Der Televisionär

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III Im Fernsehen der 1960er und 1970er Jahre: Zukünfte

Ende der sechziger Jahre war Wolfgang Menge Mitte Vierzig und nach einem halben Dutzend Drehbüchern, die er für den Film geschrieben hatte, sowie gut zwei Dutzend Drehbüchern, die im Fernsehen realisiert worden waren, ein angesehener und vielbeschäftigter Autor. Doch er war zunehmend unzufrieden mit dem, was er schrieb. Genauer gesagt: wie er es schrieb.

1 Spiel mit dem Fernsehen: Fakten, Fiktionen, Faktionen1

Menges frühe Fernsehspiele trafen den Nerv der heraufziehenden sozial­li­beralen Ära, sowohl impolitischen Engagement wie auch in der formalen Nähe zur damals entstehenden Dokumentarliteratur. Als Markenzeichen seiner von den Kritikern primär gelobten Filme – wie auch seiner Arbeiten für Print und Theater – galt die Tatsachentreue, Wirklichkeitsnähe und Genauigkeit von Personen und Orten, kurzum: dass er seine Themen recherchierte und Narration wie Dialoge mit der Realität so weit als möglich übereinstimmten. Diese Authentizität des audiovisuellen Erzählens stützte er ab durch formal innovative Aufarbeitung. Drehbuch für Drehbuch entwi­ckelte sich der journalistische Profi so zu einem Schriftsteller, der in seinen besten Werken nicht Geschichten erfand, sondern Zeitgeschichte erzählte. Diese Qualitäten machten Menge zu einem idealen Autor für das Fernsehen. Schon in seiner Person, seinem Werdegang, verkörperte er dessen besondere Situation: ein zugleich journalistisch-dokumentierendes und künstlerisch-fiktionales Medium zu sein.

Doch in Menge selbst wuchsen Zweifel; zwar nicht an seiner dokumentarisch geprägten Arbeitsweise, wohl aber an den erzählerischen Formen, in denen er die Ergebnisse seiner Recherchen aufarbeitete. Dieselbe journalistische Schulung und kritische Haltung, die einst seine dokumentarische Wende als Drehbuchautor ausgelöst hatte, führte nun dazu, dass sich sein Interesse forschend auf das Medium Fernsehen selbst zu richten begann. Zum einen analysierte und dekonstruierte er die spezifischen Formen, die sich binnen verhältnismäßig kurzer Zeit in der Television ausgebildet hatten und in denen sie ihre Inhalte vermittelte. Neben dem Fernsehspiel waren das vor allem das Magazin, die Show und die Nachrichtensendung. Zum anderen hinterfragte er die institutionellen Kontexte, in denen das Fernsehen als Leitmedium der Bonner Republik funktionierte oder in naher Zukunft funktionieren könnte.

Diese – nach der ersten, der dokumentarischen Wende in seinem Schaffen – nun zweite mediale Wende um 1968 versteht sich im Kontext der Fernsehgeschichte wie der Kulturgeschichte. Mehr noch als zuvor die Durchsetzung des Films bewirkte der Aufstieg der Television, der sich gegen Ende der 1960er Jahre statistisch vollendete, einen Wandel der Lebenswelt und ihrer Wahrnehmung. Um angemessen handeln zu können, bedurfte es stets der Befähigung, zwischen Tatsächlichem und Imaginiertem, Vorgefundenem und Erfundenem zu differenzieren und beiden Aspekten, wie Slavoj Žižek schreibt, ihr Recht zu geben: »[A]s soon as we renounce fiction and illusion, we lose reality itself; the moment we subtract fictions from reality, reality itself loses its discursive-logical consistency.”2

Unter den Bedingungen industrieller (Massen-) Medien konzentrierte sich diese Anstrengung der Rezipienten auf jene Qualitäten der medialen Angebote – Texte, Bilder, Fotos, Filme –, die wir unter dem Begriff des Authentischen fassen: auf eine Echtheit also, wie sie die Identität des Medialen mit dem Wirklichen verbürgt (oder zu verbürgen scheint). Bereits die Nutzung von Massenpresse, Radio und Film für Propagandazwecke, die nicht nur die totalitären Regimes der Vorkriegs-, Kriegs- und Kalte-Kriegs-Nachkriegszeit offen praktizierten, hatte diese – seit den 1920er Jahren – traditionelle Ansicht von der Objektivität und damit Authentizität fotografischer beziehungsweise filmischer Artefakte unterminiert.

Die Erfahrung des Fernsehens, die bald die Mehrheit der Menschen in der entwickelten Welt machen sollte, war jedoch von anderer Qualität. Bei ihr ging es nicht um gezielte – und damit durchschaubare und prinzipiell abstellbare – Manipulationen nach konkreten Herrschaftsinteressen, wie sie etwa die kritische Theorie der »Kulturindustrie als Massenbetrug« unterstellte.3 Das Fernsehen manipulierte vielmehr auch dort, wo keine – bösen oder guten – Absichten erkennbar waren. Zumindest den kritischen unter seinen Zuschauern demonstrierte es alltäglich, dass Medien die Ereignisse, die sie vermitteln – politische Debatten wie sportliche Wettkämpfe, Kriege wie Karneval –, keineswegs schlicht aufzeichnen, sondern durch ihre je spezifischen medialen Erfordernisse und Qualitäten prägen, partiell gestalten, wenn nicht gar vollständig modifizieren. Nach einigen Jahrzehnten wurde der Verdacht, dass das Fernsehen nicht authentisch sei und auch gar nicht sein könne, zur Gewissheit. Johannes Gross formulierte diesen Umstand 2007 so:

»Das Fernsehen ist unter allen Medien das unsensibelste für Fälschungen – weil es selbst auf Täuschung beruht. Alles ist artifiziell. Die Auftretenden sind geschminkt; der seltene Vogel, den die Dokumentation über den Anden schwebend zeigt, wird in der Nahaufnahme durch einen im Zoo ersetzt; aktuelle Vorgänge sind mit Archivbildern illustriert; die Wetterkarte, auf der die Meteorologin kundig fuchtelt, ist ihr selber unsichtbar, weil sie auf Bluebox eingespielt wird.«4

Vierzig Jahre zuvor jedoch, in den 1960er Jahren, war die Einsicht noch neu und wenig verbreitet. Die Zeit war vielmehr geprägt von einer gesteigerten Suche nach dokumentarischer Authentizität und diversen Anstrengungen, sie zu produzieren. Sie reichten von den Filmen des Direct Cinema und Cinéma Vérité über die Werke des Neuen Deutschen Films, in denen Authentizität – im Gegensatz zum realitätsfremden oder sogar realitätsfeindlichen Illusionismus von »Papas Kino« oder der Traumfabrik Hollywoods – zur zentralen Kategorie wurde,5 bis hin natürlich zum Fernsehen selbst, das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Alltägliches wie Welthistorisches, einen Krieg oder eine Mondlandung, mehr oder weniger live in die Wohnzimmer brachte.

Nur scheinbar im Gegensatz dazu standen die in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts vielfältig aufkommenden Versuche, das durch Recherche Authentifizierte abhängig vom Medium ästhetisch aufzubereiten, also etwa wie im Neuen Deutschen Film mittels filmischer Mittel zu subjektivieren oder wie im New Journalism und der deutschen Dokumentarliteratur jener Jahre mittels literarischer Verfahren zu fiktionalisieren. Die epistemologische Grundlage dafür war die Entdeckung dessen, was wir Medialität nennen, des Faktums also, dass – in den Worten Marshall McLuhans – »the medium is the message«.6 Die Einsicht, dass vor allen Kunstwerken und Kommunikationsakten einzelne Medien existieren, die sich gleichermaßen und gleichzeitig zu künstlerischen wie kommunikativen Zwecken nutzen lassen, zu In­szenierung und Dokumentation, zu Unterhaltung, Propaganda und Aufklärung, rückte damals ins Zentrum der intellektuellen Debatten wie zahlreicher avantgardistischer Experimente. In der theoretischen Kritik bewirkte die Beschäftigung mit den ästhetischen Effekten und soziokulturellen Wirkungen medialer Vermittlung eine systematische Begründung der Medientheorie und in der Folge die Institutionalisierung der Medienwissenschaften. In der künstlerischen Praxis – in der Literatur, in den Bildenden Künsten, im Film und natürlich im Fernsehen selbst – führte sie zu wegweisenden Experimenten mit Mischformen fiktionalen und dokumentarischen Erzählens.

Avancierte Fernsehproduktionen, vor allem in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, stellten sich so in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren erstmals der Wirkung des noch jungen Massenmediums selbst. In seinem Zentrum erkannten sie eine spezifische Modulation medialer Erfahrung: die Etablierung eines neuen Verhältnisses von Faktizität und Fiktionalität beziehungsweise der Vermittlung faktischer Geschehnisse und der Inszenierung fiktiver Geschehnisse.7 Zu den herausragenden audiovisuellen TV-Werken dieser Phase zählen neben – und zeitlich zwischen – The War Game8 und F for Fake9 drei Fernsehfilme nach Drehbüchern von Wolfgang Menge: Die Dubrow-Krise10, Das Millionenspiel11 und Smog12. Sie kennzeichnet, dass sie als audiovisuelle Narrationen Faktisches und Fiktives mischen, das fiktionale Resultat jedoch als Dokumentation oder zumindest unter Verwendung dokumentarischer Erzählformen und Stilmittel präsentieren. Für diese Hybridformen hat sich im Englischen der Neologismus faction eingebürgert.13

Die mediale Wende, die Wolfgang Menge über ein halbes Jahrzehnt – von 1968 bis 1973 – zu Experimenten mit faktionalen Fernsehspielen führte, hatte formale wie inhaltliche Konsequenzen. Zum Ersten veranlasste ihn die Anstrengung, den journalistisch-penibel recherchierten Inhalten einen auch ästhetisch angemessenen, also innovativen Ausdruck zu geben, das vom Kino übernommene Korsett des Erzählfilms abzustreifen und in fernsehspe­zi­fischen Formen wie Magazin und Show neue, eher mosaikhaft-fragmentarische und der Tendenz nach nonlineare Erzählformen zu suchen. Zum Zweiten schritt er thematisch von der Authentifizierung des Tatsächlichen beziehungsweise der Gegenwart – den semi-dokumentarischen Verbrechen der Stahlnetz-Serie oder des Polizeirevier Davidswache-Spielfilms sowie der fast tagespolitischen Aktualität von Begründung eines Urteils oder Fragestunde – zur Authentifizierung des Möglichen fort: den Szenarios einer potentiellen Wiedervereinigung, eines potentiellen Privatfernsehens, einer potentiellen Umweltkatastrophe.

Um allerdings die medienhistorische Bedeutung dieser faktionalen Fernsehexperimente um 1970 einschätzen zu können, ist es notwendig, den engen Konnex zwischen dem Stand der medialen Entwicklung beziehungsweise der Etablierung künstlerischer Praktiken einerseits und andererseits dem kulturellen Begriff von Authentizität zu etablieren. Denn was der Begriff der Faktion bezeichnet, ist in der Literatur eine seit der frühen Neuzeit bekannte Erzählform. Visuell oder gar audiovisuell jedoch konnte Faktion erst mit der Möglichkeit entstehen, reales Geschehen überhaupt medial anders als grafisch-malerisch zu tradieren beziehungsweise anders als in aktuellem (Theater-) Spiel nachzuempfinden.

 

2 Zur Geschichte audiovisueller Authentizität: Malerei, Theater, Fotografie, Film

Vorindustriell existierte bekanntlich keine qua Medium – durch das Objektiv, das Aufzeichnungsverfahren – garantierte visuelle oder audiovisuelle Authentizität. Auditives Geschehen ließ sich allenfalls in Mitschrift oder Notation bezeugen, visuelles lediglich nachschöpfen. Insofern (audio-) visuelle Indexikalität – die unmittelbare Referenz auf tatsächliche Ereignisse – den vorindustriellen Medien kategorial verschlossen war, mischten sich in der Bildenden Kunst wie auf dem Theater, im Porträt oder Schlachtengemälde, im historischen oder naturalistischen Schauspiel, immer Elemente des Gefundenen und Erfundenen, des Bezeugten und Nachempfundenen. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden semi-automatische Verfahren zur Aufzeichnung von Bild und Ton durch Realitätsabdruck und damit die Möglichkeit zu einer von menschlicher Manipulation – potentiell oder scheinbar – freien, primär reproduzierenden Speicherung. Der neue Handlungsraum für Information und Ausdruck, der sich technisch eröffnete, musste freilich in der Nutzung erst ästhetisch realisiert werden. So wurde anfänglich gerade das, was die Stärke der Fotografie ausmachte – dass sie als »Lichtmalerei« frei von Eingriffen menschlicher Hand Realitätsspuren dauerhaft zu bewahren vermochte, ihr Fotorealismus also –, als eine künstlerische Schwäche empfunden. Ihr suchten die Zeitgenossen bekanntlich durch händisch-malerische Überarbeitung von Negativ wie Positiv abzuhelfen. Ebenso waren in dieser Frühzeit – auch auf Grund der langen Belichtungszeiten – nahezu alle ›dokumentarischen‹ Fotos (nach-) gestellt.

Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert und bereits im Zeitalter des Films, der die fotografischen Bilder mechanisch zum Laufen brachte, entwickelte die Fotografie ihre eigene Ästhetik, indem sie die Authentizität dessen, was die Kamera einfing, über die Interessen subjektiven Ausdrucks seitens des Fotografen stellte. Das Dokumentarische, das sich mit der Technik des Realitätsabdrucks verband, erschien nun nicht länger als Schwäche, sondern als einzigartige mediale Stärke. Sie galt es fortan technisch zu verbessern und in der künstlerischen Praxis auszuspielen. Nach 1900 entstanden so etwa – durch die Einführung immer leichterer und schnellerer Kameras sowie lichtempfindlicheren Filmmaterials – neue ästhetische Praktiken wie die Schnappschussfotografie und die Straßenfotografie. Kulturell etablierte sich damit eine zuvor unbekannte kategoriale Differenz zwischen faktischer Aufzeichnung und Dokumentation einerseits und fiktionaler Imitation und Inszenierung andererseits. Diese Trennung von Fakt und Fiktion, wie sie zuerst in der Praxis und der theoretischen Reflexion der Fotografie zum Tragen kam, war eine epochale kulturelle Leistung und bedeutete medienhistorisch eine Zäsur.

In seinem ersten Vierteljahrhundert vollzog der Film diesen Prozess nach. Zunächst schienen Post-festum-Inszenierungen beziehungsweise ›Rekonstruktionen‹ historischer Ereignisse – etwa L’Affaire Dreyfus14 oder L’Assassinat de McKinley15 – Filmemachern wie Publikum als Mittel der ›Berichterstattung‹ durchaus so akzeptabel, wie sie es auf dem Theater immer gewesen waren. Nach 1910 setzte sich aber die Ansicht durch, dass eine deutliche Scheidung wie der stehenden auch der laufenden Bilder nach Dokumentation und Inszenierung notwendig sei. 1922 veröffentlichte Dziga Vertov ein einflussreiches Plädoyer für dokumentarische Darstellungsformen.16 Im selben Jahr entstand mit Nanook of the North17 der erste abendfüllende Dokumentarfilm. Der Begriff selbst freilich existierte noch nicht. Ihn – documentary – sollte John Grierson erst vier Jahre später in der Rezension eines weiteren Flaherty Films prägen.18 Analog zur Ausdifferenzierung von gestaltender Fotokunst und dokumentierender (Presse-, Sport-, Sozial-, Kriegs-) Fotografie unterschied auch das Kino nun klar zwischen Spielfilmen und den diversen Varianten des – möglichst – Nicht-Inszenierten, vom künstlerischen Dokumentarfilm bis hin zur kunstlos berichterstattenden Wochenschau.19

Dabei formte sich um die Vorstellung von der Foto- und Filmkamera und ihrer Objektive als ›objektiver‹ oder zumindest ›objektivierender‹ künstlerischer Mittel ein Ideal des Dokumentarischen, das die Kultur in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weit über Fotografie und Film hinaus prägen sollte; insbesondere in der Bildenden Kunst, Architektur und Literatur der Neuen Sachlichkeit, die englisch denn auch New Objectivity hieß. Anders als die Fotografie vermochte der Film jedoch diesen Idealen kaum zu entsprechen. Denn die angestrebte Dokumentation des Wirklichen erforderte technische Bedingungen, u. a. eine entsprechende Beweglichkeit und Unauffälligkeit der Kamera und eine ausreichende Lichtempfindlichkeit des Materials. Diese Voraussetzungen waren in den 1920er und 1930er Jahren keineswegs gegeben; im Gegenteil, mit der Einführung des Tonfilms um 1930 und der daraus resultierenden Notwendigkeit, nun auch Originalton aufzunehmen, verschlechterten sich die Voraussetzungen für nicht-inszenierte Dokumentationen noch einmal. Nachinszenierungen waren entgegen allen Idealen des Dokumentarischen daher bis in die 1960er Jahre die Regel.

Im Rückblick erweisen sich damit der Dokumentarfilm beziehungsweise die Erfahrung des Dokumentarischen in der Zwischenkriegszeit wie auch in späteren Perioden weniger an die Aufzeichnung von Inhalten und mehr an die Formen dieser Aufzeichnung und ihrer Bearbeitung gebunden. Es liegt nahe, diese Formen als Kompromissleistungen zwischen inhaltlichen Interessen, ästhetischem Formwillen und medientechnischen Möglichkeiten zu verstehen. Sobald sich aber spezifisch dokumentarische Formen – etwa der Kameraarbeit, des Schnitts oder der Narration – ausgebildet hatten, begannen sie unabhängig von den Bedingungen zu existieren, denen sie sich schuldeten. Sie wurden in der Rezeption klar erkennbar und in der künstlerischen Arbeit arbiträr verwendbar. Von daher lässt sich das, was wir zu Zeiten unter dokumentarisch verstehen, auch innerhalb anderer – fiktionaler – Kontexte simulieren. Einerseits richtete sich so die kulturelle Sehnsucht, das Common-Sense-Verlangen nach Authentizität spätestens seit der Nachkriegszeit, in der Wolfgang Menge seine Karriere als Film- und Fernsehautor begann, und bis in die Gegenwart hinein auf die Überwindung von Medialität, auf den unmittelbaren Zugriff auf das Reale – auf ein Mit-sich-selbst-identisch-Sein. Andererseits sehen wir in der kulturellen Rezeption medialer Artefakte kursierende »Authentizitätserwartungen« an spezifische Medien und deren formale Gestaltung gebunden, also an ästhetische Formen, und kaum an Referenzen oder Indexikalität, also nicht an das Verhältnis zu dem, was wir für Realität halten.20 ­

Die dem Publikum bald vertraute Trennung von spielerischen und dokumentarischen Formen bereitete allerdings den Boden für einen nächsten Schritt. Denn sie setzte wie jede Unterscheidung das Potenzial zu einer wie immer gearteten Kombination: für ästhetische Experimente, die mit den neuen medial-ästhetischen Kodes des Faktischen und Fiktionalen spielten und in diesem experimentellen Prozess das Kodifizierte hybridisierten. Zur Ausbildung solch faktionaler Formen kam es, bevor sie im Fernsehen der sechziger und siebziger Jahre Bedeutung gewannen, bereits im Stumm- und Tonfilm.

3 Faktionen vor dem Fernsehen: Stummfilm, Radio, Tonfilm

Walter Ruttmanns dokumentarisches Meisterwerk Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt21 lief 1927 in den Kinos. Kaum drei Jahre später, als Wolfgang Menge gerade eingeschult wurde, drehten fünf junge Filmer – Robert und Curt Siodmak, Billy Wilder, Edgar Ulmer und Fred Zinneman –mit Menschen am Sonntag ein nicht minder meisterliches faktionales Gegenstück.22 Mit Laien-Schauspielern im Stil des Alltäglichen inszenierte Ereignisse fingen sie in dokumentarischer Form ein. Der ästhetische Effekt war eine Authentifizierung des Fik­tiven. Erfundenes glich Gefundenem. Die ausgedachten Geschichten gewannen mittels dokumentarischer Anmutung die Aussagekraft, welche wirklichen und zugleich typischen Schicksalen eignet.


Dieser Semi-Dokumentarismus sollte stilprägend werden, nicht so sehr für den deutschen Film, aber – als Folge des Exodus, der Zehntausende aus Deutschland fliehen ließ, unter ihnen auch die fünf Macher von Menschen am Sonntag – für das amerikanische Kino der dreißiger und vierziger Jahre. Den Effekt der Authentizität nutzten zunächst sozialkritische und sozialreformerische Fiktionen, Ende der dreißiger Jahre dann Werke, die der Propaganda und gewalttätigen Expansion des Dritten Reichs opponierten. Schon Confessions of a Nazi Spy23, der erste in der Reihe so genannter Anti-Nazi-Filme, betonte nicht nur die Basierung der Handlung auf einem Tatsachenbericht, dem autobiographischen Bestseller eines FBI-Mannes. Die damals umstrittene Produktion arbeitete auch in hohem Maße mit Bild- und Tonelementen, die dem Publikum aus den tönenden Wochenschauen bekannt waren und daher eine Faktizität der Spiel(film)handlung simulierten.24

Ihren künstlerischen Höhepunkt erreichte die Phase filmischer Faktion im klassischen Hollywoodkino mit Citizen Kane.25 Die Gelegenheit, diesen Film in alleiniger Verantwortung zu machen, erhielt der erst 25-jährige Ko-Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Orson Welles auf Grund des großen Erfolgs der Radio-Faktion War of the Worlds nach H. G. Wells gleichnamigem Zukunftsroman.26 Halloween 1938 hatten Welles und die Mitglieder des New Yorker Mercury Theatre die angebliche Invasion der Erde durch Marsbewohner im Rahmen einer einstündigen Musiksendung inszeniert. Deren vermeintlich reguläres Programm unterbrachen sie mit einer Serie eskalierender Eilmeldungen im Nachrichtenstil. Schließlich berichtete ein Reporter live vom Ort der vermeintlichen Raumschifflandung, und ein Regierungsvertreter, der stimmlich und im Duktus an den amtierenden Präsidenten Franklin D. Roosevelt erinnerte, sprach zur Bevölkerung. Tausende Zuhörer, so heißt es, ließen sich täuschen.27

Von Welles’ erstem Spielfilm erhoffte sich das Hollywoodstudio RKO ähnlich Spektakuläres. Doch für die Wirkung der Sendung waren zwei mediale Eigenschaften des auditiven broadcast-Mediums verantwortlich: die Befähigung zur Live-Berichterstattung und der Umstand, dass Radiosendungen in der Privatsphäre und nach eigenem Belieben rezipiert wurden. So konnte es geschehen, dass jene Zuhörer, die sich erst später zugeschaltet und die Anmoderation wie die anfänglichen Warnungen verpasst hatten, die Sendung für einen Tatsachenbericht halten konnten. Sie wiederum alarmierten andere, die gar nicht Radio oder ein anderes Programm gehört hatten, zum Ein- oder Umschalten. Ein audiovisuelles Äquivalent, ein Massenmedium, das in Echtzeit nicht nur Ton, sondern auch laufende Bilder in die Wohnungen transportierte, existierte Anfang der vierziger Jahre noch nicht.28


Welles war daher gezwungen, seine audiovisuelle Faktion um das geheimnisvolle Leben eines allmächtigen Pressebarons – modelliert nach dem lebenden Vorbild William Randolph Hearst – dem Medium des Kinofilms anzupassen. Dies gelang ihm, indem Citizen Kane die Zuschauer zunächst dort abholte, wo das Versprechen eines Unterhaltungsfilms sie hingelockt hatte: im Genre der Fiktion. Die legendären ersten Minuten, die nächtliche Annäherung an Xanadu und das Sterbezimmer Kanes, operieren stilistisch mit Mitteln des expressionistischen Schauerfilms und der Film-Noir-Investigation. Ein harter Schnitt katapultiert den Film dann jedoch in das nonfiktionale Genre der Wochenschau. Der zehnminütige Beitrag der fiktiven News on the March war stilistisch von einer regulären March of the Time-Produktion bis zur Verwendung scheinbar historischen, beschädigten Bildmaterials nicht zu unterscheiden. Schließlich mündete die vermeintliche Wochenschau in den Blick hinter die Kulissen des Mediums und damit in den reportagehaften Hauptteil des Films. Er prätendiert, die journalistische Recherche zu dokumentieren, in deren Verlauf Mosaikstein für Mosaikstein und notwendig nonlinear Kanes Leben rekonstruiert wird.

 

Beides, der Einblick in die Verfahren der Medienproduktion und die Rekonstruktion der Tatsachen durch Recherche, sollte in den TV-Faktionen der sechziger und siebziger Jahre eine wesentliche Rolle spielen. In seiner Kinojugend bekam Wolfgang Menge freilich von diesen amerikanischen Filmen der Vorfernsehjahre wenig mit. Partiell nur konnte er, konnte das deutsche Publikum das Versäumte nach dem Krieg nachholen. Citizen Kane wurde in Westdeutschland 1962 gezeigt, Confessions of a Nazi Spy und andere Anti-Nazi-Filme, obwohl oder gerade weil an ihnen deutsche Emigranten prominent mitwirkten, erst in den siebziger Jahren. Wesentlicher aber war, dass sich mit dem Fernsehen nun ein audiovisuelles Medium durchsetzte, das wie das Radio, in dem einst Welles War of the Worlds inszenierte, live berichterstatten konnte.

Vor allem zwei Besonderheiten zeichneten sein Programm aus: einerseits die kombinatorische Abfolge traditionell (ab-) geschlossener Medienwerke mit im Ausgang prinzipiell offenen Live-Sendungen, andererseits die mediale Integration dokumentarisch-faktischer Berichterstattung und inszeniert-fiktionaler Unterhaltung. In jedem der vier Bereiche hatten sich in den 1960er Jahren distinktive Formen und Formate ausgebildet. Deren Spezifika ermöglichten den zunehmend erfahrenen Fernsehzuschauern binnen Sekunden nach Zuschaltung die Orientierung, ob sie die Ausstrahlung einer aufgezeichneten Serie sahen oder eine Live-Übertragung beziehungsweise ob sie in eine Spielhandlung oder in nonfiktionale Genres wie Nachrichten, Magazin oder Dokumentation geraten waren. Ästhetisch eröffnete dieser Entwicklungsstand des Mediums – wie einst die Ausbildung nonfiktionaler Formen im Film und im Radio – das Potenzial zur Hybridisierung.

In diesem Kontext versteht sich das Genre der TV-Faktion, das sich um die Mitte der sechziger Jahre international und vor allem im europäischen Fernsehen ausbildete. In Deutschland ging es den institutionell Verantwortlichen, wenn man ihren Selbstauskünften folgt, zu dieser Zeit um zweierlei: zum einen um eine Adaptation des neuen audiovisuellen Mediums an die Qualitätsmaßstäbe des alten. Das Fernsehspiel sollte qualitativ zum Film auf­schließen, kinematografischer werden. »Mit ihrem Leiter seit Mitte der 1960er Jahre, Günter Rohrbach, wandte sich das WDR-Fernsehspiel verstärkt filmischen Formen zu, setzte auf eine Zusammenarbeit mit den Regisseuren des Neuen deutschen (Kino-)Films wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Wim Wenders u.a. [...].«29

Gleichzeitig jedoch wollten die Verantwortlichen auch mit ihrem – immer noch neuen – Medium experimentieren, »die fernsehgenuinen Formen des Erzählens und Darstellens weiterentwickeln.«30 Dies war auch der Ansatz, den Wolfgang Menge verfolgte. Sein Fokus lag dabei auf dem, was vielleicht nicht wahrscheinlich, aber dennoch möglich schien. Zwischen 1968 und 1973 schrieb er so – neben vielem anderen – drei bahnbrechende TV-Spiele, in denen er auf unterschiedliche Weise damit experimentierte, Faktisch-Dokumentarisches mit Fiktiv-Fiktionalem zu paaren. Dass dies gelang – in der öffentlich-rechtlichen Institution erlaubt wurde –, verdankte sich wesentlich dem historischen Augenblick:

»Medienpolitisch und -ökonomisch [...] befinden wir uns noch in einer Situation, in der eben solche medialen Forschungsexperimente jenseits des Drucks des Marktes und der Konkurrenz – und das heißt im Fernsehdeutsch: ohne Blick auf die Quote – wenn schon nicht gefördert, so doch zumindest immer wieder geduldet wurden.«31

4 Spiel mit der Faktionalität I: War Game und Die Dubrow-Krise

Im Laufe der sechziger Jahre erweiterte sich das bundesdeutsche TV-Angebot mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) und dann den dritten ARD-Programmen vom Monopol des Ersten Programms zum öffentlich-rechtlichen Oligopol. Seit Mitte des Jahrzehnts dominierten Fernsehsendungen das öffentliche Bewusstsein und Leben, ablesbar an Wasserverbrauch und Verkehrsaufkommen. In einer Vielzahl von Experimenten bildeten sich einerseits neue soziale Strukturen und kulturelle Normen heraus, andererseits die meisten jener ästhetischen Formen – etwa Serie, Show, Magazin –, die für den Rest des Jahrhunderts das deutsche TV-Programm prägen sollten. 1967 wurde in der Bundesrepublik das Farbfernsehen eingeführt, zwei Jahre später auch in der DDR. Erst mit dieser gesteigerten fotorealistischen Wirkung wurde das Fernsehen zum zentralen, der medialen Konkurrenz von Film und illustrierten Magazinen überlegenen Mittel der Welterfahrung. Um 1970 vollendete sich so der Aufstieg des Fernsehens von einem Massenmedium unter anderen zum kulturellen Leitmedium, d. h. zu dem Medium, das die Weltwahrnehmung, das Menschenbild und die Wertvorstellungen der Zeitgenossen dominierte.

Diesem nachhaltigen Wandel der Rolle, die das Fernsehen innerhalb der zeitgenössischen Kultur spielte, korrelierten ästhetische Experimente innerhalb des Mediums selbst, die seiner Zukunft wie generell der medialen Zukunft die Bahn zu brechen suchen. Dabei formten sich nicht zuletzt neue Erzählweisen, die dem Fernsehen zuvor unbekannt waren. Zu ihnen gehörte die aufkommende TV-Faktion. Ihr selbstreflexives Spiel mit der eigenen Medialität indizierte ein Sich-selbst-problematisch-Werden des Fernsehens und damit den Punkt seiner medialen Maturität. Gleichzeitig aber versteht sich die Häufung faktionaler Werke auch im Kontext gesamtkultureller Tendenzen zur Neudefinition dessen, was als authentisch begriffen wurde.


Die Reihe der europäischen TV-Faktionen eröffnete 1965 The War Game.32 Das 48 Minuten kurze Fernsehspiel, von Peter Watkins für die BBC geschrieben und realisiert, schilderte im Stil zeitgenössischer Fernsehdokumentationen die verheerenden Folgen eines sowjetischen Atomschlags auf Großbritannien. [Abb. 1] Scheinbar live gefilmte Szenen vom zivilisatorischen Zusammenbruch montierte Watkins mit TV-üblichen Passantenbefragungen und fingierten Stellungnahmen von Experten und Regierungsvertretern. The War Game kombinierte so die – zur Zeit des Vietnamkriegs besonders – brisante Thematik der möglichen Aufheizung des Kalten Krieges formal mit einer ästhetischen Transgression. Das faktionale Schlimmstenfalls-Szenario, präsentiert als Ergebnis journalistischer Recherche, stellte das massenmediale System Fernsehen selbst auf die Probe: seine medienästhetischen Formate wie seine medienpolitische Verfasstheit. Nach langen Auseinandersetzungen mit dem Autor wie mit intervenierenden Regierungsstellen verweigerte die BBC schließlich die Ausstrahlung. Zuschauer fand die TV-Faktion damals nur außerhalb ihres Mediums – in den Filmkunstkinos.33

Zwei Jahre später nutzte Wolfgang Menge, nachdem er schon in der Fragestunde mit den technischen Gewohnheiten und ästhetischen Formaten des Fernsehens gespielt hatte, in seinem nächsten Drehbuch ein solches TV-Format – das Nachrichtenmagazin – als Formprinzip seines Fernsehspiels. Inhaltlich nahm er dabei in Die Dubrow-Krise vorweg, was 20 Jahre später tatsächlich geschehen sollte: die deutsche Wiedervereinigung zwischen Rummel und Reibach, von »Reprivatisierungsansprüchen über die Thematisierung der Währungsunion bis hin zu Fragen der Eingliederung ins westliche System.«34 Durchgespielt wurde dieses historische Szenario im Kleinen, am Beispiel des fiktiven ostdeutschen Grenzdorfs Dubrow.35 Von dessen überraschender Aus- und späteren Wiedereingrenzung durch die DDR-Führung im Zuge einer Grenzbegradigung erfahren wir im Laufe einer vermeintlichen ARD-Sondersendung, die sich die Aufarbeitung der wenige Monate zurückliegenden Krise zur Aufgabe gestellt hat. Im Fernsehstudio diskutieren Zeugen der Krise. Sie stellen das vergangene Geschehen aus ihrer jeweils subjektiven Sicht dar. Der Moderator erläutert ›objektive‹ Hintergründe an Hand von Schautafeln. Immer wieder werden vorproduzierte Beiträge zu einzelnen Aspekten der Krise eingespielt. [Abb. 2]