Der Zorn

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Zur Wut gehört eine eigentümliche Komik. Wer von ihr ergriffen wird, schlägt um sich wie eine ungezähmte Furie, mit lautem Getöse inszeniert er ein furchterregendes Tohuwabohu, wirft mit Gegenständen, tritt gegen Türen, brüllt unverständliche Wortfetzen und zerreißt Manuskripte. Dem Wahnsinn nahe, stürzt er sich auf alles, was ihm in die Quere kommt. Und doch erreicht er nichts. Seine Lage ist seltsam hilflos. Der Wütende kennt nur eine Parole: Platz schaffen! Er ringt nach Luft, nach frischer Atemluft, weil er die Einschränkung seiner Lebensmöglichkeiten als physische Bedrohung erfährt. Um dieser Erstickungsgefahr zu entgehen, um sich aus dieser Schlinge zu befreien, die ihm den Hals zuschnürt, beseitigt er Dinge, die ihm plötzlich hinderlich erscheinen. Da er nirgendwo einen Weg mehr sieht, räumt er alles aus dem Weg. In den Augenblicken ihrer höchsten Ekstase ist der Wut nichts heilig. Wie eine Walze fährt der Aufgebrachte über seine Umgebung hinweg.

Komisch wirkt die Wut, weil sie die Verhältnisse umdeutet, ihnen ein verzerrtes Angesicht verleiht. Die Ohnmacht gebärdet sich als Macht; die Hilflosigkeit als Herrschaft. In der Verachtung und Geringschätzung von Dingen und Menschen, die sich in der Wut undifferenziert austobt, tritt aber nur die ganze Lächerlichkeit unserer kümmerlichen, im Verhältnis zu den großen Zwängen dieser Welt selber geringen Existenz zutage. Da der Wütende dies wahrnimmt, findet sein Ausbruch keinen Halt mehr. Er ärgert sich zugleich über seine Lächerlichkeit und tobt bis zur Erschöpfung.

Das ist das Unglaubwürdige an der Wut und am Zorn: dass sich jemand anmaßt, Herrschaft über andere auszuüben, wo er sich doch nicht einmal selbst im Griff hat. Gerade dadurch, dass er seine Gewalt andere spüren lassen möchte, verliert er sie. In dem extremen Willen zur Macht, der sich in der Wut versinnbildlicht, verbirgt sich ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl. Nicht selten sitzt dieser Stachel so tief in der Seele, dass jedes Berühren der Wunde, gewollt oder versehentlich, einen kaum noch verständlichen Ausbruch verursacht. Denn das Gefühl der Inferiorität ist nur die ins Psychische übersetzte Erkenntnis, dass der Raum zum Leben mit seinen scheinbar unzähligen Versprechungen in Wahrheit sehr begrenzt ist. Es ist jenes Gefühl, das sich eines Stiller bemächtigte, als er vor den Scherben seiner zusammenphantasierten neuen Existenz stand und der Glaube an die Unendlichkeit des Möglichen zerbrach. Wut ist ein Verzweiflungsakt. Daher berührt sie das Komische. Wo sich Gegensätze aneinander reiben und ineinander umschlagen, wo sich der Ohnmächtige als mächtig ausgibt und der in die Ecke Gedrängte als ein schnaubender Angreifer, dort wohnen Hoffnungslosigkeit und Komik wie Geschwister einer Seelenfamilie nahe beieinander.

Man kann sich kaum tolpatschiger benehmen als der Wütende. Blind tappt er in die vor ihm aufgestellte Falle und missachtet das einfachste Gesetz der Macht: Wer sie ausreizt und bis an ihre Grenzen gebraucht, dem glaubt man sie nicht mehr. Macht gedeiht nur, wo sie nicht bis ins Letzte angewendet wird. Der Rasende jedoch antwortet stets maßlos auf seine Verletzung.

Es gibt ein Spiel, das die Eigenschaft der Wut, gleich mit allen Geschützen aufzufahren, boshaft ausnutzt: Man muss nur gelassen bleiben, um den Gegner zur Weißglut und somit endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nichts vertragen Wut, aber auch der Zorn weniger als eine Umwelt, die sich von ihrem wilden Tosen nicht beeindrucken lässt. Wer die Herrschaft über sich verloren hat, weil er sich ärgert, vermag nicht mehr zu spielen. Der Wütende nimmt alles ernst – sich selbst am allermeisten. Er hat die distanzierende Heiterkeit seines Daseins eingebüßt. Wer einem aufbrausenden Zerberus ins Angesicht zu lächeln vermag, gibt zu erkennen, dass er die Armseligkeit von dessen Situation durchschaut. Im Zweikampf zwischen dieser Leidenschaft und der Gelassenheit siegt stets die Gelassenheit. »Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man«, lehrt Nietzsches Zarathustra die Menschen.

In der Gelassenheit spricht sich die Erfahrung aus, dass man den Wütenden nicht aufhalten kann. Dennoch ist sie die böswilligste Antwort auf einen Anfall. Sie provoziert und garantiert, dass der Tobende zur Bestie wird. Der, dem alles ernst ist, muss es als die schlimmste Beleidigung auffassen, wenn er selber nicht ernstgenommen wird. Wenn auf die Wut das Erschrecken nicht folgt, hat sie ins Leere gebissen. In der Anstrengung des Rasenden, seiner Leidenschaft Bedeutung zu verleihen, steigert er aber nur die Komik seiner Gesten zur Ungeschicklichkeit und fordert das Gespött geradezu heraus.

Der französische Skeptiker Montaigne, der ein feines Gespür für die absonderlichen Verstrickungen der Menschen besaß, benutzt die Unbeholfenheit im Ärger, um im Streit der Geschlechter mit der männlichen Überlegenheit zu kokettieren: »Jene, die mit eigensinnigen Frauen umzugehen haben, mögen aus Erfahrung wissen, in welche Raserei man sie bringt, wenn man ihren Ausbrüchen nur Schweigen und Kälte entgegensetzt und es verschmäht, ihrem Zorn Nahrung zu geben. Der Redner Caelius war von Natur ungemein zornmütig. Als er einst mit einem Manne von sanftem und umgänglichem Wesen zu Abend aß, der es, um ihn nicht zu reizen, für geraten hielt, alles zu billigen, was Caelius sagte, und ihm stets beizustimmen, hielt es dieser endlich nicht länger aus, dass seine Zanksucht so leer ausging, und fuhr ihn an: So widersprich mir doch einmal, bei allen Göttern, damit wir unser zwei sind. Desgleichen die Frauen: sie brausen nur auf, damit man wider sie aufbrause, nach dem Vorbild der Liebe … Es gibt keine schneidendere Antwort als eine solche Verachtung.«

Die Wut ist der Zorn der Hilflosen. Da sie, was sie vom echten Zorn unterscheidet, keinen wirklichen Angriffspunkt besitzt, gegen den sie sich wenden und den sie mit ihren angestauten Aggressionen überschütten könnte, schlägt sie blind um sich. Der Wütende handelt ohne Ziel. Nähme er es genau, müsste er sich selbst vernichten. Denn in der latenten Unzufriedenheit mit sich, die in der Wut herausbricht, verbirgt sich eine lebenszerstörende Fehleinschätzung seines Ich. So aber macht er für seinen Mangel die Welt verantwortlich, er schiebt ihr die Schuld an seinem Unglück einseitig zu, da sie ihn, wie er nicht müde wird zu beklagen, in der Entfaltung seiner Existenz behindert. Ein in sich unstimmiger Mensch muss auf alles empfindlich reagieren, was ihm zu nahe tritt. Wo auch nur der Verdacht aufkommt, jemand könnte seine Selbstunsicherheit entlarven, jene Identitätsschwäche, die sich in den Traum geflüchtet hat, es könnten, wenn dieses Leben nicht gelingt, andere Möglichkeiten warten – wo dieser Argwohn aufkeimt, wird die vermeintliche Gefahr im Gebrüll niedergehalten. Wer wütend wird, der steht nicht fest.

Die Wut ist also ein Schutz – freilich nicht vor anderen, vor denen sie die Selbstzweifel verbergen möchte, nein: diesen verrät sie das Geheimnis. Denn die Wut, ob sie es will oder nicht, ist meist ein untrügliches Indiz, im inneren Haushalt eines Menschen könnte etwas durcheinandergeraten sein. Wer seiner Stärke nicht gewiss ist, glaubt, es sei besser, um sich zu schlagen, als sich in die prekäre Lage bringen zu lassen, seine Schwäche eindeutig, also: auch vor Zeugen eingestehen zu müssen. Er versteckt sie im Getöse – und macht sie somit offenbar.

Aber die Wut bewahrt davor, dass sich die zerstörerischen Kräfte des Menschen gegen ihn selbst richten. Für den Augenblick ihrer heillosen Tat befreit sie ihn von der Qual, mit sich allein sein zu müssen. In ihr zeigt sich der Wille zum Leben. Doch auch für sie gilt, was Walter Benjamin dem destruktiven Charakter überhaupt attestiert. Er »lebt nicht aus dem Gefühl, dass das Leben lebenswert sei, sondern dass der Selbstmord die Mühe nicht lohnt«. Was der Wut an Sinn abgeht, wenn sie willkürlich kostbare Vasen zertrümmert oder sich an Menschen vergreift, die zufällig in ihren Wirkungskreis geraten sind – es ist fast zynisch, dies zu sagen, aber –, das holt sie ein, indem sie verhindert, dass sich das Leben selbst vernichtet. Aus ihr spricht der Selbsterhaltungstrieb eines Menschen, der nicht von außen angegriffen worden ist, sondern mit sich im Krieg lebt.

Nicht so der Zorn. So ähnlich sich beide Affekte zu sein scheinen, nicht allein im Ausdruck, auch in manchem ihrer Antriebe, so sehr muss man auf ihre Unterschiede achten. Die Sprache mag dabei ein wenig behilflich sein, indem sie auf Differenzen im Reich der Leidenschaften aufmerksam macht. Die Wut, sagen wir, hat man im Bauch. Der Zorn indessen scheint, nimmt man diese Körper-Metapher auf, höher angesiedelt zu werden, vernünftiger zu sein, eine Kopfgeburt im Vergleich mit dem tierischen, dem überstürzten Ausbruch der Wut. Die Wut ist blind, heißt es weiter. Der Zorn hingegen spricht nicht nur scharf, er sieht auch sehr genau, weshalb er seinen Gegner ins Auge fasst und nicht irrlichternd hin- und herschweift. Des Zornigen Augen funkeln, die des Wütenden flackern. Auch schnaubt der Zorn nicht wie die Wut. Er ist ein Waffenträger des Geistes, während der vor Wut Rasende nicht einmal richtig zu sprechen vermag. Meist wird der Zorn von der Stimme beherrscht. Ein Dröhnen, ein aufgeblähtes Brüllen kennzeichnet demgegenüber die Wut: Einem ist die Galle übergelaufen, und er trägt sie nun auf der Lippe. Der Wütende »kennt nicht das Glück eines vollendeten Satzes«, sagt Herbert Heckmann. Er speit Flüche aus, weil er den Ärger zu lange in sich hineingefressen hat und diese Kost ihm nicht bekommen ist. Sein Reden erinnert mehr an ein Bellen.

Wut und Zorn – das gilt nun gleichermaßen! – besitzen kein Gesicht, sondern verzerren die Züge zur Grimasse. Diese Dämonen bleiben nicht in ihrer düsteren Höhle, sie finden vielmehr Vergnügen daran, andere mit ihren Fratzen zu erschrecken. Seneca, zu seinen Zeiten der mächtigste Mann im römischen Reich – vergisst man einmal den Kaiser –, verabscheute den Zorn auch aus diesem Grund. Er eiferte – aber »eifern« wäre wohl für einen stoischen Philosophen nicht das rechte Wort, hätte er nicht gleich drei Bücher über das Thema hinterlassen, in denen er keine Mühe scheut, auf die Nachteile des Zorns hinzuweisen –, er ließ also kaum eine Gelegenheit aus, für ein von Erschütterungen freies Leben zu streiten. Seneca schreibt: »Nicht ist irgendeiner Leidenschaft Ansehen von größerer Verstörtheit gezeichnet: die schönsten Gesichter entstellt sie, wilde Mienen macht sie aus den ruhigsten; es verlässt aller Anstand die Erzürnten; mag die Kleidung ihnen geordnet gewesen sein nach Vorschrift, sie lassen schleifen ihr Gewand, und alle Sorgfalt mit sich selbst lassen sie fahren, mag die Frisur von Natur oder durch Kunst nicht unansehnlich sein, mit dem Gemüt bäumt sie sich auf; es schwellen die Adern; erschüttert wird von raschem Atem die Brust, der wütende Ausbruch der Stimme bläht den Hals; dann die Glieder zitternd, unruhig die Hände, am ganzen Körper Aufruhr. Wie ist drinnen, deiner Meinung nach, die Seele beschaffen, deren äußeres Abbild so scheußlich ist?«

 

Zwischen Drinnen und Draußen verläuft eine Leitung. Man sieht, wer im Inneren haust, man kann ihn identifizieren. Was Seneca noch als Frage formulieren musste, hat im vergangenen Jahrhundert Charles Darwin zu einer Wissenschaft, zu einer Phänomenologie des Ausdrucks der Gemütsbewegungen, ausgebaut. »Die meisten unserer Gemütsbewegungen«, behauptet Darwin, »sind so innig mit ihren Ausdrucksformen verbunden, dass sie kaum existieren, wenn der Körper passiv bleibt – es hängt nämlich die Natur der Ausdrucksform zum hauptsächlichsten Teile von der Natur der Handlungen ab, welche unter diesen besonderen Seelenzuständen gewohnheitsgemäß ausgeführt worden sind.« Darwin hat beobachtet, dass sich die Gesichtszüge beim Wütenden in der Mundpartie konzentrieren, der Wütende fletscht die Zähne. Beim Zornigen hingegen spielt sich das wilde Leben um die Nasenwurzel herum ab: auf der Stirn, an den Brauen und in den Augen. Wenn sich aber die Physiognomie so eng an die Affekte anlehnt, wenn also Unterschiede im Verhalten auf Differenzen in der Sache offenbar hinweisen – was ist am Zorn so anders als an der Wut?

Der Zornige kennt seinen Feind, er weiß, wer ihn verletzt hat; der Wütende kennt nur sich. Überhaupt muss dem Zorn eine Verwundung vorausgegangen sein. Es fließt Blut: Der Kopf taucht tief ins Rote. Irgendwo im Gemüt klafft eine Blessur, die schmerzt, die so sehr schmerzt, dass der Mensch aufschreit, nicht mehr ein noch aus weiß in seinem Leid und wild gestikulierend auf den unglücklichen Verursacher zuschießt. Der Zornige haut zwar auch manchmal mit der Faust auf den Tisch und sucht sich für sein Gewitter einen anderen Blitzableiter, aber nur, weil er noch ein wenig bei Verstand ist und den Gegner nicht physisch treffen will. Ließe man dem Zorn die Zügel locker und gewährte ihm freien Lauf, er stürmte geradlinig auf ein bestimmtes Ziel zu. Ein Augenzeuge berichtete von einem Vorfall im Berliner Reichstag, der Bismarck außerordentlich in Rage gebracht hatte. Mitten in seiner Rede meinte der Reichskanzler den Zwischenruf »Feigling!« gehört zu haben. Daraufhin verließ er das Pult, stürzte in den Saal, brach in die Abgeordnetenbänke ein, indem er einen Politiker nach dem anderen bei der Schulter griff, durchschüttelte und mit sich überschlagender Stimme schrie: »Wer hat ›Feigling‹ gerufen?« Der Zorn sucht sich seinen Feind, sollte er ihn nicht sofort entdecken. Die Wut hingegen verliert gleich den Kopf und damit auch die klare Sicht. Noch ein anderes, wesentliches Element birgt diese Erzählung. Der Zorn eines Menschen wird herausgefordert, wenn ihm die Ehre verletzt oder gar geraubt worden ist. Der Vorwurf »Feigling« kränkte Bismarck zutiefst. Ausgerechnet ihm, dem eisernen Kanzler, der Weinkrämpfe bekam, konnte er seinen Willen nicht durchsetzen, wurde Zaghaftigkeit angehängt. Es gibt Sätze, die man nicht auf sich sitzen lassen kann, ohne sein Gesicht zu verlieren, selbst wenn man noch so sanft oder geduldig veranlagt ist. Der Zorn schüttelt ab, was an den Festen der Persönlichkeit nagt. Es ist ein äußerer Einfluss, von dem er sich befreit. Der Zorn antwortet auf den Diebstahl eines Besitzes: Meine Ehre gehört mir. Die Wut hingegen fällt einer Täuschung zum Opfer: Möglichkeiten können mir gar nicht weggenommen werden, denn sie sind in Wahrheit nie mein Eigentum. Jeder Mensch hat ein Recht auf Zukunft, aber er besitzt kein Recht auf eine bestimmte Zukunft. Diese kann er nur sich selber zur Aufgabe wählen. Der Zorn verlangt, dass ein anderer mich anerkennt. Er zwingt ihn, mich als den anzusprechen, der ich bin. Die Wut nährt sich aus der Verzweiflung, dass ein anderer in mir allein das sieht, was ich bin – und nicht das, was ich von mir erträume.

In der Bewegung zum zornigen Ausbruch durchläuft der Angegriffene einen ganz sensiblen Punkt, jenen Moment, in dem sich entscheidet, ob die Ehrverletzung als Beschämung hingenommen oder mit einem scharfen, mächtigen Gegenschlag erwidert wird. Mancher ist gleich so getroffen, dass er Mühe hat, seine Kräfte zu sammeln, um entsprechend stark dagegenhalten und die drohende Katastrophe einer peinlichen Entblößung und Kränkung vermeiden zu können. Die Scham ist die andere Seite des Zorns, seine heimliche, schwächere Verbündete.

Wie eng Zorn und Scham ineinander verschlungen sind, davon hat das dramatische Genie Heinrich von Kleist einiges gewusst. Kaum jemand in seinem Zeitalter hat so subtil die besinnungslose Rache, den fanatischen Hass und den exzessiven Jähzorn behandelt wie er. Michael Kohlhaas, der einen ganzen blühenden Landstrich verwüstete, weil ihm zwei Pferde misshandelt worden waren, und der meinte, sich nicht anders Gerechtigkeit verschaffen zu können als durch diesen maßlosen Frevel, mag als ein Beispiel genügen. Dabei galt Kleist – so schildert ihn Thomas Mann – als ein Mensch von sonderbarem Betragen, der in Gesellschaft sich unsicher bewegte, leicht in Verlegenheit zu bringen war, stotterte und errötete. Er kannte den Augenblick, in dem die Verletzung umschlägt, sehr genau. Ob sie im Zorn oder in der Scham endet, ist hier für einen winzigen Moment noch unentschieden. In einem Satzfragment, in den Worten, mit denen Odysseus in Penthesilea eine Charakterisierung der Amazonenkönigin einleitet, hält Kleist diesen empfindlichen Punkt fest (ohne allerdings zwischen Wut und Zorn zu differenzieren): »Drauf mit der Wangen Rot, wars Wut, wars Scham …«

Das Erröten allein verrät noch nicht, welche Reaktion sich ankündigt. Zunächst macht sich nur die Wirkung der Aufputsch- und Katastrophendroge Adrenalin bemerkbar; die Blutgefäße weiten sich und signalisieren höchste Aufmerksamkeit. Dass es nicht immer zu einem Kampf kommt, dass sich das eigentlich geforderte Duell, das erwartete Aufbrausen zuweilen auch in Schmach umkehrt, ist nicht allein eine Folge von Charakterschwäche. Es gibt Menschen, die zum Zorn nicht fähig sind, weil sie sich nicht gehenlassen können. Solche Menschen vermögen auch nicht zu lieben. Sie konzentrieren ihre gesamte seelische Leistungsfähigkeit auf sich, um sich im Gleichgewicht zu halten, und können es sich nicht erlauben, Kräfte, aggressive oder libidinöse, abzuziehen. Dennoch wahrt die Scham die Ehre dessen, dem sie genommen worden ist. Beschämt sie doch in ihren äußeren Erscheinungsformen zuletzt den, der sich in die innere Sphäre eines Menschen zu weit hineingewagt hat. So wie der Zorn die klare und deutliche Setzung einer Grenze ausspricht, die nicht überschritten werden darf, so schreit die Scham im Stillen, dass man nicht weitergehen soll, da man längst zu weit gegangen ist.

Wieder ist es der Blick, als unzweideutiges Merkmal, der jetzt die Scham als die andere, die gedrückte und verhinderte Seite des Zorns vorstellt. Ohne vielleicht wirklich im Unrecht zu sein, glaubt sich der Beschämte von einer höheren Instanz, dem Gewissen etwa, verklagt. Er muss die Augen gedemütigt senken. Er fühlt sich, auch wenn nichts gegen ihn spricht, bloßgestellt; den Anblick eines anderen erfährt er als durchbohrenden Pfeil. Worte wie Blicke dieses anderen treten plötzlich genau mit jener Macht auf, die dem Zorn ursprünglich zu eigen ist. Denn der Zorn soll ja seinen Gegner beschämen. So aber erreicht dieser Gegner, indem er durch seinen Angriff einen Menschen aus seinen normalen Lebensverhältnissen herausholt und in den Blickfang stellt, den Sieg. Auf diese Weise angesehen, verschwindet dessen Aggressivität; die Kränkung oder Ehrverletzung wird von dem Gefühl, tatsächlich im Unrecht zu sein, verdeckt, von einem Gefühl, das alle Handlungen lähmt. Nichts wünscht sich der Beschämte mehr, als im Erdboden zu verschwinden, sich zu verstecken und der höhnischen Anteilnahme der anderen auszuweichen, der er, ohne sein Zutun, wehrlos ausgeliefert ist. In dieser Niederlage klammert sich die Scham hilfesuchend an einen Imperativ, den auszurufen sie nicht einmal mehr die Stimme hat und der schließlich als zaghafte Sehnsucht verkümmert: »Weg mit mir von dir!« Er ist präzise die Umkehrung des Befehls, der dem Zorn die Rechtfertigung zu seinem stürmischen Ausbruch liefert. Der Zorn beruft sich auf die Weisung: »Weg mit dir von mir!«

Wer kann zornig werden? Warum ist ein solcher Ausbruch manchen Menschen zuwider? Francis Bacon, der englische Erneuerer der Wissenschaften, Philosoph und Politiker, der wegen eines Widerspruchs im Parlament bei der leicht verletzlichen Königin Elisabeth in Ungnade fiel und dessen staatsmännische Karriere dadurch einen kleinen Knick erhielt, dieser Bacon schreibt in einem seiner Essays: »Der Zorn ist offenbar eine Charakterschwäche, was sich aus der Haltlosigkeit derjenigen am besten erkennen lässt, die er beherrscht: Kinder, Weiber, Greise, Kranke.« Sind es wirklich nur die Sensiblen, die zartbesaiteten Seelen oder die mit einem aufgescheuerten Nervenkostüm, welche zornig werden? Ist der Zorn eine Angelegenheit des Temperaments, wie es Seneca behauptet?

Man braucht ein festes Herz, um explodieren zu können. Auch wenn sich nicht kühle Überlegung im Zorn äußert, Überlegenheit ist es allemal. Der Zornige besitzt das Bewusstsein, sich in seiner wuchtigen Antwort auf einen Angriff auf eine Instanz berufen zu können, die ihm zuletzt recht gibt. Wann immer in der Geschichte von einem heiligen Zorn die Rede gewesen ist, er hatte stets ein gutes Gewissen. Zum Zorn gehört Größe, die Erkenntnis und Anerkenntnis einer Rechtssphäre, die niemand ungestraft missachten darf. Nur so sind die gewaltigen Aufmärsche zu erklären, die Massenbewegungen, die diktatorische Regierungen gestürzt haben, oder Zweikämpfe, in denen einer nicht eher ruhte, als bis er seinen Feind vernichtet hatte. Daher stritten auch schon die Götter Homers untereinander, waren sie sich doch oft selber uneinig darüber, was einem Herrscher auf dem Olymp rechtens ist und ihm geziemt.

Der Zorn ist mit Macht ausgestattet, um das Recht durchzusetzen. Das ist seine vornehmste Aufgabe. Er hat den Zweck, diejenigen zu entlarven, die ihre Herrschaft sich illegitim oder illegal angemaßt haben. Der Zorn enthüllt die Macht, die auf keiner Autorität gründet, die nicht zugesprochen worden ist, als Ohnmacht. Im Namen des Rechts, dem selber Unrecht geschehen ist, da man es verletzt hat: indem man das Eigentum oder die Intimsphäre nicht schützte, die Arbeitsleistungen durch zu schlechte Bezahlung beleidigte oder die Freiheit beschnitt, als Anwalt dieses Rechts wendet sich der Zorn gegen den, der es mit Füßen getreten hat. »Nimm dem König seinen Zorn, dann wird ihm nicht nur keiner mehr gehorchen, sondern man wird ihn sogar von seiner Höhe stürzen«, so spekuliert Laktanz in seinem Traktat über den Zorn Gottes: »Ja, nimm diesen Affekt irgendeinem Menschen niederen Standes, wer wird ihn dann nicht ausplündern, verspotten und misshandeln?«

Der Bürger, genauer seine komische Deformation: der Spießbürger ersetzt den Zorn durch Empörung. Sie ist gehemmter Zorn, von moralischen Vorsätzen und konventionellen Regeln behindert. In der Empörung grollt der Unmut über ein geschehenes Unrecht, ohne dass er sich Luft verschaffen könnte. Wendungen wie: »Das verbitte ich mir!« oder: »Das gehört sich nicht!« bemühen zwar den guten Geschmack oder anerzogene Gewohnheiten, ihnen fehlt allerdings jene erfrischende Spontaneität, die den Zorn erst glaubwürdig macht und erfolgreich sein lässt. Der weinerliche Unterton, in dem die Empörung vorgetragen wird, reizt selber gelegentlich zum Zorn über ihre Kraftlosigkeit. »Während echter Zorn immer hitzig ist«, schreibt der Philosoph Hermann Schmitz, »kann Entrüstung in kalter, trockener Rechthaberei aufgehen.«

Natürlich gehört der Spießbürger in eine ferne, längst vergangene Welt, die sich allenfalls in ihren eigenen Ruinen, in gewissen Zirkeln des Beamtenapparats etwa, überlebt hat. Seitdem die Moral als Klammer der Gesellschaft nicht mehr funktioniert und vieles nur noch durch einen gemeinsamen, geradezu zentral gesteuerten Egoismus zusammengehalten wird, löst die Betroffenheit die Empörung ab. Man könnte sie fast als eine noch sanftere Variante der Unrechtserfahrung kennzeichnen. Da sie sich allein auf ein subjektives Empfinden beruft – das freilich alle gleichermaßen erreicht hat und somit die ehemals verbindliche, gesellschaftsübergreifende Norm ersetzt –, gerät ihre Beteuerung zu einer schlechten Karikatur des Zorns. Sie ist so harmlos, wie sie gleich in Massen auftritt. Man muss heute noch Menschen suchen, die sich nicht für betroffen halten. Derzeit macht eine Parole Furore, deren Formulierung an das Aufflammen des Zorns entfernt erinnert: »Empört euch!« Doch in ihr offenbart sich auf listige, beinahe heimtückische Weise das Dilemma des Protestes: Wer zum Zorn erst auffordern muss, gerät in den Verdacht, im Unrecht zu sein. Man kann zum Zorn nicht anstiften, noch vermag man ihn zu heucheln. Er ist nicht verschlagen, weswegen ihn Aristoteles rühmt. Aber er schlägt manchmal über die Stränge. Der Zorn vergisst zuweilen das Maß. Seneca tadelt ihn vornehmlich wegen dieser Eigenschaft: »Keine Leidenschaft nämlich ist zu strafen begehrlicher als der Zorn und eben deswegen zu strafen unfähig: vorschnell und kopflos wie beinahe jede Begierde, ist er selber sich hinderlich bei dem, was er sich als Ziel gesetzt hat. Daher war er weder im Frieden noch im Krieg jemals von Nutzen; den Frieden nämlich macht er ähnlich dem Krieg, in Waffen aber vergisst er, dass Mars unparteiisch ist und unter fremde Gewalt kommt, wenn er nicht in der eigenen bleibt.«

 

Die Vernunft hat es mit dem Zorn nie leicht gehabt. Ohne dass sie beschwichtigend einzugreifen vermag, neigt jeder Anfall dazu, die Grenzen dessen, was sie ertragen kann, zu überspringen und sich selbständig zu machen. Selbst der abwägende Bacon, der es für eine »Prahlerei der Stoiker« hält, den Zorn abtöten zu wollen, mahnt, wie bitterböse man sich auch immer zeige, man solle sich nie zu Handlungen hinreißen lassen, die unwiderruflich sind. Der Zorn, im Vergleich mit der Wut geradezu ein kühler Kopf, hat dennoch etwas Bewusstloses an sich und ignoriert, lässt man ihn nur fahren, die Ideale der Vernunft. Dem Wahren, Schönen, Guten hat sie sich verschrieben. Der Zorn hingegen schafft sich Feinde, macht hässlich und will gelegentlich dem anderen Böses. Wissen wir denn noch, was wir tun, wenn wir zornig sind?

Aristoteles ist sich so sicher nicht: »Es lässt sich nämlich beobachten, dass der Zorn in gewissem Grad auf die Stimme sachlicher Reflexion hinhört, aber sie nicht richtig hört. Es ist wie bei den voreiligen Dienern: noch ehe sie alles gehört haben, was man ihnen sagt, rennen sie davon und bringen dann den Auftrag durcheinander; oder wie bei den Hunden: wenn draußen ein Geräusch ist, bellen sie und schauen gar nicht, ob es ein Bekannter ist. So stürmt der Zorn wegen der ihm eigentümlichen Hitzigkeit und Übereiltheit zur Vergeltung: dabei hat er zwar etwas gehört, aber das Gehörte mit einem tatsächlichen Auftrag verwechselt. Denn Reflexion oder Einbildungskraft zeigen uns an, dass uns etwas Verletzendes oder Geringschätziges angetan ist – worauf der Zorn gleichsam zu dem Schluss kommt, dass so etwas bekämpft werden müsse, und sofort in Wallung gerät.«

Gehört also der Zorn zu den unüberlegten Ratgebern? Aristoteles’ Lehrer Platon zählt ihn dazu, wie auch die Hoffnung. Zorn und Vernunft achten aufeinander schon allein deswegen so selten, weil sie einer je anderen inneren Geschwindigkeit gehorchen. Der Zornige hat es eilig, er rast ungeduldig; wer zu lange überlegt, dem kann es geschehen, dass er ihn anfährt. Die Vernunft als verantwortungsbewusste Lebenslenkerin indessen lebt bedächtig. Ihr ist Sorgfalt lieber als ein zu schnelles Handeln, oder wie Seneca es ausdrückt: »Die Vernunft will das Urteil fällen, das gerecht ist – der Zorn will das für gerecht angesehen wissen, was er als Urteil gefällt hat.«

Cato – nicht der, dem die Zerstörung Karthagos stets auf der Zunge lag, der andere, der jüngere Cato – plädierte einst in einem Prozess, als ihm Lentulus, Mitverschwörer des Catilina, ins Gesicht spuckte. Cato blieb ruhig, wischte sich den Speichel ab und sagte: »Ich werde allen bestätigen, Lentulus, dass sich die irren, die behaupten, du seist keine Großschnauze.« Die Gelassenheit erweist sich als überlegen, nicht nur über die Beleidigung, der man auch anders hätte begegnen können, sondern selbst über den Zorn. Sie erreicht damit eine Schärfe, die mehr schmerzt und beschämt als eine lautstarke, explosive Erwiderung. In der Gelassenheit verbünden sich der Zorn und die Vernunft zu einer höheren Synthese und gewinnen eine stechende Sprachform, hinter der die schnell verbrauchte Kraft einer schnaubenden Reaktion weit zurückbleibt. Gelassenheit ist nicht bloß eine Spielart des Zorns. Wer diese Haltung erreicht hat, ist durch die Unruhe des aufschäumenden Gemüts längst hindurchgegangen und weiß, wovon der Zornige redet. Sie schätzt aber auch das natürliche Maß des Zorns richtig ein. So wild er sich zu geben vermag, nichts verschwindet rascher von der Bühne als ein Mensch, der Gelegenheit hatte, sich auszutoben. Zum Zorn gehört der Hang, sich selbst zu überwinden und aufzuheben. Die Gelassenheit hat diesen Charakter des Zorns ein für allemal übernommen, sie hat ihn auswendig gelernt und hütet ihn als eine Lebenskunst.

Es existiert eine Verkommenheit des Geistes, die der Gelassenheit seltsam ähnlich sieht. In der Gleichgültigkeit hat diese einen traurigen Doppelgänger gefunden. Gleichgültig ist derjenige, der die Maxime vernunftgeleiteter Gelassenheit, man möge sine ira et studio die Geschäfte des Lebens betreiben, verwechselt mit der Aufforderung zum Desinteresse. Der Gleichgültige schützt sich vor einer Zeit, welche sich selbst zuviel zumutet, da sie sich zu nichts mehr – und zum Denken am allerwenigsten – Zeit nimmt. Sie hat die Muße, die Geburtshelferin lebendiger Gedanken, der Schnelligkeit ihrer Taten geopfert. Atemlos hetzt sie hinter sich selber her. Der Gleichgültige besitzt nicht die Kondition für diesen Parforceritt. Er lässt seine Zeit davoneilen, die ihm nichts mehr bieten kann, obwohl, nein: weil sie ihm alles anbietet. Er enthält sich des Urteils, könnte er dessen Begründung doch schon nicht mehr überschauen: Warum also sollte er sich noch aufregen – und worüber? Der Zorn ist dem Gleichgültigen ein Fremdwort. Lieber sich nicht erregen als dabei ertappt werden, dass man sich für Unwichtiges eingesetzt hat. Das Risiko, dass die Dinge, für die man gestern noch stritt, heute schon vergessen sind, ist zu groß. In der Gleichgültigkeit hat sich die Angst festgebissen, man könnte zu spät kommen. Welche Geschwindigkeit muss diese Zeit haben, dass sie selbst den Zorn zu überholen vermag? Kaum etwas wirkt aber lächerlicher als ein Zorn, der nicht schnell genug gewesen ist, der seinen Gegner verpasst hat und der sich nicht einmal auf ein Urteil, auf irgendeine Instanz berufen kann, die ihm, obwohl er ins Leere gegriffen hat, recht gibt. Dieser Zorn, der mit sich allein bleibt, muss in Resignation versinken und zur Wut erkalten, einer Wut, die sich an nichts mehr wirklich reibt, sondern ein Reaktionsschema blind aufrechterhält. »Herrgott, wie sehne ich mich nach etwas Enthusiasmus! Ganz gewöhnlichem menschlichem Enthusiasmus … Niemand denkt, niemand ist interessiert an etwas. Kein Glaube, keine Überzeugungen. Keine Begeisterung.« Zornig zu werden, heiße beteiligt sein, schreibt John Osborne, der Dramatiker des Zorns, der den verzweifelten, hilfesuchenden Ruf nach Enthusiasmus seiner Figur Jimmy Porter in den Mund gelegt hat.

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