joh 20,19–29

Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.

Bei verschlossenen Türen kam Jesus in ihre Mitte. Für den Auferstandenen gibt es keine räumlichen Grenzen. Gott sei Dank, denn so ist er auch in diesen Zeiten jederzeit in unserer Mitte und in unseren Herzen zu entdecken.

Seine erste Botschaft ist der Friede. Ein Friede, der nicht nur ein konfliktfrei-nettes Gefühl ist, sondern ein Friede, der aus Wunden und aus der Annahme von Kreuzwegen kommt. Er zeigt ihnen seine Wunden, und daran erkennen sie ihn. Sie freuen sich, dass sie ihn sehen.

Hier spricht einer auch uns Frieden zu, der Wunden und Schmerz, Leid und Tod kennt, der kein Phantast ist und kein Illusionär. Und gerade weil es so ist, wiederholt er: „Der Friede sei mit euch!“ Er weiß, wie schwer wir uns mit dem Frieden tun, vor allem dann, wenn die zusammenschweißende Angst, der Burgfrieden, wieder vorbei ist. – Alles wie im richtigen Leben.

Und dann geschieht etwas, das ich bei Firmungen oft das kleine Pfingsten nenne – ohne Sturm, Getöse, Sensation und wunderliche Verständigung. Hier geschieht Sendung des Geistes durch Nähe, durch Hauch, durch Auftrag zur Vergebung.

Geist-Sendung – viel alltäglicher als durch Sturm und Feuer, und doch nicht weniger Zusage an die kleine, verängstigte Schar, und doch nicht weniger Herausforderung zum Handeln und zur konkreten Vergebung: Wo ihr vergebt, da geschieht sie, wo ihr sie verweigert, da geschieht sie nicht – und es heilt nichts, möchte ich ergänzen.

Ostern und Pfingsten an einem Abend. Neues Leben ist neue Sendung. Auch heute in diesen Zeiten.

Lesen wir weiter das Evangelium:

Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.

Wie immer im richtigen Leben: Einer hat mal wieder das Entscheidende verpasst. Thomas, der Nach-frager, der Nach-denkliche, der Skeptiker. „Wir haben den Herrn gesehen“ kann heißen: Wir haben ihn gesehen, und du warst nicht dabei. Das wäre die etwas arrogante, besserwisserische Variante: „Ja, wir! Aber du?“ Vorwurf und Geringschätzung stecken darin. Eine große Versuchung für alle, die sich ihrer Beziehung zu Jesus allzu sicher sind und die Skeptiker geringachten.

Es kann aber auch heißen: „Wir haben den Herrn gesehen und freuen uns. Er lebt! Freu dich mich uns! Er lebt!“ Nichts von Vorwurf und Moral, sondern alles Zeugnis und Freude. So wünschen wir uns Kirche: „Wir haben den Herrn gesehen!“, und nicht: „Wo warst du letzten Sonntag?“

Thomas aber will nicht nur hören, er will selbst sehen und berühren, ganz in der Linie, wie er auch sonst nachfragt und hinterfragt, „ein tastender Zweifler und ein bisschen wie ein Nachsitzer“1. Gut, dass es sie gibt, diese Leute wie Thomas, die sich nicht zu schnell zufrieden geben mit den Beteuerungen, ja vielleicht nur Behauptungen anderer, sondern die Glaubwürdigkeit der Zeugen auch noch einmal überprüfen. Wie sehr brauchen wir diesen Nachsitzer, diesen Skeptiker auch in unseren derzeitigen Krisen, die uns herausfordern, nicht zu schnell den Namen Gottes auf den Lippen zu führen, sondern die Fragen, das Suchen, die Zweifel der Menschen zuzulassen und sich ihnen wirklich zu stellen.

Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

„Thomas, streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite.“ Tausendfach ist diese innige Begegnung von Jesus und Thomas, diese berührende Beziehung in der Kunst dargestellt. Der gleiche Vorgang wie acht Tage vorher. Jesus kommt noch einmal. – „Noch einmal“ ist ein sehr österliches Wort. Jesus kommt immer noch einmal, weil die Apostel und wir alle so schwer begreifen.

Jetzt kommt er sozusagen extra für Thomas, den Nachsitzer. Und er lässt die Berührung zu, er lässt die Suche nach dem ‚Be-greifen‘ zu, er lässt sich berühren und anfassen, da er weiß, wie sehr die Menschen auf die Wahrnehmung mit allen Sinnen angewiesen sind. Wie sehr vermissen wir alle zur Zeit dieses spürbare Tasten, Berühren, Anfassen und Umarmen?!

Freilich bleibt er nicht dabei, denn Glaube ist mehr als Begreifen und Anfassen. Glaube ist mehr als Berühren mit den Händen. Er ist Berühren mit dem Herzen. Glaube ist mehr als Sehen mit den Augen des Leibes. Er ist Sehen mit den Augen des Herzens: eben Wahrnehmen in der Tiefe des Begriffes.

„Sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Selig die nicht sehen und doch glauben.“ Was das bedeutet, lehrt uns diese Krisenzeit ganz besonders, in der uns das Berühren und Anfassen weithin genommen ist und in der das Vertrauen, die geistige und geistliche Dimension der Beziehung so not-wendig ist: ganz konkret in dem Nichtempfang der sakramentalen Kommunion, in der Verhinderung physischer Nähe und Gemeinschaft, aber auch in dem Nichtdurchblicken der gegenwärtigen Situation, die wir noch längst nicht begriffen haben, in der wir nicht überblicken, was das für uns alle bedeutet, welchen Sinn das alles hat. Und erst recht ist in der Tiefe nicht klar, was Gott uns darin zeigen will. Denn jede Wirklichkeit ist ein Anlass, neu nach dem Willen Gottes zu fragen. „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“, sagen heutige geistliche Meister.

„Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Dieser Satz ist der Schlusssatz des ursprünglichen Johannesevangeliums. Jedenfalls spricht vieles dafür. Am Anfang des Johannesevangeliums stand die Einladung an die Jünger: „Kommt und seht.“ Die ersten Jünger sollten sehen und erfahren, wo Jesus wohnt, wie er lebt und wirkt. Am Ende steht die Vertiefung dieser Einladung. Denn auch wenn wir nicht sehen und durchblicken, wenn wir nicht alles klären und erklären, begreifen, deuten und definieren können, bleiben die innere Gewissheit des Glaubens, die begründete Hoffnung und die Wahrheit und Macht der Liebe.

Es bleibt eine Annäherung an die Wirklichkeit im Glauben. „Nicht durchschauen, einfach nur anschauen“2, so beschreibt es der geistliche Dichter Andreas Knapp – und ich möchte ergänzen: nicht nur bitten, einfach nur anbeten wie Thomas: Mein Herr und mein Gott! – „So werden wir wirklich wir.“

Gut, dass es diesen Thomas gibt!

DR. FRANZ-JOSEF BODE

BISCHOF VON OSNABRÜCK

Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins

ERZBISCHOF STEPHAN BURGER

1 Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal, am See von Tiberias, und er offenbarte sich in folgender Weise. 2 Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus, Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen. 3 Simon Petrus sagte zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sagten zu ihm: Wir kommen auch mit. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot. Aber in dieser Nacht fingen sie nichts. 4 Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. 5 Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr keinen Fisch zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. 6 Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. 7 Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr sei, gürtete er sich das Obergewand um, weil er nackt war, und sprang in den See. 8 Dann kamen die anderen Jünger mit dem Boot – sie waren nämlich nicht weit vom Land entfernt, nur etwa zweihundert Ellen – und zogen das Netz mit den Fischen hinter sich her. 9 Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot liegen. 10 Jesus sagte zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr gerade gefangen habt! 11 Da stieg Simon Petrus ans Ufer und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht. 12 Jesus sagte zu ihnen: Kommt her und esst! Keiner von den Jüngern wagte ihn zu befragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. 13 Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch. 14 Dies war schon das dritte Mal, dass Jesus sich den Jüngern offenbarte, seit er von den Toten auferstanden war.Joh 21,1–14

 

Ende März 2020 schrieb die italienische Schriftstellerin Francesca Medandri eine Botschaft an die Menschen in Deutschland. Medandri, die in Italien schon seit einigen Wochen mit den Folgen der Corona-Pandemie konfrontiert war, will die Menschen aus Deutschland auf das vorbereiten, was da noch kommen wird. „Ich schreibe euch aus Italien, also aus eurer Zukunft. […] Ihr werdet ‚Die Pest‘ von Camus aus dem Regal ziehen, um dann festzustellen, dass ihr nicht wirklich Lust habt, das Buch zu lesen.“, so Medandri. Und in der Tat war dieses Werk des algerischen Existenzialisten Albert Camus auch in Deutschland in den vergangenen Wochen oft vergriffen. Viele Menschen wollten sich insbesondere dieser Lektüre widmen. Ich habe mich gefragt, warum? Warum will man sich angesichts einer derart neuen und großen Herausforderung, wie der Corona-Pandemie noch zusätzlich mit dieser schweren Kost belasten? Natürlich liegt es nahe, dass man das eigene Erleben einer Pandemie mit vergangenen Epidemien und Pandemien vergleicht. Als Narrativ bietet sich da „Die Pest“ sicherlich an. Aber die Suchbewegung hinter dem einfachen Vergleich gefährlicher Krankheiten ist meiner Ansicht nach eine andere, eine tiefere, eine zutiefst mit dem menschlichen Dasein verbundene. Und dieser hat sich der besagte Autor Camus in seinen Werken gewidmet. Es ist die Frage nach dem Sinn unseres Daseins. Wer bin ich und warum bin ich? Hat meine Existenz in dieser Welt einen Sinn? Wenn ja, wofür? Und hat das Leben an sich einen Sinn? Auf was gründet diese Welt und worauf ist sie ausgerichtet? Welche Rolle habe ich in dieser Welt? Und gibt es diesen höheren Plan überhaupt, wenn alles Leben doch letztlich mit dem Tod endet?

Camus lässt Dr. Bernard Rieux, die Hauptfigur aus „Die Pest“ auf die Frage, ob es einen Sinn im Dasein gibt, mit einem klaren Nein beantworten. Für ihn ist die Realität des Todes der entscheidende Grund, warum das Dasein absurd ist: Vom Tod her gewinnt alles Tun und Handeln eine Sinnlosigkeit. Für Camus kann der Mensch trotzdem glücklich sein, weil er sein Leben aus diesem klaren Bewusstsein heraus selbst in die Hand nehmen und gestalten kann, ohne auf das Eingreifen einer guten Macht oder das Zulaufen auf ein „Happy End“ warten zu müssen.

Viele Gedanken, die Camus in seinen Werken entwickelt, kann ich gut nachvollziehen. Er blickt in die Tiefen und Dunkelheiten, in die Momente von Trauer und Verzweiflung, die jeder Mensch kennt. Da kann man schon manchmal am Sinn des Lebens zweifeln. Da kann man auch die Hoffnung verlieren.

Gerade aktuell, in den vergangenen Wochen und Monaten bis hinein in die Gegenwart, sehen wir uns mit genau dieser Situation und diesen Fragen konfrontiert. Wir greifen zu Werken, wie „Die Pest“, weil wir selbst diese Sinnfragen stellen. Da sind die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte, die direkt mit der Krankheit Covid 19 und den Folgen konfrontiert werden. Sie sehen schwerkranke Menschen, sterbende Menschen, die sich nicht mehr verabschieden dürfen. Und sie kämpfen gegen diese Krankheit – manchmal mit Erfolg, manchmal bis zum Ende und ohne Erfolg. Da kommen die Fragen nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns auf. Da denkt man anders über die Existenz und den Wert des Lebens nach. Und da breitet sich manchmal auch Hoffnungslosigkeit aus. Gleichfalls sind da all die anderen Menschen in dieser Gesellschaft, die sich mit den Folgen von Corona konfrontiert sehen: Angehörige, die einen lieben Menschen verlieren. Oder wenn der Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann. Da bleiben Angst und Leere zurück. Wenn Kontaktverbote ausgerufen werden, machen sich Isolation und Einsamkeit breit. Wenn die Gestaltungsfreiheit über das Leben wegfällt, weil das gesellschaftliche Leben auf ein Minimum reduziert werden muss, schleicht sich irgendwann die Frage ein, welchen Sinn die eigene Existenz dann noch hat. Ist das noch Leben?

Während Camus die Fragen dahingehend obsolet macht, indem er dem Dasein generell die Sinnhaftigkeit abspricht und die Menschen damit aufruft, ihr Leben gerade trotz der Sinnlosigkeit so positiv und selbstmächtig wie möglich zu gestalten, möchte ich eine andere Lektüre und Perspektive anbieten. Gerade weil die Corona-Pandemie weltweit gezeigt hat, dass wir Menschen nicht unser Leben in der Hand haben, den Plan fürs Leben nicht eigenmächtig schmieden können.

Am Ende des Johannesevangeliums offenbart sich der Auferstandene am See von Tiberias nochmals seinen Jüngern (Joh 21,1–14). Diese Begegnung ist gleichermaßen eingebettet in die existentielle Erfahrung von Scheitern, von Tod und Verzweiflung. Die Jünger, die einst ihre Heimat für Jesus verlassen hatten, sind zurück in Tiberias. Hatten sie sich nicht einen größeren Sinn, eine Befreiung von der Hoffnungslosigkeit, der Angst, der Unterdrückung erhofft? War nicht all das Inhalt der Predigt Jesu? Ihre Hoffnung auf diesen Jesus ist geradezu zerschellt. Jesus, der den Sieg des Guten über das Böse, die Überwindung des Todes versprochen hatte, ist selbst dem Tod erlegen. Dieser allmächtige Vater Gott konnte offenbar nicht siegen, seinen Sohn nicht vor dem Tod bewahren. Oder schlimmer noch: War nicht sogar der, der am Pfahl hängt, selbst von Gott verflucht? Welch größere Hoffnungslosigkeit kann es geben? Wie müssen sich die Jünger wohl gefühlt haben, nachdem dieser große Traum zerplatzt war? Das sinnhafte Fundament ihres Daseins wurde ihnen radikal entzogen. Aber sie scheinen sich, wiewohl stoisch und resigniert, dieser Absurdität zu fügen. Sie kehren zu ihrem Leben als Fischer zurück. Aber selbst diese Rückkehr hält weiteres Scheitern bereit. Die Jünger fallen nicht nur hin, sie fallen sogar noch tiefer als sie begonnen hatten. Nach ihrer Rückkehr vermögen sie nicht einmal mehr einen einzigen Fisch zu fangen. Und das, obwohl sie die ganze Nacht auf dem See verbracht hatten. Ihre Routine, ihr berufliches Können, alles vergeblich. Nicht einmal mehr für ihren Lebensunterhalt können sie sorgen. Frustration, Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit – dies müssen die Gefühle der Jünger an diesem frühen Morgen gewesen sein.

Und dann steht da einer am Ufer, noch unerkannt. Er fordert die Jünger auf, es noch einmal zu versuchen, das Netz erneut auszuwerfen. Eigentlich fordert Jesus hier ein absolut sinnloses Unterfangen. Am helllichten Tag sind im See keine Fische zu fangen, sie tauchen in die Tiefen ab. Aber aller Erfahrung zum Trotz, die Jünger folgen seinem Rat und das Unvorstellbare geschieht: Das Netz ist voller Fische.

Während man zunächst meinen könnte, hier von einer weiteren Wundergeschichte Jesu zu erfahren, sollte man einen zweiten Blick wagen. Es geht in dieser Begegnung weniger darum, dass Jesus die Gesetzmäßigkeiten auf dieser Welt aushebelt und das Unmögliche möglich macht. Es geht vielmehr darum, dass dieser Jesus mit seinem Erscheinen und Wirken die absolute Sinn- und Hoffnungslosigkeit mit Sinn und Hoffnung durchbricht.

In der Szene am See Genezareth weist er über eine banale Alltagssituation, den bleiernen Berufsalltag, zu dem seine Jünger nach dem großen Scheitern zurückgekehrt sind, hinaus. In diesem Durchbrechen der geradezu depressiven Verzweiflung durch ein „kleines Wunder“ gibt er einen Ausblick auf einen noch viel größeren Sinn, auf eine befreiende Hoffnung. Wenn Jesus es schafft, diese Hoffnungslosigkeit zu überwinden, gilt das dann nicht auch für die Sinnlosigkeit des Todes?

Auch die Jünger ahnen in dieser Szene, dass es sich um mehr handelt als um einen wunderbaren Fischfang. Denn der Jünger, den Jesus liebte, erkennt Jesus als den Auferstandenen, und begreift, dass dieses Wunder, das sie aus ihrer Verzweiflung herausholte, nur der Anfang, das Zeichen für etwas noch Größeres ist. Es ist das Zeichen für das verheißene Leben, für die zugesagte Erlösung aus allen stets wiederkehrenden Hoffnungs- und Sinnlosigkeiten. Deram Kreuz Getötete erweist sich als der, der dem Leben dient, erweist sich als lebendig! Gott erweist sich als Gott des Lebens!

Und diese Erfahrungen machen auch wir in unserem Leben, in unserem Alltag immer wieder. Da blitzt an grauen Tagen auf einmal Hoffnung durch. Da reißen uns Begegnungen und Gesten aus der Sinnlosigkeit. Auf trostlose Tage, in denen wir mutlos sind, folgen wegen kleiner Begebenheiten plötzlich Motivation, Kraft und Lebensfreude. Da sehen wir selbst in Krisen wie der jetzigen Pandemie, dass es neben Verzweiflung, Angst und Isolation sehr viel stärkere und positive Mächte gibt, weil Menschen auf einmal mehr Rücksicht nehmen, mehr Solidarität zeigen, einfühlsam reagieren oder sich liebevoll sorgen. Menschen sind auf einmal zu sehr viel Gutem fähig – über alle Eigeninteressen hinweg. Selbst in der gefühlt größten Absurdität, im Scheitern, gibt es diese Erfahrungen, die uns ahnen lassen: Es gibt einen Sinn, es gibt das Gute, es gibt Gott, der unser Leben will, weit über unsere durchlittenen Nächte hinaus. Dafür steht der frühe Morgen, der über den irdischen Horizont hinausweist.

Und so würde ich Camus einerseits Recht geben mit seiner Behauptung, dass das Leben manchmal absurd ist, dass es beizeiten sinnlos erscheinen kann. Aber weil ich auch in den Situationen und Erfahrungen der Sinnlosigkeit immer wieder die kleinen göttlichen Zeichen erkenne, kann ich darauf hoffen, darauf vertrauen und daran glauben, dass es diesen Gott gibt, diesen Gott des Lebens und der Liebe, der uns zu sich ruft. Es ist dieser Gott, der der ganzen Welt, dem Dasein – auch in Krisen – einen Sinn zu geben vermag. Denn es ist dieser Gott, bei dem es letztendlich keine Verzweiflung, keine Hoffnungslosigkeit gibt, weil er sie überwindet. Und es ist dieser Gott, der uns befähigt und befreit hat, daran mitzuwirken. Wir müssen folglich nicht daran verzagen, dass wir immer wieder hinfallen. Vielmehr können wir uns einüben, die göttlichen Zeichen, die kleinen Hoffnungsmomente intensiver wahrzunehmen. Wir können im Vertrauen darauf, dass der Sinn in Gott begründet und bewahrt ist, immer wieder aufs Neue aufstehen und uns gegenseitig darin unterstützen. So geben wir der Welt selbst, auch in Corona-Krisenzeiten, jeden Tag ein wenig mehr Sinn, Freude und Leben.

STEPHAN BURGER

ERZBISCHOF VON FREIBURG

1Wolfgang Metz: Brannte uns nicht das Herz? Gedichte, Würzburg 2017, S. 53.

2Annäherung an die Wirklichkeit, in: Andreas Knapp: Weiter als der Horizont, Gedichte über alles hinaus, Würzburg 2002, S. 59.

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