Der Zorn

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JUTTA LIMBACH
Zorn – Europas erstes Wort

Zorn. Wer denkt bei diesem Wort nicht prompt an den Auftakt der Ilias. »Den Zorn des Achill« möge die Göttin besingen. So ruft Homer in der ersten Zeile der Ilias Pallas Athene an. Gewiss, er – Homer – will erzählen. Doch gemäß einem alten Sängerbrauch gibt er sich bescheiden. Er stellt es so dar, als leihe er der Göttin seine Stimme, als sei er nur ein Medium ihrer Erzählkunst. Für Peter Sloterdijk ist es der Zorn, mit dem im alten Westen alles anfing. In seinem 2008 veröffentlichten Buch Zorn und Zeit bezeichnet er den Zorn als Europas erstes Wort. Der Philosoph mag sich auf diese Weise sein Thema, seinen Gegenstand der Reflexion zuspitzen. Unbestritten ist die Ilias das erste große Werk der europäischen Kultur.

So kommt es auch nicht von ungefähr, dass ein Krieg, der Kampf um Troja, im Mittelpunkt der Erzählung steht. Diese handelt von Zorn und Wut, von Gewalt und Grausamkeit, von List und Tücke. Zorn plagt nicht nur den von einem schnell erregbaren Temperament gebeutelten Achill. Auch Agamemnon, seinem Widerpart im Streit um den Vorrang im griechischen Heer, steigt gern die Zornesröte ins Gesicht. Auch berichtet die Ilias von so mancher Raserei anderer Kampfgefährten. Man gerät eben schnell in Wallung im Streit um die Beute, zuweilen in Gestalt schöner Frauen. Die beleidigte Ehre, das geschändete Ansehen und der vorenthaltene Respekt erweisen sich als konfliktträchtige Motive männlicher Eitelkeit.

Zwar kennt die Ilias auch zürnende Göttinnen, die – wie Athene den aufgebrachten Achill – zu Selbstdisziplin mahnen. Doch zornige Frauen kommen in dem Epos nicht vor. Vorzugsweise die Trauer beherrscht ihr Gemüt. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Zorn in der altüberlieferten Geschichte allein dem männlichen Geschlecht vorbehalten gewesen sei. Wir kennen aus den griechischen und germanischen Sagen auch zornige Frauen, die wie Medea oder Kriemhild vor Mordtaten nicht zurückschreckten. An diesen Frauen lässt sich beispielhaft erkennen, dass der Zorn, wenn er sich mit Rachsucht oder Verzweiflung paart, selbstzerstörend wirkt.

Der Zorn und die Wut

Überhaupt plage der Zorn, so wird immer wieder gern behauptet, vor allem das weibliche Geschlecht. So beschreibt Francis Bacon den Zorn als eine Charakterschwäche, die sich am besten aus der »Haltlosigkeit« derjenigen erkennen lasse, die er beherrsche: »Kinder, Weiber, Greise, Kranke«. (Zitiert nach Jürgen Werner, S. 63). Und schon Seneca, einer der großen Philosophen des alten Roms, betrachtete in seinem Buch De ira diesen Gemütszustand als »eine Störung« bei Frauen und kleinen Kindern. Wohl komme diese auch bei Männern vor, so muss er konzedieren. Doch finde man eben auch bei diesen kindische und weibische Anlagen.

Die Sagengestalt der Medea, die sich bis zum heutigen Tag auf dem Theater und in der Oper einer großen Popularität erfreut, erscheint auf dem ersten Blick als das probate Beispiel. Medea ist das Urbild einer leidenschaftlichen Frau, deren gnadenlose Rachsucht das Publikum noch immer erschaudern lässt. Eine Bombenrolle fürwahr. So Reinhard Brembeck in seiner Rezension der Opern-Aufführung Medea in Corinto in der Bayerischen Staatsoper: Nadja Michael, so lesen wir, singe die Medea in ihrem Furor, wutkochend, schonungslos – auch gegen sich selbst.

Wann sprechen wir eigentlich von Zorn und wann von Wut? Sind beide Wörter gleichbedeutend, so dass man sie ohne Missverständnis wahlweise benutzen kann? Ich meine: nein. Die alten Lateiner gebrauchten gemeinhin allein das Wort »ira«. So auch Seneca. Die Art, wie er die von ihm missbilligte Regung als etwas Zügelloses und Unbezähmbares charakterisiert, lässt eher an das Wort »Wut« denken. Seine Übersetzerin hat denn auch den Titel De ira in der Reclam-Ausgabe treffend mit Über die Wut übersetzt und konsequent diese Wortwahl im Text beibehalten.

»Ira« wird im Lexikon der lateinischen Sprache mit »Zorn, Empörung, Wut« übersetzt. Auch die deutsche Sprache kennt Wörter mit einer mehrfachen Bedeutung oder einem weiten semantischen Spielraum. Man muss den Kontext verstehen, um den gemeinten Sinn zu entschlüsseln.

Wenn auch eine gewisse Verwandtschaft zwischen Zorn und Wut nicht zu leugnen ist, so handelt es sich doch nicht um Synonyme, die einander ersetzen könnten. Diese Einsicht wird durch die verbreitete Neigung erschwert, den Begriff Zorn eher durch seine Abarten – wie Jähzorn und Wut – zu definieren als durch seine Eigenart. Schon der Wutanfall macht deutlich, dass die Wut noch weiter von der Vernunft entfernt ist als der Zorn. Und laut dem Brockhaus Psychologie unterscheidet der Gehalt an rationalen oder normativen Komponenten den Zorn von der Wut. (2. Aufl. 2009, S. 699). Ein Tier, ein Sturm kann wüten, gewiss auch ein Rasender, aber zürnen kann nur ein Mensch, von Gott ganz zu schweigen.

Zwar können sowohl Zorn als auch Wut eine Antwort auf eine Enttäuschung oder eine Ungerechtigkeit sein. Doch ist sie beim Zorn mit Ernst und Nachdenklichkeit gepaart. Die Wut ist der Zorn der Hilflosen, so lesen wir bei Jürgen Werner, der unter den von mir zu Rate gezogenen Autoren einer der wenigen ist, die sorgfältig zwischen Zorn und Wut unterscheiden. Die Wut besitzt laut ihm kein Ziel, sie schlage deshalb blindwütig um sich, sei maßlos und kreise nur um sich selbst.

Zorn als positive Antriebskraft

Ich bin auf der Suche nach einem Zorn, der den Anfechtungen der Maßlosigkeit, der Ziellosigkeit und der Ichbezogenheit widersteht. Die Gratwanderung zwischen Zorn und Wut ist trotz dieser Wegmarken ein schwieriges Unterfangen, weil, was sich analytisch trennen lässt, in der Wirklichkeit in Grauzonen ineinander übergeht. Das gilt umso mehr, als der Zorn trotz seines Bezugs zur Vernunft auch mit Erregung und Aggressivität verbunden sein kann.

Mein Wunsch, dem Zorn auch etwas Positives abzugewinnen, mag angesichts der Tatsache verwegen erscheinen, dass der Zorn neben der Wollust, dem Neid, Geiz und Hochmut sowie der Völlerei und Trägheit zu den sieben Todsünden gezählt wird. Die Todsünden sollen – niemand weiß genau zu sagen, wann im Laufe der Jahrhunderte – aus den Lasterkatalogen des Paulus herausdestilliert worden sein. Im Mittelalter bis zur Neuzeit haben die sieben Todsünden die künstlerische Phantasie angeregt. Man denke nur an die im Prado in Madrid zu bewundernde Tischplatte zu den sieben Todsünden, geschaffen von Hieronymus Bosch, und das in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe ausgestellte Bild von Otto Dix. Das von Albrecht Dürer zum Teil illustrierte – ebenfalls in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe zu bewundernde – Buch von Sebastian Brant Das ­Narrenschiff stand im Mittelpunkt der Opern-Festspiele des Sommers 2010.

Der Medea gleich beschäftigen uns bis auf den heutigen Tag die Todsünden oder die Hauptlaster. Sind doch die Menschen über die Jahrhunderte um keinen Deut besser geworden. Nicht nur, weil Medea so eindrucksvoll rast und tobt, fasziniert uns noch heute diese tragische Frauengestalt. Auch noch heute töten, wenn auch sehr vereinzelt, Eltern beiderlei Geschlechts die gemeinsamen Kinder, um den sich trennenden Partner aufs Tiefste zu demütigen und dort zu treffen, wo er am verletzlichsten ist. Wir erklären uns dieses unmenschliche Verbrechen häufig mit einer Depression, sprich mit einer Geistes- oder Gemütskrankheit. Vor dem Hintergrund des Mythos und orientiert an den Problemen wie Erkenntnissen der Gegenwart versuchen wir, der vielschichtigen Wirklichkeit dieses Verbrechens auf die Spur zu kommen.

Schlicht einen Mangel an Vernunft zu konstatieren, reicht uns heute nicht mehr aus. Laut modernen Interpretationen des Sagenstoffs scheitert Medea nicht nur, weil sie eine Frau ist, sie scheitert vor allem, weil sie eine Ausländerin ist. So Aribert Reimann zu seiner an der Wiener Staatsoper im Frühjahr 2010 uraufgeführten Oper Medea. Ihre Fremdheit macht sie einsam. Dass Integration eine wechselseitige Anstrengung voraussetzt, war im alten Griechenland noch weniger bekannt als in unserer Zeit.

Zorn als Todsünde oder Laster

Bücher über die Todsünden und Lasterkataloge haben heutzutage Konjunktur. Die inkriminierten Laster werden immer zahlreicher. Das Buch der Laster von Wolfgang Sofsky nennt noch die Gleichgültigkeit und Vulgarität, das Selbstmitleid und die Unterwürfigkeit, um nur einige der jüngsten Zutaten zu erwähnen. Man könnte ja stattdessen Tugendbücher verfassen, und dartun, welche Charaktereigenschaften den vollkommenen und mündigen Staatsbürger von heute auszeichnen sollten. Aber es schreibt sich einfach unterhaltsamer über Todsünden und Laster. Eine kleine Lesefrucht aus dem Buch der Laster, mit der das Kapitel Zorn eingeleitet wird, mag das illustrieren:

Grimm fasst ihn und zerreißt ihm die Brust. Teigige Blässe überzieht sein Gesicht, die Hand ballt sich zur Faust, finster starrt er dem Widersacher entgegen. Auf einmal ist jede Müdigkeit verflogen. Die Augenbrauen ziehen sich zusammen, ein scharfer Zug nagt an den Lippen. Es ist, als springe das Gesicht zum Angriff nach vorn. Jeder Nervenstrang ist gespannt, kurze Atemstöße fahren aus der Lunge, Schweiß überzieht die Stirn. Untrüglich sind die Zeichen des Zorns. Ein jeder kennt sie, und jeder fürchtet sie. Der Körper kocht. Ohne Zustimmung des Geistes bricht der Zorn los. Er kennt kein Vergeben, keine Versöhnung. Sein Schrei zerfetzt jeden anderen Laut. Zerstörung ist sein einziges Ziel, Vernichtung seine wahre Erfüllung. (Sofsky, S. 221)

Ein gleichermaßen starker Text zu Sanftmut lässt sich kaum ver­fassen!

Was bei den ohne Zweifel lesenswerten Texten zu den Tod­sünden und Lastern auffällt, ist, wie fließend die Übergänge zwischen Zorn und Wut selbst bei jenen Autoren sind, die zwischen beiden Phänomenen unterscheiden. Besser spräche man in all diesen Texten – wie die Übersetzerin des Seneca-Buches De ira – von »Wut« statt von »Zorn«. Jedenfalls dann, wenn man sich solcher ­Zerrbilder bedient, die das Gesicht des Zornigen zur grimmigen Fratze entstellen.

 

Mit Zorn und Zärtlichkeit

Wer dem Zorn eine positive Lesart im Sinne einer Kraftquelle abgewinnen will, ist nicht notwendig religiös unmusikalisch. Diese ermutigende Einsicht wurde mir auf dem Rückweg von einem Theaterbesuch auf einer Berliner U-Bahn-Station zuteil. Auf einem großen Plakat von Misereor, das eine schwarze Frau mit einer Traglast auf dem erhobenen Haupt zeigte, las ich die Losung:

Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen.

Misereor will mit den Gegensätzen »Zorn« und »Zärtlichkeit« das Spannungsfeld beschreiben, in dem sich die Arbeit des Entwicklungswerks bewegt. Stehe auf der einen Seite der Zorn über die ungerechten Verhältnisse, so stehe auf der anderen das Mitgefühl mit dem Nächsten. Hier sollen aber nicht gegensätzliche Gefühle mobilisiert werden. Die zornige Einsicht in die Not des Schwarzen Kontinents soll die Nächstenliebe mit Nachdruck beflügeln. Auf den Spuren der Erkenntnis von Gregor dem Großen, dass sich die Vernunft mit größerer Wucht dem Bösen entgegen stellt, »wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht«.

Zornig werden, heißt, beteiligt sein. So hat es John Osborne im Vorwort zu seinem Theaterstück Blick zurück im Zorn treffend gesagt. Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit können wir Europa uns schon deswegen nicht gestatten, weil wir an der afrikanischen Misere nicht unschuldig sind.

Auch können wir nicht über ein Menschenrecht auf Nahrung und Obdach räsonieren, wenn wir nicht die Menschen Afrikas tatkräftig darin unterstützen, ihre Lebensgrundlagen eigenständig zu erarbeiten.

Bei Misereor hat man offenbar Thomas von Aquin und Josef Pieper, den Ghostwriter des Papstes, gelesen. Beide verwahren sich dagegen, dass der Zorn gern als ein Beispiel für Maßlosigkeit herhalten muss, wenn es darum geht, die vierte Kardinaltugend, die temperantia, durch negative Verhaltensweisen zu veranschaulichen. Der Heilige Thomas, bekanntermaßen ein sinnesfreudiger Mann, verwahrte sich gegen das – nicht nur unter Christen – gepflegte Vorurteil, dass alles Zürnen böse sei. Zwar tadelt auch er den maßlosen, den unbeherrschten Zorn, schon wegen seiner zerstörerischen Kraft als Untugend. Andererseits zählt er den Zorn zu den Urkräften des menschlichen Wesens. Sanftmut, die dem Zorn gern entgegen gestellt wird, bewirke nur, dass der zürnende Mensch seiner selbst mächtig bleibe. Sanftmut zivilisiere den Zorn, aber schwäche ihn nicht ab. Denn, so Josef Pieper, jene »blassgesichtige Harmlosigkeit, die sich leider oft mit Erfolg für Sanftmut ausgibt, soll doch niemand für eine christliche Tugend halten«! (S. 270)

Der Volkszorn

Die Zwiespältigkeit des Zorns lässt sich häufig bei Protestaktionen einer politischen Gruppe betrachten. Die Zwiespältigkeit meint das Spannungsverhältnis zwischen beherzter Anteilnahme und der Gefahr des maßlosen Handelns. Wenn der Zorn eine größere Gruppe der Bevölkerung bewegt, sprechen wir gern von Volkszorn. Dieser beschäftigt uns spätestens seit der Französischen Revolution und bis auf den heutigen Tag. Die Geschichte lehrt, dass die Gefahr des Umschlags in die Irrationalität bei der Empörung des Volkes besonders groß ist. Totalitäre Regime haben gern den Volkszorn gesät und instrumentalisiert, um politisch gesteuerte Verbrechen zu legitimieren. Die »kochende Volksseele« musste herhalten, um die »Schutzhaft« von politischen Gegnern, d. h. deren Verschleppung in Gestapo-Keller und Konzentrationslager zu rechtfertigen.

Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Volkszorn kein Haftgrund ist. Die »Erregung der Bevölkerung«, die es unerträglich finde, wenn ein »Mörder« frei herumlaufe, vermöge die Verhaftung eines Beschuldigten nicht zu rechtfertigen. Nicht nur die Juristen wissen, dass bestimmte Untaten auch heute den Volkszorn entflammen können.

Gegen die erzürnte Reaktion politischer Gruppen auf ein politisches Tun oder Lassen ist in einer Demokratie nichts einzuwenden. Der kollektive Zorn gibt dem Volk eine Stimme. Auch wenn in der Demokratie jeder Einzelne zählt, sind die Bürgerinnen und Bürger doch nur gemeinsam stark. Auch eine die Allgemeinheit betreffende Aktion eines Wirtschaftsunternehmens muss sich Kritik gefallen lassen. Sind doch gegenwärtig nicht nur die Politiker, sondern auch die Banker und Finanzmanager ein bevorzugtes Ziel des Volkszorns. Widerspruchsgeist und Wehrbereitschaft sind eine demokratische Tugend. Kritikverträglichkeit ist das Mindeste, was die politischen und wirtschaftlichen Eliten eines demokratischen Gemeinwesens üben müssen. Wie hat es Raymond Aaron so treffend gesagt: Die Diktatur organisiert den Beifall, die Demokratie organisiert die Kritik.

Lassen Sie mich an den von Greenpeace und anderen Institutionen erfolgreich angestifteten Boykott des Shell-Konzerns erinnern. Shell wollte bekanntlich die ausgediente Ölplattform Brent Spar im Meer versenken. Selbst die politischen Eliten schlossen sich dem Boykott an. Die Umsätze von Shell brachen um die Hälfte ein. Der sich im Kaufboykott materialisierende Volkszorn war schließlich von Erfolg gekrönt: Shell lernte.

Zum respektablen Zorn gehört »die Erkenntnis und Anerkenntnis einer Rechtssphäre«, so treffend Jürgen Werner (S. 62). Gewalttätigkeiten – wie die Verletzung von Polizisten durch Splitterbomben während der Berliner Demonstration gegen das Sparkonzept der schwarz-gelben Koalition – diskreditieren den öffentlichen Protest. Trotz dieser Einsicht ist noch kein Verfahren entwickelt worden, mit dem gewaltbereite Kleingruppen in einem Aufmarsch isoliert werden können. Weniger schärfere Strafen als vielmehr bürgerliche Wachsamkeit und Abwehr jener destruktiven Kräfte verspricht Abhilfe. Das war das Großartige an den Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989, dass in diesen das Gebot der Friedfertigkeit bis zum Ende der Diktatur hochgehalten worden ist.

Die Zukunft den Sanftmütigen?

Die Zukunft gehöre den Sanftmütigen, so hat es einmal ein Bewerber um das Amt des Bundespräsidenten prophezeit. Hier scheint der Wunsch Vater des Gedankens gewesen zu sein. Die Verschiedenheit der Menschen und die Gegensätzlichkeit ihrer Interessen werden auch künftig Konflikte zur Folge haben, die sich nicht mit Sanftmut harmonisieren lassen. Der gerechte – gegen Unrecht und Ungerechtigkeit gerichtete – Zorn wird immer wieder aufflammen. Die Dramatik des Zorns wird nicht auf die Bühne verbannt werden, sondern auch künftig als Energiespender in Gesellschaft und Politik eine Rolle spielen. Gewiss, der Zorn kann Gutes und Übles bewirken. Handelt es sich doch um einen zwiespältigen Gemütszustand: Leicht geneigt, sich ins Maßlose zu steigern, entfaltet der Zorn zerstörerische Kräfte. Moderiert durch die Vernunft und bürgerschaftlich organisiert, kann der Zorn zu einer Kraftquelle werden, die die demokratische Gesellschaft verändert. Die Antriebskraft des Zorns verdient jedoch nur dann Respekt, wenn sie mit dem Verzicht auf Gewalt verbunden ist.

JÜRGEN WERNER
Der Zorn
oder: Wie die Unterwelt den Kopf regiert

Tief liegen die Quellen des Lebens. Man muss hinabsteigen, weit hinab in die düstere Seelenhöhle, um ihr Gurgeln zu hören. Dort, in der schützenden Dunkelheit des Vergessens, wo das Urgestein des Daseins noch flüssig ist, angereichert mit wilden Instinkten und den giftigen Gasen der Verdrängungen, dort köchelt die Lebensmaterie leise vor sich hin. An den Anfang seiner Existenz gelangt der Mensch nur, indem er die Schichten abträgt, die ihn geformt haben. Aber selbst, wenn der Schleier aller künstlichen Gestalten fortgerissen ist, in diesem reinen Raum des Ursprungs, bleibt vieles verborgen. Denn der Blick findet keinen Halt. Er wird aufgesogen von einer glühenden, wabernden Masse, die jederzeit bereit ist, sich nach außen und oben zu ergießen und die seltsamsten Verkrustungen zu bilden. Der Anfang ist unbestimmt – soll man ihn unergründlich nennen?

Es gibt Orte, die für die Vernunft unzugänglich bleiben. Gewiss, sie forscht sorgfältig und bohrt unnachgiebig. Auf ihrer Entdeckungsreise durch das Land des Bewusstseins vermisst sie den kleinsten Winkel. Sie setzt dem Leben ein Maß, erlässt Gesetze und errichtet Gebäude aus Begriffen. Die Vernunft bestimmt, wie der Mensch existiert, wovon er sich nährt, wo er wohnt. Nichts von dem, was sie erkennt, lässt sie in rohem Zustand. Aber dass er lebt, dieses Dass, in dem aller Anfang sich zusammengezogen hat, erreicht sie nicht. Der Ursprung ist unauslotbar.

Woher wir von dieser unheimlichen Unterwelt wissen? Die Haut des Menschen ist dünn, zu verletzlich, um der gewaltigen Macht des Daseins zu widerstehen, dem inneren Druck dauerhaft standzuhalten. Von Zeit zu Zeit durchbricht es die Fassade und zerreißt den Mantel aus Konventionen und Überlieferungen, mit dem sich der Mensch vor der gefährlichen Nähe des Lebens schützt. Oft genügen ein falsches Wort oder die ungeschickte Geste eines anderen – und sein Gesicht versteinert sich. Plötzlich bebt der ganze Körper, die Stimme zittert, die Augen flackern, all jene Vorboten stellen sich ein, die ankündigen, dass die Katastrophe, der Ausbruch, dieses fürchterliche Naturereignis unvermeidlich ist. Anstrengungen, das Hervorquellen der siedenden Gemüts-Magma zurückzuhalten, sind aussichtslos. Je größer der Einsatz ist, die Explosion zu verhindern, mit desto gewaltigerer Wucht entlädt sich kurz darauf die Spannung. Das Leben ist allemal stärker als das, was wir für das Leben halten. In solchen unvermittelten Eruptionen, die die Ruhe unserer Existenz empfindlich zu stören vermögen, bringt es sich in Erinnerung. Es irrt, wer glaubt, wir tanzten auf einem Vulkan: Wir sind einer.

In der Geologie der Leidenschaften haben sich die Wut und der Zorn zu einem merkwürdigen Gebilde formiert. Sie treten auf wie Zwillinge der Zerstörung. In ihnen äußert sich die ganze Vernichtungsmacht des Menschen, ohne Umschweife und Verstellungen. Und dennoch: Diese Kraft, der nichts als Verwüstung zu eigen ist, der nichts kostbarer ist als ihr grausames Werk, die vor nichts zurückschreckt und alle Hemmungen sprengt, diese verheerende Kraft ist – der Wille zum Leben. Was sich wie ein fauchender Dämon gebärdet, ist, Thomas Bernhard hat es gesagt, »eine Folge der immer noch viel zu hohen Temperaturen der Schöpfung«. In den Abgründen eines Menschen arbeitet das ursprüngliche Chaos wie eine feurige Substanz. Ab und zu ebnet es sich mit brachialer Gewalt einen Weg nach oben und verschafft sich für einen Augenblick Erleichterung. Vor Glück, aus der atemraubenden Enge gesellschaftlicher und geschichtlicher Formen ausgebrochen zu sein, fängt es an zu jubeln. Doch wenn das Chaos jubelt, klingt es wie Gebrüll.

Nicht der Ordnung, aber der Zeit nach scheint der Zorn, oder genauer: das wütende Gebrüll die erste Leidenschaft zu sein. Kaum erblickt ein Mensch das Licht der Welt, läuft er schon blaurot an und beginnt zu schreien. Seine Hände sind zu Fäusten verkrümmt, der kleine Körper vibriert unter der Anstrengung dieses ersten extrauterinen Tobsuchtsanfalls. Noch hat er keinen Grund zu solchen Klagelauten, er vermag ihn freilich auch gar nicht zu haben, ist er doch aufgebracht, bevor sich irgendetwas gegen ihn verschwören könnte. Allein der Anblick dieser Welt scheint auszureichen, den Menschen unmittelbar nach seinem Eintritt ins Leben schon zu einer elementaren Wut zu reizen. Es genügt ein einziger Anlass: der lästige Zwischenfall, dass diese Geburt überhaupt zustande gekommen ist. Dass er, dieser Mensch, so ist, wie er ist, und dass sie, diese Welt, auch nicht anders kann, und – was das Fass zum Überlaufen bringt – dass beide, ausgerechnet diese beiden einander finden mussten, wo sie sich doch nie gesucht hatten.

In der ersten Stunde des menschlichen Lebens röchelt das Chaos noch aus Verachtung über seine Kreation. Wieder ist nicht die Gestalt gelungen, die geschaffen werden sollte. Immer noch harrt die Welt auf ihre endgültige Erlösung. Solange die Säuglinge brüllen, sind Mensch und Welt unversöhnt. Denn der erste Schrei, dieser wutschnaubende Urlaut, formuliert die Anklage des Lebens, dass diese Welt nicht die beste aller Welten ist. Alle Welt soll es erfahren und auf ihre Unvollkommenheit gestoßen werden.

In diesem Vorwurf versteckt sich aber auch die verzweifelte Ahnung, man selber könnte einen Vertrag auf Lebensdauer mit dieser fragmentarischen Welt geschlossen haben. Wie ein Schatten legt sich die Erkenntnis auf das neugeborene Leben. Mit dem Sich-Einlassen auf eine fehlerhafte Umgebung hat man den Makel angenommen, er klebt, wie Pech an der Hand, am Charakter und bedeutet, dass auch der Mensch nicht der beste aller Menschen ist. Nichts ist unerträglicher als ein solches Eingeständnis: Obwohl man prinzipiell ein anderer sein könnte, man bliebe auch in der Verwandlung derselbe. Vor der Instanz der uns allen gemeinsamen Unzulänglichkeit verschwinden die Unterschiede, die das Leben ausgebildet hat.

 

Dennoch versucht es der Mensch immer wieder; keine größere Sehnsucht scheint er zu kennen als die, ein anderer zu werden, vor sich und seinen beschränkten Möglichkeiten zu fliehen. Wer behauptet, an sich selber genug zu haben, vertuscht nur die Angst vor seiner Freiheit. Der Wunsch, sich zu verlassen, kennt keine Müdigkeit und ernährt nebenbei eine ganze Industrie, die Tourismusbranche. Meistens lacht die Wirklichkeit aber unseren schönen Träumen Hohn. Von Erbarmen mit uns armen Menschenkindern will sie nichts wissen und erzieht ihre Zeitgenossen dazu, weniger zu erwarten und auf das Geringste zu hoffen. Gleichsam als Lohn wird ihnen jene Verzweiflung erspart, aus der sich die Wut unterhält: Wer aus seiner Haut nicht schlüpfen kann, fährt aus ihr heraus. Die Wut ist eine Aggression, die nichts zu ändern vermag. Daher lässt sie sich oft an toten Gegenständen aus. Bevor sich der Mensch vor Gram selber auffrisst, zerschlägt er lieber Porzellan. Ihre Gewalt bezieht die Wut aus der Ohnmacht. Das ist ihre verbissene Paradoxie: Weil sie nichts zu bewirken vermag, reagiert sie so heftig. Dem, der kaum glaubt, dass sich andere Möglichkeiten durchsetzen werden, dem, der auf alle Auswege verzichtet hat, dem bleibt nur noch der eine: die Vernichtung. Die Wut ist zu klug. Sie weiß alles besser. Aber sie verzagt an diesem Wissen. Es ist das nicht gelebte Leben, das sie quält.

Für den Säugling bedeutet der Austritt aus der Geborgenheit des Mutterleibes einen tiefen Einschnitt in seine künftigen Möglichkeiten. Deswegen schreit er. In der Geburt annonciert sich der Beginn des Sterbens, des Endes ungezählter Wege, die ein Mensch nie begehen wird. Sein schrilles Gebrüll, ein Gemisch aus Angst und Anklage, protestiert gegen die Ungerechtigkeit einer Welt, die einem viele Möglichkeiten verheißt, wenige gönnt und zuletzt nur eine einzige Wirklichkeit übrig hat: den Tod.

Als Anatol Ludwig Stiller, der Mann, dem man seine Identität nachweisen musste, weil er sich weigerte, sie anzuerkennen, den man überführen musste, er selbst zu sein, da er ein anderer zu sein vorgab, als dieser Stiller seinem Vater gegenüberstand und von ihm wiedererkannt wurde, brach er zusammen. Wie wahnsinnig raste er, schäumend vor Wut darüber, dass seine Vergangenheit ihn eingeholt und alle seine neuen Hoffnungen zunichte gemacht hatte, weggewischt, als seien sie bloß mit Kreide auf eine Tafel gemalt gewesen: »›Schluss jetzt!‹, schrie ich, und meine Lächerlichkeit, ich fühlte es, war so grenzenlos, der Augenblick so unerträglich – aus purer Hilflosigkeit ergriff ich irgendeine Gips-Sache, anfänglich nur, um zu drohen, sah aber das gelassene Gesicht der schönen Julika, ihre kaum lächelnde Gewissheit, dass ich, ihr Stiller, niemals wagen würde, irgendetwas gegen sie zu schleudern, und siehe da, ich wagte es auch nicht. Ich schmetterte das Gips-Zeug irgendwohin, meiner Lächerlichkeit bewusst, wie gesagt, und wütend über diese meine Lächerlichkeit (die andern verhielten sich durchaus würdig) nahm ich das nächste, einen Kopf, schmetterte ihn auf den Boden, wo er bloß rollte und nicht zersprang, ich fühlte eine Ohnmacht wie in bösen Träumen, eine Ohnmacht sondergleichen, so kräftig ich das Zeug auch schleuderte, dabei übrigens von niemand behindert, auch mein Verteidiger und Knobel sahen nur zu, verdutzt, jedoch vollends überzeugt, dass ich der verschollene Herr Stiller bin und somit das Recht habe, in diesem Atelier alles kurz und klein zu schlagen, nur das Hundchen bellte, und ihr Missverständnis spürte ich wie eine Lähmung, derart, dass ich diese Dinger kaum von den Sockeln zu heben vermochte, also hielt ich mich an die kleineren Figuren, knallte sie gegen die Wand, einige zersprangen dann doch, was mich in Lust versetzte, doch drohte schon die Blamage, dass meine Wut nicht ausreichen würde, alles zu zerschmettern, nur so das Kleine, während die größeren Arbeiten, weil ich sie nicht vom Sockel heben konnte, meine Wut überdauern würden. Und diesen Hohn, worauf sie nur warteten, glaubte ich nicht ertragen zu können, ja, eigentlich war es nur noch meine Angst vor diesem Hohn, was mich weiter zu toben nötigte. Nur jetzt nicht auf halber Strecke bleiben!«

Kein Argument vermochte Stiller noch zu retten, weder irgendwelche Beteuerungen noch sein schauspielerisches Können. Man hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt, eingekreist und in die Ecke gedrängt. Die Fakten, so wie sie Max Frisch in seinem Roman konstruiert hat, sprachen gegen ihn. Jede nur denkbare Aussicht auf eine Flucht war verstellt. Sein Spiel mit einem anderen Leben, das musste er sich jetzt unwiderruflich eingestehen, war zu Ende. Stiller sprach es aus, nein, stieß es gequält heraus: »Schluss jetzt!« schrie er. In diesem Schrei ist alles enthalten: die Einsicht in die bedrückende Eindeutigkeit seiner Lage, die keinen Seitenschritt oder Absprung mehr zuließ; das Bekenntnis, er sei tatsächlich genau der, für den die anderen ihn hielten; und die Verzweiflung über die armselige Nacktheit dieser Wahrheit. Stiller wurde mit sich selbst konfrontiert. Wer erträgt das schon? Ihm wurde ein Spiegel vorgehalten und das Bild, das sich hinter der Glasscheibe abzeichnete, ein für allemal fixiert. Nie mehr würde er von sich weglaufen können, nie mehr ausbrechen – da brach es aus ihm heraus. Ausgerechnet sein Vater, dieser Mann, der ihn gezeugt und damit alle Verantwortung für sein Schicksal, das wie ein Nachtmahr auf ihm lastete, übernommen hatte, ausgerechnet dieser Vater legte ihn fest, definierte ihn nun zum zweiten Mal, erkannte ihn wieder, nein erkannte nur das wieder, was er als ein Bild von seinem Sohn stets mit sich herumgetragen hatte. Du sollst dir kein Bildnis machen: Dieser uralte Imperativ, der einst zum Schutz Gottes formuliert worden war, um ihn nicht ungerechtfertigterweise in seinem Tun festzulegen – wie viel mehr müsste er für den Menschen gelten, dem nur wenige Möglichkeiten in Aussicht gestellt sind.

Stiller wurde durch seinen Vater auf seinen Anfang zurückgeworfen. Als wenn ein Vorhang weggerissen worden wäre, sah er plötzlich deutlich, dass alles, was er lebte, nichts anderes gewesen ist als dieser Anfang selbst, der sich mit ihm auf den Weg zu seinem Ende gemacht hat, so dass er diesen Anfang und damit sich selbst niemals loswerden würde. Es fiel ihm in dieser entscheidenden Stunde wie Schuppen von den Augen, was er als Kind nur geahnt hatte, und in seinem Schrei wiederholte er das Gebrüll, mit dem er diese Welt einst begrüßt hatte: »Schluss jetzt!« Seine Wut war eine Flucht ohne Ausweg. Die Wut ist immer solch ein seltsamer Zwitter, stets die Möglichkeit des Unmöglichen. Stiller tat das, was er einzig noch tun konnte. Er verwischte die Spuren, die er bisher in dieser Welt hinterlassen hatte. Wenn er sich schon selber nicht ändern konnte, wenn er sich ungewollt treu bleiben musste, vernichtete er wenigstens sein Werk.