Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland

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Resümee

Die ausgewählten Beispiele offenbaren den unter vielen Aspekten „unfertigen“ Charakter der Mainzer Republik. So sind die Verwaltungsstrukturen von einem überraschenden, sich auch im Siegelgebrauch niederschlagenden Fortbestehen eines Teils der alten, d. h. aus kurfürstlicher Zeit stammenden Behördenorganisation gekennzeichnet und unterstützen Franz Dumonts These von einer zunächst offenen, eher liberalen Phase der Mainzer Republik.63 Von den inneren Widersprüchen der von der Idee der Volkssouveränität überzeugten Mainzer Demokaten zeugen dagegen die Quellenverluste in der Überlieferung des Mainzer Jakobinerklubs: Sie sind ein Spiegel der Kontroversen um den richtigen Weg bei der Einführung der neuen Staatsform. Nicht zuletzt die Details der Durchführung der Wahlen im Februar 1793 verdeutlichen aber in nuce, dass es sich bei der Mainzer Republik um ein Experiment handelte, das nicht an den Maßstäben eines modernen Demokratieverständnisses und etablierter, vielfach erprobter Verfahren gemessen werden kann.

1 Scheel 1975; ders. 1981b.

2 Die Zahlen nach Reichardt 2008, hier: Sp. 1117. Einen Überblick bietet der Katalogband von Behrens 1993.

3 Nau 1794.

4 Hoffmann, 1793/94.

5 Vgl. Dumont 1993d, S. 147f.

6 Stadtarchiv Mainz, 11/71–73, ediert von Scheel (wie Anm. 1).

7 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbistenakten 203/II.

8 Z. B. die von 89 Abgeordneten des Rheinischdeutschen Nationalkonvents unterzeichnete Reunionsadresse vom 25. März 1793. Siehe zur Reunionsadresse Franz Dumont 1993b sowie ebenda den Überblick über die ungedruckten Quellen S. 507–510. Die dort aufgeführten, im Zweiten Weltkrieg ausgelagerten Bestände des Stadtarchivs Mainz im Archivdepot des Zentralen Staatsarchivs Potsdam in Lübben sind 1987 von der DDR an Mainz zurückgegeben worden.

9 Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für Deutsche Sprache und Literatur (ab 1974: Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte, ab 2003: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Bd. 1ff., Berlin 1958ff., hier: Bd. 17: Briefe 1792 bis 1794 und Nachträge, bearb. v. Klaus-Georg Popp, Berlin 1989.

10 Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, GSA 96/3131; „Meine Erfahrungen in dem gegenwärtigen Kriege“. Tagebuch des Feldzugs mit Herzog Carl August von Weimar, hg. v. Edith Zehm, Göttingen 2018 (Schriften der Goethe-Gesellschaft 78).

11 Johann Wolfgang von Goethe: Poetische Werke, Band 10. Edition Phaidon, Essen 1999, S. 153–275.

12 Siehe hierzu den Beitrag von Matthias Schnettger in diesem Band. Zur Einordnung der Ereignisse siehe die grundlegende Monografie von Dumont 1993b, zu einzelnen Personen die von Franz Dumont verfassten Skizzen in: Reinalter, Helmut (Hg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa Bd. 1 (1770–1800) (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850“ Bd. 7), Frankfurt a. M. [u.a.] 1992.

13 Stadtarchiv Mainz, 70/11543.

14 Vgl. Strecker 1913/14, S. 118.

15 Stadtarchiv Mainz, U / 1772 November 29.

16 Ungenau ist Reichardt 2008, hier: S. 34 (mit Abb. 23), wenn er schreibt, die Allegorie von Freiheit und Gleichheit in Gestalt einer antik gewandeten Frauengestalt „verdrängte […] in der Mainzer Republik das traditionelle Rad mit dem Kurhut“.

17 Scheel I 1975, S. 56.

18 Zur Munizipalität und deren Leistungen während der Mainzer Republik siehe Dumont 1982.

19 Zu ihm siehe die Biografie von Uhlig 2004.

20 Die Mainzische Finanzkammer an ihre Mitbürger durch ihr Organ, den Finanzkammerrath [Adolf Joseph] Molitor, Mainz: Wailandt 1793, bes. S. 27f.

21 Vgl. Scheel 1981b, S. 563–567.

22 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 140, fol. 84r: zit. n. Dumont 1993b, S. 243 Anm. 200.

23 Scheel 1975, S. 261.

24 Ebd., S. 404. Siehe auch Dumont 1993b, S. 283.

25 Dumont 1993b, S. 296.

26 Vgl. Scheel 1975, S. 150. Siehe hierzu Neugebauer-Wölk 1993.

27 Scheel 1975, S. 221 (aus Forsters am 15. November 1792 im Jakobinerklub gehaltenen und im Druck erschienenen Rede „Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken“).

28 Ebd., S. 150.

29 So Mathias Metternich im Bürgerfreund, 6. Stück, vom 13. November 1792 (Stadtbibliothek Mainz, 66: 4° / 17).

30 Vgl. Dumont 1993b, S. 202.

31 Vgl. Scheel 1975, S. 364 Anm. i.

32 Vgl. Dumont 1993b, S. 202.

33 Georg Forster, Darstellung der Revolution in Mainz, in: Forsters Werke (wie Anm. 9), Bd. 10/1: Revolutionsschriften 1792/93. Reden, administrative Schriftstücke, Zeitungsartikel, politische und diplomatische Korrespondenz, Aufsätze, bearb. v. Klaus-Georg Popp, Berlin 1990, S. 556–559, hier: S. 557. Siehe auch Jürgen Goldstein 2016, S. 193.

34 Vgl. Scheel 1975, S. 364 Anm. i.

35 Ebd., S. 260 Anm. f.

36 Ebd. S. 365 Anm. i; Reuters Rechtfertigungsschrift abgedruckt in Hoffmann 1793/94, S. 423–425.

37 Scheel 1975, S. 419 (Entwurf einer Ordnung für den Klub vom 23. Dezember 1792).

38 Ebd., S. 234.

39 Ebd., S. 504–508: Es handelt sich um den Brief des Klubmitglieds Joseph Schlemmer an den in Frankfurt weilenden Mainzer Geschichtsprofessor Niklas Vogt vom 11. Januar 1793 (Stadtarchiv Mainz, AS / 541; ergänzend dazu auch AS / 542). Außerdem berichteten darüber das Klubmitglied Johann Alois Becker in einem Brief nach Italien an die Brüder Johann und Friedrich Dumont vom 30. Januar 1793 (Stadtarchiv Mainz, AS / 417) und der Mainzer Franz Anton Krach am 10. Januar 1793 an den kurpfälzischen Vertreter im Hauptquartier Custines, Regierungsrat Friedrich Joseph von Reibeld (gedr. bei Scheel 1975, S. 509–512).

40 So die Jakobiner in dem § 4 des Entwurfs ihrer Klubstatuten: Ebd., S. 418.

41 So die Charakteristik einer Rede des Andreas Joseph Hofmann im Klub am 7. Januar 1793 bei Hoffmann 1793/94, S. 574; s. Scheel 1975, S. 512.

42 Vgl. Scheel 1975, S. 504–506.

43 Forsters Werke Bd. 10/1 (wie Anm. 33), S. 123–132, die Zitate auf S. 129. Siehe auch Uhlig 2004, S. 316.

44 Vgl. Scheel 1975, S. 526. Stadtarchiv Mainz, 11/72 (zwischen S. 20 u. 21); auch im anderen Klubprotokoll fehlen zwei Seiten (11/73, zwischen S. 50 und 51).

45 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 172 („Protocolla die Leistung des Französischen Eides und Urversamlungen, auch Wahlen der Volks-Obrigkeiten betr. 1793“).

46 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 172, fol. 134r-v („Protokoll über die Wahl eines Maire und Gemeine (sic!)-Prokurators, ingleichen der Munizipalbeamten und ihrer Suppleanten“).

47 Scheel 1981b, S. 267f. Macké hatte im ersten Wahlgang für beide Ämter die meisten Stimmen auf sich vereinigt, so dass die Stichwahlen nacheinander abgehalten wurden. Bei der Wahl zum Maire setzte sich Macké mit insgesamt 219 zu 21 Stimmen klar gegenüber Richard Joseph Ratzen durch; die Wahl zum Gemeindeprokurator fiel mit 193 Stimmen zugunsten Joseph Wasmanns aus, während Adam Umpfenbach nur 39 Stimmen erhielt.

48 Mit der Emmeranskirche als Wahllokal (Ebd., S. 245f., hier: S. 246 [Bekanntmachung der Mainzer Munizipalität vom 20. Februar 1793 über den vorgesehenen Wahlablauf in Mainz und Kastel]).

49 Ebd., S. 218–228 (Ordnung für die Durchführung der Munizipalitäts- und Deputiertenwahlen zum Rheinisch-deutschen Nationalkonvent vom 10.2.1793), hier: S. 222 § 46.

50 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 172, fol. 130r-v und fol. 198v.

51 Vgl. Uhlig 2004, S. 322. Forster trat in Wöllstein zurück; an seiner Stelle wurde Johann Dominik Meuth gewählt: Scheel 1975, S. 330. Auch in der Mainzer Sektion D hatte Forster bei der Deputiertenwahl eine Stimme erhalten (Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 172, fol. 186r). Dort hatten auch drei Bürger für Forster als Munizipalen votiert (ebenda, fol. 191v.).

52 Die Zahlen nach Dumont 1993b, S. 379.

53 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 172, fol. 33r. „Wir versprechen gegen die Franken nichts Feindseeliges weder mit Rath noch That vorzunemen und mit denselben in unserer Stadt friedfertig zu leben, und uns immer, wie zeitherr, ruhig zu betragen, und halten und dryngen bevor, gegen die Feinde Frankreichs keine Waffen ergreiffen zu müßen, um daß wir auch von dem fränkischen Militaire in unsern bürgerlichen Handlungen nicht gestöret werden. Mainz d(en) 21ten Hornung 1793“.

54 Siehe auch die Erklärung der Mitglieder der Spitälerkommission vom 29. März 1793 hinsichtlich des zu leistenden Eides auf Freiheit und Gleichheit: Sie könnten sich dazu nicht eher entschließen, „als bis die auswärtige Gefahr beseitiget sein“ werde, baten aber, dessen ungeachtet „mit dem nämlichen Diensteifer, mit der nämlichen Treue, wie bishieher, provisorisch in ihren Amtsverrichtungen fortfahren zu dörfen“ (Stadtarchiv Mainz, 11/17, fol. 75r).

55 Als Mainz Ende 1797 nach dem Frieden von Campo Formio an Frankreich fiel, sollten im darauffolgenden Jahr 3182 Mainzer die Adresse zur Reunion mit Frankeich unterschreiben: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der französischen Revolution 1780–1801 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 42), hg. v. Joseph Hansen, Bd. 4: 1797–1801, Bonn 1938, Nr. 126/17, S. 791–793, hier: S. 793.

56 „Erklärung einiger mainzischen Dikasterianten und Individuen auf die Proklamation zum Eide der Freiheit und Gleichheit“, 20.2.1793, gedr. bei Hoffmann (wie Anm. 4), S. 710–717, Zitate auf S. 712f. Siehe auch Dumont 1993b, S. 373.

 

57 Hoffmann 1793/94, S. 663.

58 Vgl. Scheel 1981b, S. 234–241 (Proklamation der Nationalkommissäre vom 18.2.1793 zu ihrem Auftrag und zu den bevorstehenden Wahlen), hier: S. 240.

59 Stadtarchiv Mainz, 11/101, fol. 151r (in dt. Sprache) und fol. 152r (in franz. Sprache). Scheel 1981b, S. 434f.

60 Zwischen dem 27.2. und 10.5.1793 schworen noch mindestens 2.205 Mainzer den Eid auf Freiheit und Gleichheit, um einer Enteignung oder Ausweisung zu entgehen: Dumont 1993b, S. 379 Anm. 251.

61 Blau wurde Abgeordneter der Gemeinde Badenheim: Scheel 1981b, S. 390.

62 Staatsarchiv Würzburg, MRA V Klubbisten 172, fol. 252r-v. Dumont 1993b, S. 389.

63 Gegen Seibt 2014, S. 35f. mit Anm. *.



MATTHIAS SCHNETTGER
Die Mainzer Republik im Diskurs der Wissenschaft und als Spiegel der jüngeren Geschichtskultur

Wenige Ereignisse der Mainzer Geschichte wurden in der Geschichtswissenschaft und in einer breiteren Öffentlichkeit so unterschiedlich, ja gegensätzlich bewertet wie die Mainzer Republik. Während innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Diskurses die Zeit der emotional und ideologisch aufgeladenen Debatten vorbei zu sein scheint und sich weitgehend eine differenzierte Bewertung der Ereignisse von 1792/93 durchgesetzt hat, vermag die Mainzer Republik im lokalen öffentlichen Diskurs immer noch als Stein des Anstoßes zu wirken.

Dieser Beitrag skizziert, wie sich das Bild der Mainzer Republik im wissenschaftlichen Diskurs und in der jüngeren Geschichtskultur in den letzten Jahrzehnten veränderte. Der Anspruch kann hierbei nicht sein, diese Rezeptionsgeschichte in allen ihren Verästelungen darzustellen, sondern es geht darum, wesentliche Konturen nachzuzeichnen und den gegenwärtigen Diskussionsstand in Forschung und Öffentlichkeit zu umreißen. Um dieses Ziel zu erreichen, kann auf eine Reihe von Veröffentlichungen der letzten Jahre und Jahrzehnte zurückgegriffen werden.1 Der erste Teil des Beitrags legt dar, warum die Mainzer Republik bis weit ins 20. Jahrhundert als ein Schandfleck der Mainzer Geschichte galt. Der zweite Teil verfolgt die Wiederentdeckung der Mainzer Republik durch die Geschichtswissenschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, schildert die Konflikte, die sich an ihr entzündeten und resümiert den aktuellen Forschungsstand. Der dritte Abschnitt schließlich ist der jüngeren lokalen Geschichtskultur gewidmet. Der Beitrag schließt mit einem thesenartigen Fazit.

Das 19. und frühe 20. Jahrhundert: Die Mainzer Republik als „weißer Fleck“ in der (Mainzer) Geschichte

In der national und monarchisch-machtstaatlich orientierten Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts war die Mainzer Republik in doppelter Hinsicht negativ belastet. Denn sie stand nicht nur für einen der gescheiterten Versuche des französischen „Erbfeinds“, sich der linksrheinischen deutschen Länder zu bemächtigen, sondern sie verkörperte darüber hinaus suspektes politisches Gedankengut. Hinzu kam, dass die Mainzer Revolutionäre zu den „Verlierern“ der Geschichte gehörten, die üblicherweise eine geringere Aufmerksamkeit genießen als die „Sieger“. Zudem waren die leicht verfügbaren Quellen durch die Sicht der Sieger von 1793 geprägt, während etwa Georg Forsters (Abb. 1) „Darstellung der Revolution in Mainz“ ein Torso blieb und erst 1843, mit fünfzigjähriger Verspätung, in seinen Gesammelten Schriften veröffentlicht wurde.2

In den „Deutschen Geschichten“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts taucht die Mainzer Republik nur am Rande auf und wird dann extrem negativ gezeichnet. Beispielhaft sei hier ein Abschnitt aus Heinrich von Treitschkes „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“ zitiert:

„Ein französisches Freicorps unter unfähigem Führer drang in einem tollen Abenteurerzuge an der Flanke des preußischen Heeres vorbei bis gegen Mainz; die erste Festung Deutschlands öffnete ohne Widerstand ihre Thore. Die Herrlichkeit der rheinischen Kleinstaaterei brach wie ein Kartenhaus zusammen; Fürsten und Bischöfe stoben in wilder Flucht auseinander. […] Das willenlose Volk der geistlichen Lande ließ sich von einer Handvoll lärmender Feuerköpfe das Possenspiel einer rheinischen Republik vorführen, sprach in ehrfürchtiger Scheu alle Kraftworte der Pariser Völkerbeglücker nach, obgleich ‚das Phlegma, das uns die Natur auferlegt hat, uns nur erlaubt die Franzosen zu bewundern‘; an dem Anblick dieses Zerrbildes der Freiheit ist dem geistreichsten der rheinischen Enthusiasten, Georg Forster, das unstete Herz gebrochen.“3


Abb. 1: Georg Forster (1754–1794), Vizepräsident des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents.

Der konservative Berliner Historiker Treitschke (Abb. 2), der u. a. durch seine unrühmliche Rolle im „Berliner Antisemitismus-Streit“ („Die Juden sind unser Unglück!“) hervorgetreten war, zeichnet die Anhänger der Mainzer Republik als irregeleitet, als naiv, ja, geradezu als Narren, weniger als Verräter.4 Mit anderen Worten: Sie waren letztlich irrelevant; es lohnte sich kaum, sich näher mit ihnen zu beschäftigen.


Abb. 2: Heinrich von Treitschke (1834–1896).

Selbst für deutsche Demokraten war die Mainzer Republik ein schwieriger Erinnerungsort, nicht nur wegen ihrer Abhängigkeit von Frankreich, sondern auch weil sie dem Beginn der radikalsten Phase der Französischen Revolution zuzuordnen war. Weder die damit verknüpften egalitären Tendenzen noch die Entwicklung hin zur terreur waren für deutsche Liberale attraktiv.

Einer jener Autoren, die zwar prodemokratisch orientiert waren, jedoch zugleich in nationalen Kategorien dachten, war der geborene Mainzer Ludwig Bamberger (Abb. 3), ein liberaler Politiker, der sich während der Revolution von 1848/49 so sehr exponierte, dass er anschließend ins Exil gehen musste. 1861 verurteilte er die „Französelei“ der Mainzer unzweideutig, entschuldigte sie aber mit der Repression der deutschen Regierungen, die sie den Franzosen in die Arme getrieben hätten – der Bezug zu seiner eigenen Gegenwart ist offenkundig.5


Abb. 3: Ludwig Bamberger (1823–1899).

Die Mainzer Lokalgeschichtsschreibung setzte sich intensiver als die allgemeine deutsche Geschichtswissenschaft mit den Ereignissen von 1792/93 auseinander, allerdings ebenfalls ganz überwiegend in abgrenzender Weise. Durch die Distanzierung von diesem „Schandfleck“ der Mainzer Geschichte galt es zu betonen, dass das gegenwärtige Mainz ganz anderen Prinzipien verpflichtet sei. Bezeichnend ist die heftige Abwehrreaktion, die 1862 der niederländische Physiologe Jakob Moleschott hervorrief, als er anlässlich der Enthüllung des Mainzer Schillerdenkmals anregte, auch Georg Forster ein Denkmal zu errichten. Er entfachte nicht nur einen Sturm der Entrüstung in der lokalen Presse, sondern provozierte auch historische Abhandlungen wie die des Gymnasiallehrers Karl Klein, der sich in „Georg Forster in Mainz“ aufs schärfste von Forster distanzierte: „Das Vaterland speit diesen entartetsten aller seiner Söhne aus; jeder Deutsche soll es sich zur Pflicht machen, ihn nie mehr zu nennen, damit sein Verbrechen am Vaterland mit ihm in Vergessenheit gerate.“6 Das lief auf die Verhängung einer damnatio memoriae über die Mainzer Republik hinaus.

Auch nach dem Ersten Weltkrieg standen die Zeichen für eine freundlichere Würdigung der Mainzer Republikaner schlecht. Zwar wurde 1918/19 mit der Weimarer Republik die erste moderne Republik in Deutschland gegründet, die zumindest mittelfristigen Bestand hatte, und demokratische Vorstellungen erfreuten sich nun zumindest in Teilen der Gesellschaft eines höheren Ansehens als zuvor. Doch angesichts der französischen Rheinlandbesetzung und separatistischer Tendenzen in den linksrheinischen Gebieten verbot sich für staatstragende deutsche Demokraten eine Berufung auf die Ereignisse von 1792/93 geradezu. Vereinzelte positive Würdigungen kamen von weit links. So stammt eine bedeutende Studie zu Georg Forster aus der Feder des sozialistischen Historikers und Schriftstellers Kurt Kersten. Er erteilte früheren Versuchen, Forsters Ehre zu retten, indem man ihn zu einem verführten, im Grunde aber unpolitischen Gelehrten erklärte, eine Absage und postulierte im Gegenteil: „Forster war kein Opfer der Revolution, sondern ihr Träger.“7 Damit deutete sich eine Linie der positiven Rezeption der Mainzer Republik an, die das Revolutionäre an den Ereignissen von 1792/93 betonte. Sie sollte nach dem Zweiten Weltkrieg sehr wichtig werden.

Während der Herrschaft des Nationalsozialismus blieb die Mainzer Republik in der deutschen Geschichtswissenschaft marginalisiert. Auch als demokratisches Experiment besaß sie in dieser Zeit keinerlei positives erinnerungspolitisches Potenzial.

Man kann also festhalten, dass die Mainzer Republik im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichtswissenschaft wie in der Mainzer Erinnerungskultur durchgängig eine negativ besetzte Episode war. Es gab zwar vereinzelte Äußerungen, die sich durch eine differenziertere Sicht vom Chor der verurteilenden Stimmen abhoben und von denen einige auf eine Exkulpation Georg Forsters abzielten – der immerhin kaum bestreitbar ein bedeutender Gelehrter war. Insgesamt aber war der Tenor eindeutig: Die Monate vom Herbst 1792 bis zum Sommer 1793 waren eine Episode der Mainzer Geschichte, über die man am besten mit Stillschweigen hinwegging oder von der man sich eindeutig distanzierte.

Vom Historikerstreit zum differenzierten wissenschaftlichen Urteil

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Parameter für die Beurteilung der Mainzer Republik grundsätzlich. Im Westen wie im Osten Deutschlands wurden Republiken geschaffen, die für sich in Anspruch nahmen, demokratisch zu sein. Demokratische Traditionen in der deutschen Vergangenheit erhielten infolgedessen eine deutlich größere Aufmerksamkeit durch die Geschichtswissenschaft in beiden Teilen Deutschlands.

Mit der deutsch-französischen Versöhnung war zugleich ein Hindernis weggefallen, das noch in der Weimarer Zeit einer positiven Sicht auf die Mainzer Republik im Weg gestanden hatte. Gerade in Mainz wurde die deutsch-französische Versöhnung groß geschrieben. Hingewiesen sei auf die Wiedergründung der Mainzer Universität, deren Vorgängerin infolge der Französischen Revolutionskriege eingegangen war, im Jahr 1946 und die Neugründung des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte im Jahr 1950, beide unter der Ägide des Leiters der Kultur- und Erziehungsabteilung der französischen Militärregierung Raymond Schmittlein.8 Umso bemerkenswerter ist, dass die Mainzer Republik in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft allgemein und bei ihren Mainzer Vertretern im Besonderen nach wie vor ein randständiges Thema blieb.

Kennzeichnend für die verbreitete Geringschätzung der Mainzer Republik ist ihre andauernde Vernachlässigung in den gängigen Handbüchern der deutschen Geschichte. In der 8./9. Auflage des „Gebhardt“ erwähnte Max Braubach die Mainzer Republik als solche mit keinem Wort, sondern schilderte die Ereignisse wie folgt:

„Vom Elsaß marschierte der französische General Custine (Abb. 4) in die Pfalz ein, bemächtigte sich der Städte Speyer und Worms und erschien vor Mainz. Da die Behörden, erschreckt auch durch das Auftreten von Revolutionsideen innerhalb der Bevölkerung, sich zu energischen Abwehrmaßnahmen nicht aufzuraffen vermochten, erfolgte am 21. Oktober die Kapitulation der den Mittelrhein beherrschenden Residenz des Reichserzkanzlers, in der unter französischem Schutz ein Klub deutscher Freiheitsfreunde sich in den Dienst der revolutionären Propaganda stellte, ohne freilich bei dem Versuch, das Land zwischen Landau und Bingen aus dem Verband des Reiches zu reißen, wirklichen Widerhall zu finden.“9 Die Mainzer Republik, die, wie gesagt, als solche keiner Erwähnung gewürdigt wird, erscheint als eine Marginalie, ja geradezu als Kuriosität. Und noch 1980 skizzierte der Direktor des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte Karl Otmar von Aretin die Mainzer Republik als „Spuk“.10

 

Abb. 4: Adam-Philippe de Custine (1740–1793), General und Befehlshaber der französischen Revolutionstruppen, die am 21. Oktober 1792 Mainz einnahmen.

Diese Vernachlässigung hing, neben der Beharrungskraft der alten Deutungen, zugleich mit der grundlegenden Neubewertung der deutschen Frühen Neuzeit durch die historische Forschung nach 1945 zusammen, namentlich mit der Aufwertung des Alten Reiches und seiner Institutionen.11 Während man im Reichstag, in landständischen und reichsstädtischen Verfassungen, in der Tätigkeit der Reichsgerichte etc. relevante Elemente einer Geschichte von Freiheit und Parlamentarismus in Deutschland suchte und fand, blieb die Mainzer Republik in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft marginalisiert. Dass die Jakobiner die nun viel positiver als früher bewertete politisch-soziale Ordnung des Alten Reichs erschüttert hatten, machte sie aus der Sicht von Reichshistorikern nicht eben zu positiv besetzten Akteuren.12

Vor allem aber wurde die Mainzer Republik aus der Sicht westdeutscher bürgerlicher Historiker deswegen diskreditiert, weil die Geschichtswissenschaft der DDR eine ausgesprochene Vorliebe für die deutschen Jakobiner entwickelte und sie als Protagonisten nicht nur einer bürgerlichen, sondern teilweise sogar als Vorläufer einer proletarischen Revolution präsentierte. Der bedeutendste Spezialist für die Mainzer Republik in der DDR war kein geringerer als der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR (seit 1972) und Präsident der Historiker-Gesellschaft der DDR (seit 1980), Heinrich Scheel, der sich seit seiner Dissertation 1956 als führender Jakobiner-Forscher einen Namen gemacht hatte. In den 1980er-Jahren legte er Editionen der Protokolle des Mainzer Jakobinerklubs sowie des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents vor.13


Abb. 5: Heinrich Scheel (1915–1996).

1989 veröffentlichte Scheel (Abb. 5) – ebenso wie die Quelleneditionen in der Reihe der Schriften des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR – eine im Wesentlichen aus verschiedenen früheren Aufsätzen zusammengestellte Monografie zur Mainzer Republik. Diese Publikation war nicht nur eine Quintessenz von Scheels eigenen Forschungen, sondern sie kann aufgrund der Stellung ihres Autors wie auch ihres Erscheinungsorts als offiziöse Position der DDR-Historiografie zur Mainzer Republik betrachtet werden – aufgrund des Erscheinungstermins wenige Monate vor dem Ende der DDR waren es gleichzeitig sozusagen ihre letzten Worte.14

Heinrich Scheel war zweifellos ein exzellenter Kenner der Quellen der Mainzer Republik und machte sich zu einem Zeitpunkt um ihre Erschließung verdient, als die westdeutsche Geschichtswissenschaft sie noch weitestgehend vernachlässigte. Seine Interpretationen der Mainzer Republik sind jedoch massiv ideologisch geprägt. Kennzeichnend sind die letzten Sätze des Bands von 1989. Bezogen auf die Einstellung Friedrich Engels zur Mainzer Republik, aber durchaus auch mit Blick auf seine eigene Gegenwart würdigt Scheel „[u]ngeachtet des durchaus andersartigen Klassencharakters [die] revolutionären Kämpfe“ 1792/93, „denn sie waren geeignet, ein revolutionäres Traditionsbewußtsein in der Arbeiterbewegung zu entwickeln, deren historische Mission in einer zwar keineswegs gleichen, aber durchaus vergleichbaren Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bestand. Hinzu kam die spezifische Fähigkeit der Arbeiterklasse, historische Illusionen der bürgerlichen Revolutionäre als intellektuelle Vorleistungen nicht nur zu würdigen, sondern sie […] mit dem Ziel aufzugreifen, sie in Realitäten zu verwandeln.“15 Die Mainzer Jakobiner galten Scheel und der DDR-Historiografie also nicht nur als Protagonisten der bürgerlichen Revolution, sondern als geistige Vorfahren der proletarischen Revolution.

Im selben Band polemisiert Scheel gegen die bundesdeutsche Forschung und nimmt in diesem Zusammenhang auch den Mainzer Professor Hermann Weber und seinen „Famulus“ Franz Dumont (Abb. 6) aufs Korn, dem er zwar „fleißige Sammeltätigkeit bis ins kleinste Detail“ bescheinigt, zugleich jedoch seinen „Mangel an historischem Sinn“ rügt. Immerhin steht ihm Dumont für eine Richtung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, bei der die „konterrevolutionäre Verteufelung“ allmählich zurücktrete.16

In der Tat markiert die Dissertation Franz Dumonts zur Mainzer Republik von 1978, die erstmals 1982 und dann 1992/93 in einer erweiterten Neuauflage publiziert wurde, einen Quantensprung in der Erforschung der Ereignisse von 1792/93. Bis dahin waren von Mainzer Historikern nur wenige Impulse zur Erforschung der Mainzer Republik ausgegangen. Eine wichtige Ausnahme waren die Forschungen des Spezialisten für Mainzer Stadt- und Universitätsgeschichte Helmut Mathy, der eine Reihe von Biografien Mainzer Jakobiner vorgelegt hat. Zwar war sein Forschungsinteresse ursprünglich nicht primär auf die Mainzer Republik gerichtet, jedoch kam diese sozusagen indirekt ins Spiel, weil einige Professoren der Mainzer Universität eine führende Rolle im Jakobinerklub eingenommen hatten. Unbestreitbar war er jedoch vor Franz Dumont unter den Mainzer Historikern derjenige, der am meisten zur Erforschung der Mainzer Republik beigetragen hatte.17


Abb. 6: Franz Dumont (1945–2012).

Franz Dumont stellte ausdrücklich die Mainzer Republik selbst ins Zentrum seiner Dissertation. Seine quellengesättigte Studie gelangte zu einem bis dahin unerreicht differenzierten Urteil, indem Dumont die Voraussetzungen und Kontexte der Ereignisse von 1792/93 angemessen würdigte, die Beweggründe der Mainzer Jakobiner herausarbeitete, aber auch die Widersprüche zwischen Ansprüchen und Realitäten, insbesondere die gegen Gegner der Revolution ausgeübte Gewalt und die geringe gesellschaftliche Basis der kurzlebigen Republik nicht verschwieg. Schon im Titel seines Buches – „Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz“ – brachte er zum Ausdruck, dass in Mainz keine eigenständige Revolution, sondern eine Revolutionierung von außen erfolgt sei18 – ein wesentlicher Unterschied zu Scheel. Für diesen war vor seinem ideologischen Hintergrund entscheidend, dass es sich bei den Mainzer Vorgängen um eine Revolution im Sinne des Historischen Materialismus handelte.

Wichtig für das differenzierte Urteil Dumonts ist die von ihm hervorgehobene Phaseneinteilung der Ereignisse von 1792/93: Auf eine von einem französischen Befreiungsangebot und einer die Bevölkerung schonenden Besatzungspraxis geprägte Phase, die von Oktober bis Mitte Dezember 1792 andauerte, folgte um die Jahreswende 1792/93 eine zweite Phase, die „in vielem das Gegenteil der ersten“ darstellte und durch einen „Zwang zur Freiheit“, durch eine zunehmend „ideologische Konfrontation“ und durch den Verlust der Kompromissfähigkeit charakterisiert war. Zwar fand die Revolution auf dem Land noch neue Anhänger, insgesamt verlor die jakobinische Bewegung aber an Substanz. Der Klub büßte zudem zugunsten des Rheinisch-Deutschen Nationalkonventes an Bedeutung ein, der seinerseits von französischer Seite zur Legitimierung der eigenen Expansionsbestrebungen genutzt wurde. Die letzte Phase, die von der „Selbstauflösung“ des Konvents und der Einschließung von Mainz bis zur Übergabe der Stadt im Juli 1793 andauerte, stand unter „der Dominanz des Militärischen“ und wird von Dumont als „für eine politische Geschichtsbetrachtung wenig ergiebig“ eingestuft.19

Differenziert ist auch Dumonts Urteil bezüglich des Demokratiegehalts der Mainzer Republik: „Erklärtes Ziel der Mainzer Jakobiner war die Demokratie, und ihre Staatsauffassung enthielt schon die wichtigsten Elemente moderner Demokratiemodelle. Deshalb sind die rheinischen Jakobiner von 1792/93 als die ersten deutschen Demokraten anzusehen – freilich mehr wegen ihrer Ideen als aufgrund ihres Handelns. In Mainz, Rheinhessen und der Pfalz gab es damals zwar Ansätze zur Demokratie, doch blieben diese zu vereinzelt, um wirklich demokratische Verhältnisse herbeizuführen. Die Mainzer Republik war vielmehr ein Besatzungsregime mit einigen, allerdings bemerkenswerten, demokratischen Zügen.“20

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