Die Psychologie des bürgerlichen Individuums

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§ 3. Heuchelei und Leiden an der Welt

Da die Welt mit ihren Chancen ziemlich geizt und sich die Selbstkontrolle nicht lohnt, bemüht sich das moralische Ich ständig um die Einlösung seiner Ansprüche; als solche nämlich treten seine zurückgewiesenen Interessen auf. Weil es sich auf die Übereinstimmung des eigenen Materialismus mit den Prinzipien des Erlaubten verpflichtet hat, beruft es sich auf diese Prinzipien, sooft es sich mit seinem Anliegen durchsetzten will. Es bringt jeden Zweck und jede Handlung als Recht des subjektiven Willens zur Darstellung, beschwört ständig, dass seine Taten den von ihm anerkannten Maßstäben gemäß sind – und vertritt seinen individuellen Erfolg als höchst allgemeines Anliegen: Heuchelei, der moralische Materialismus, der andere als Egoisten kritisiert, weil sie „nur“ an sich denken.

Herrschaft, die tatsächlichen und mit Gewalt auferlegten Beschränkungen des praktischen Lebens, erscheint dem moralischen Subjekt, das auf seinen berechtigten Interessen besteht, weder als Klassengegensatz (= als auf dem Privateigentum beruhende Konkurrenz) noch als Unterwerfung unter das Gewaltmonopol des Staates. Wenn das eigene Interesse rechtens ist und dennoch zu kurz kommt, so ist die bürgerliche Welt eine Anhäufung von Ungerechtigkeiten, sie gehorcht den eigenen höheren Normen nicht, wodurch gerade ein anständiger Mensch „gezwungen“ ist, praktisch immerzu mit Verstößen gegen diese Normen zu kalkulieren, so sehr er theoretisch an ihnen festhält. Dabei kommt er sich so vor, als würde er ihre Gültigkeit retten, wenn er sich der billigen List bedient, welche die Gewohnheit der Heuchelei ausmacht. Er sucht den allgemeinen Respekt vor Recht und Sitte auszunützen, indem er bei jeder Interessenkollision den Grund seines Tuns in die Realisierung von Rechten und Pflichten übersetzt, sich als Wahrer der sittlichen Maßstäbe aufspielt, weil ihm „nur so“ die Welt ein Auskommen gestattet. Und um der Glaubwürdigkeit seines Heuchelns willen führt er seinen Anstand immerzu vor und ist ein Meister des guten Benehmens, das er selbstredend auch von anderen fordert.

1. Erfolgsstreben im Namen des Guten

Die moralische Persönlichkeit demonstriert ihr Bedauern, dass man es mit Anstand keineswegs zum garantierten Erfolg bringt, und sie will damit nicht die Kündigung ihres Einverständnisses eingereicht haben. Dass es ein anständiger Mensch zu nichts Gescheitem bringt, ist zwar eine sehr geläufige Floskel; doch bildet sie nicht den Auftakt zur Gegnerschaft gegen die Instanzen des Erlaubten, sondern zur albernen Technik der Selbstbehauptung, die sich materialistisch gibt: „Die Welt will betrogen sein“. Der ganze Betrug besteht allerdings darin, dass der bürgerliche Tugendbold sämtliche Absichten mit dem Schein des Guten versieht: mit dem Hinweis, außer für ihn wären seine Taten vor allem für andere bedeutsam, also ziemlich gut gemeint und somit auf der Linie dessen, was ja wohl jedermann als seine Pflicht ausmachen könne, rechtfertigt er den anvisierten Vorteil, sein Interesse. Die Heuchelei bleibt also beim Anstand als einem Mittel des Erfolgs, wenngleich als einem, das man von der Praxis zu scheiden hat und als Legitimation für den eigenen Materialismus einsetzen muss.

2. Der einseitige Nutzen der Heuchelei: Müssen – Sollen – Können – Dürfen

Gerechtfertigt wird dabei aber auch die Herrschaft, da man ihr bescheinigt, sie gestatte den Individuen, die des Zerwürfnisses beider Maximen innewerden und das rechte Geschick in ihrer Handhabung entwickeln, ein flottes Leben. Dieses Geschick im Umgang mit den anderen trifft jedoch nicht nur auf ebenbürtige Mitmenschen, die einen auf das vorgeschobene Pflicht-Bewusstsein und Gerechtigkeitsgetue festlegen; es versagt ganz offensichtlich seinen Dienst, wo handfestere Mittel fehlen, so dass die von allen Ständen gepflegte List der Heuchelei nur bei denen zieht, wo sie die List des Stärkeren ist. Für ihn erscheint sie nicht einmal als eine besondere Anstrengung, sondern als das öffentlich zur Schau getragene, ganz gewöhnliche Selbstbewusstsein. In Amt und Würden arrivierte Leute tun nie das, was sie gerade anstellen, sondern immer nur ihre Pflicht, und wenn ein solcher Mensch Fortschritte in seiner Karriere zu verzeichnen hat, vermehrt sich nie seine Macht, sondern seine Verantwortung. Die Folgen seiner Entscheidungen und Maßnahmen nimmt ein echter Vorgesetzter und Amtsträger mit einem „leider“ zur Kenntnis, wenn sich andere beklagen – womit er die Notwendigkeit seines Tuns bewiesen haben möchte; bei Kritik verlangt er nach alternativen Möglichkeiten, von denen er weit und breit keine sieht – zumal er gar nichts anderes verfügen dürfe, als das, was er selbst nicht will. Kein Wunder, dass die Modalverben, die die Stellung des Willens zur Tätigkeit des Subjekts ausdrücken, zum bevorzugten Hilfsmittel der Heuchelei im alltäglichen Verkehr geworden sind.

3. Trennung von Theorie und Praxis des Anstands

In der gewohnheitsmäßigen Heuchelei kommt sich aber auch das mindere Subjekt, der „kleine Mann“, ziemlich frei, weil enorm schlau und gerissen vor; obgleich es sich zu Schleimereien gegenüber höhergestellten Leuten und zu allerlei Verstellungskünsten erniedrigt, meint es doch nur seinem Materialismus zu folgen. Darüber vergisst es gerne die Untauglichkeit des Mittels – so dass aus dem Munde eines Normalverbrauchers manches Lächerliche zu vernehmen ist. Wenn ein solcher sein Anliegen mit Hilfe des obligatorischen „wir“ durchsetzen will, hört sich das eben anders an als beim Chef. Da hält sich dann auch mancher in den Bereichen schadlos, wo er etwas zu melden hat, und traktiert die Kleinen, deren Wohlverhalten er beansprucht, gerne mit dem gewichtigen Wort „Ich will doch nur dein Bestes“. Und wird einer daran erinnert, dass er sich an die Maßstäbe, die er ständig vertritt, selbst nicht hält, fällt ihm sogar der Begriff von dem Getue ein: in der „Theorie“ sei das ihm Abverlangte schon recht, in der „Praxis“ jedoch – so spielt er auf seinen wirklichen wie erhofften Vorteil an – ginge es schlecht. Die so ausgesprochene Trennung zwischen befürworteten Grundsätzen und dem gemeinen Leben, das einen an ihrer Einhaltung hindert, ist in der bürgerlichen Gesellschaft alles andere als ein Geheimnis – auffallen tut einer höchstens, wenn sie ihm misslingt: Freud’sche Versprecher und Schlimmeres sind üblich, wenn die Selbstkontrolle auf dem Felde öffentlicher Verstellung nicht klappt.

4. Anstand als gelebtes Ideal: Höflichkeit

Die Trennung, die ein ehrlicher Heuchler ohne weiteres eingesteht, indem er sich unter allergrößtem Bedauern der Inkonsequenz in Fragen der Moral bezichtigt, praktiziert er allerdings in der Gewissheit, dass es ohne nicht geht, in allen Angelegenheiten. So wenig der Anstand die Verkehrsformen der Leute untereinander bestimmt, so sehr gehorchen sie dem heuchlerischen Bedürfnis nach wechselseitiger Anerkennung jenseits der wirklichen Zwecke, die sie zusammenführen. Der Anstand, wenn schon nicht als solcher durchzuhalten, wird als Ideal gelebt: wo jeder meint, mit dem Nachweis der Berechtigung all dessen, was er will, seinem Interesse den Durchbruch zu ermöglichen; wo umgekehrt jeder auf die Prüfung seines Anliegens gefasst sein muss, sich zu rechtfertigen hat bezüglich seiner Ansprüche – bewegen sie sich 1. in erlaubten Bahnen?, 2. stehen sie ihm als Verdienst zu?, also im Klartext: 3. kommt er mir nicht in die Quere? –, da fehlt es nicht an Höflichkeit. Jede Form von Abhängigkeit, jeder Gegensatz von Interessen wird zu einer Frage des Benimms, der darüber entscheidet, ob einem überhaupt Gehör zuteil wird. In den Techniken des guten Tons lassen sich die Individuen getrennt von allem, was sie miteinander zu tun haben, vorhaben und von anderen wollen, ihre prinzipielle Anerkennung zuteil werden.

Von anderen erwarten sie die Respektsbezeugung quasi als Versprechen darauf, dass sie nichts Unanständiges im Schilde führen, und bekennen sich selbst in der Einhaltung und Beherrschung der Anstandsregeln zur Moral, zur Selbstkontrolle als Ritual; dessen Befolgung erscheint als die conditio sine qua non für jeglichen Erfolg. Dennoch garantiert der Hut in der Hand noch lange nicht, dass man durch das ganze Land kommt. Dass die Höflichkeit zur Bedingung für die Berücksichtigung eines Interesses gemacht wird, heißt eben nicht, dass sie die Brauchbarkeit einer Leistung für andere ersetzt. Es kommt eben sehr darauf an, was einer nach erfolgter Begrüßung und außer seiner korrekten Kleidung und Rasur noch „zu bieten“ hat – eine Weisheit, die nicht selten Leute in Erinnerung bringen, die berufsmäßig mit anderen als dem Material ihres wirtschaftlichen und politischen Erfolgs umgehen. Zur Institutionalisierung des berechnend-freundlichen Umgangs, den schon Kinder wie das Einmaleins beigebogen bekommen, gehört nicht nur der Generalverdacht, dass vielleicht gar nichts „dahinter“ ist, sondern auch die Freiheit, nach gesellschaftlicher Stellung sehr unterschiedlich auf dem „Protokoll“ zu beharren. Während Politiker und Unternehmer, aber auch Lehrer und Meister gewaltigen Wert darauf legen, dass ihre Untergebenen ein tadelloses Benehmen an den Tag legen, können sie sich selbst der rüdesten Manieren befleißigen, ohne auf Kritik – außer hinter vorgehaltener Hand – zu treffen. Wenn es solchen Leuten beliebt, können sie sich auf Grundlage ihrer Stellung sogar beliebt machen mit einem unkonventionellen „Stil“, also ganz souverän nichts „auf Äußerlichkeiten“ geben und für lockere Töne plädieren. Umgekehrt ist das weniger leicht: so hat manche Übertretung in Sachen „Takt“ an Hochschulen und auch sonst bei der Ankunft hoher Herrn sehr schnell den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Folge, wenn nicht sogar den Einsatz der Ordnungskräfte. Für minder bemittelte und auf ihre Brauchbarkeit angewiesene Menschen ist es jedenfalls auch im 20. Jahrhundert ratsam, sich an der ursprünglichen Bedeutung von Grußworten wie „Servus“ und „Ciao“ zu orientieren und die Tonart anzuschlagen, die ihnen zusteht. An Flugblattverteilern und Bedienungen können sie sich dann die Kompensation verschaffen, die ihr ansonsten stark gebremster Materialismus benötigt.

 

5. Der moralische Materialismus. Neid und Schadenfreude

Das bürgerliche Individuum ist ein gelernter Heuchler. Es kennt sich also aus seiner eigenen Praxis sehr gut in dem aus, was andere so treibt, was sie meinen, wenn sie freundlich sind – und es entdeckt ohne Schwierigkeiten das Auseinanderfallen des proklamierten Anstands und des berechneten, also bedingten Umgangs mit ihm. Deswegen ist es auch fähig, die Heuchelei auf die Spitze zu treiben und im Namen der Moral andere der doppelten Moral zu überführen. Zwar ist an der Moral überhaupt nichts doppelt: ohne ihre Trennung von der Praxis gibt es sie nämlich gar nicht. Seinesgleichen und „Bessergestellten“ mit Kritik an ihrem Tun wie an ihrer Interpretation desselben zu kommen – in einem Fall hätte die Aufdeckung von Fehlern die Interessen des Kritisierten zur Grundlage, im anderen Falle auch, nur mit dem unterschiedlichen Ergebnis, dass die Erklärung der Gegnerschaft herauskäme –, ist im „zwischenmenschlichen Verkehr“ der bürgerlichen Individuen jedoch wenig ratsam. Anstand beweisen heißt vielmehr eben, sich als treuer Gefolgsmann des Scheins aufzuspielen, der sich an den Werken der ihn aufbauenden Mitmenschen blamiert. Dann gelangt man nämlich in den Genuss der Schadenfreude, die sich als äußerst berechtigtes Gefühl einstellt, sooft die Heuchelei anderer von Misserfolg gekrönt ist. Es ist üblich, im Namen des Anstands andere zu verurteilen: für ihre fingierte und berechnende Zurschaustellung von Moral ebenso wie für deren schlichte Verletzung. Das Bedürfnis nach „Information“ über fehlgeschlagene Versuche in beide Richtungen ernährt eine ganze Abteilung der Massenkultur, die sich der Dokumentation der Sentenz „Unrecht Gut gedeiht nicht“ annimmt. In dieser Welt leben dann folgerichtig auch gute – weil raffinierte und herzliche – Verbrecher, die sich zusammen mit dem „unverschuldeten Unglück“ ganz braver Leute gut ausnehmen. Der idealistischen Betätigung des subalternen Verstands sind nämlich keine Grenzen gesetzt – im Unterschied zum materiellen Erfolg der Individuen, die im Einverständnis mit den bürgerlichen Geboten zu etwas kommen wollen, ohne was zu haben. Eher kultiviert ein moralisches Subjekt, das den Materialismus in die Form des Conditionalis verbannt hat, sein Interesse in Gestalt des Neides, der für andere ebenso wenig fordert, wie man selbst abkriegt, als dass es sich auf die objektiven Schranken besinnt, die seine Wünsche dazu verurteilen, welche zu bleiben. Die Erfahrung, dass die List des Heuchelns ihren Dienst versagt, ist für ein solches Individuum eben nur Anlass, sich auch ohne zählbare Treffer zu behaupten.

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§ 4. Der rechtschaffene Mensch

Auch die so offensiv ausgestaltete Unterwerfung unter das Erlaubte, die Beanspruchung eines Rechts auf das eigene Wohl ist nur bei einer Minderheit mit Erfolg im ökonomischen und politischen Leben verbunden, und auch dafür ist die Heuchelei nicht der Grund. Diese Minderheit findet aber immerhin einigen Anlass, große Stücke auf die eigene Person zu halten, was sie in der gebotenen Einheit von Bescheidenheit und Stolz auch tut: Die eigene Rechtschaffenheithat – im Verein mit etwas Glück – die Erfüllung jeglichen materiellen Bedarfs bewirkt und lässt ihn im Lichte der über ihn hinausgehenden ideellen und ästhetischen Genüsse schon fast wieder nebensächlich erscheinen.

Gerade wegen ihrer beschissenen Lage brauchen jedoch auch die Zukurzgekommenen auf dieses Ideal von sich nicht zu verzichten. Die Tatsache, dass ihnen die freiwillige Verpflichtung auf die gebotenen Grundsätze des Miteinander nicht gelohnt wird, verlangt ihnen nämlich eine eindeutige Alternative ab. Entweder sie betrachten die Welt, in der sie zu kurz kommen, objektiv, stoßen auf die Gründe dafür und tragen die Gegensätze aus, in die sie gestellt sind; oder sie behalten ihren moralischen Standpunkt bei, glauben an ihre eigene Heuchelei und legen sich die Haltung zu, mit der sie sich weiterhin in aller Freiheit an der akzeptierten Herrschaft abarbeiten können. Im zweiten, dem heutigen Normalfall, halten sie sich dann für anständige und tüchtige Leute, die sich eben deshalb nichts leisten können, weil sie Pech gehabt haben und es sie in eine Welt verschlagen hat, die ihren Fleiß und Anstand überhaupt nicht honoriert. Dem tagtäglich erneuerten Beschluss, mitzumachen, tragen sie angesichts des mäßigen Ertrags durch ein gutes Gewissen Rechnung. Selbiges kriegen sie freilich nur durch den beständigen Kampf gegen das schlechte Gewissen, das sie sich aus dem Vergleich zwischen Anforderungen des bürgerlichen Lebens, dessen Erfolgskriterien und ihrem „Versagen“ bei deren Erfüllung einhandeln. In der ihnen entsprechenden Kombination von Selbstbezichtigung und Trost besinnen sich die gedeckelten Individuen der modernen Gesellschaft auf sich. Sie retten sich in die Vorstellung, bei allem mehr oder minder vergeblichen Bemühen vortreffliche Persönlichkeiten zu sein – und mit diesem ideellen Kriterium, dem die praktische Bedeutung jedes gewöhnlichen Menschen spottet, beurteilen sie sich und andere. Der freie Wille gelangt so in den traurigen Genuss, sich immerzu zwischen Scham über den eigenen Misserfolg und der Pflege des Scheins enormer Verdienste zu entscheiden. Dem Rest der Menschheit begegnet er als Richter, der neidisch jedermann der Vorspiegelung gar nicht vorhandener Größe bezichtigt und empfiehlt, man solle sich was schämen.

1. Selbstbewusstsein: Tugend des Scheiterns und Stolz des Erfolgs

Dass der Mensch ein Selbstbewusstsein braucht, ist nicht nur den gebildeten Leuten geläufig. Auch mit psychologischen Theorien gänzlich unbekannten Kreisen ist die Quintessenz der einschlägigen Lehren wohl vertraut; aus der politischen Agitation, wo die führungsbeflissenen Favoriten der Nation ihren guten Charakter werbewirksam zur Schau stellen; aus der Sportszene, wo es den Lieblingen des Volkes immer dann an Selbstbewusstsein gebricht, wenn sie nichts Rechtes zustande bringen – und aus „eigener Erfahrung“ in Schule, Beruf und Liebesleben. Dabei verwechselt niemand jenen ominösen Besitz mit dem einfachen Sachverhalt, dass der Mensch seiner selbst bewusst ist, also sich im Unterschied zum Rest der Welt zum Gegenstand nimmt und reflektiert, was er an Bewusstsein von der Objektivität hat. Stets ist die in der bürgerlichen Gesellschaft übliche Art und Weise gemeint, in der sich das moralische Ich für seine Leistungen, deren Ertrag bzw. seine Misserfolge zuständig erklärt. Es hält eben angesichts der praktischen Vereitelung seiner Ambitionen mehr oder minder große Stücke auf sich – und die meisten sehen in ihrem „Selbstbewusstsein“ nicht das Produkt ihrer Anpassung, sondern die unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen ihrer Werke.

Einerseits rettet sich so ein selbstbewusstes Subjekt, wenn es im Einverständnis mit den gesellschaftlichen Anforderungen handelt und dabei einige seiner Wünsche auf der Strecke bleiben, vor dem vernichtenden Urteil, es habe einfach nichts zu bestellen. Dazu trennt es seine wirklichen Leistungen und Erfolge von seinen Fähigkeiten: es will von sich wissen, dass es mehr kann, als es tatsächlich bewirkt. Andererseits stellt es fest, dass es wohl schon immer Treu und Redlichkeit geübt hat und dies auch bis an sein kühles Grab so halten wird, aber eben damit auf die Schnauze fällt. So gesellt sich zum Bewusstsein von der eigenen Tüchtigkeit das von der Güte, die man verströmt. Während im praktischen Leben die Verdienste der meisten Menschen für ziemlich gering erachtet werden und jeder Werktag eine harte Abrechnung präsentiert, leistet sich das Individuum mit seinem Selbstbewusstsein, das es sich zulegt, wenigstens theoretisch eine Bilanz der umgekehrten Art. So perfekt hat das bürgerliche Ich die Maßstäbe der Gesellschaft zu den seinen gemacht, dass es sich ihre Erfüllung zugute hält, auch und gerade wenn es sich nicht auszahlt. Es tröstet sich ganz einfach damit, dass es schwer in Ordnung ist, und lässt sich diesen Trost auch noch von seinen Benutzern verabreichen. In regelmäßigen Abständen sagen die hohen Herren der demokratischen Hierarchie, wie wichtig Handwerker, Bauern, Schlosser und Gastarbeiter sind und dass es gar nichts ausmacht, wenn sie keine höhere Bildung aufweisen.

2. Das Gewissen: Scham und Unverschämtheit

In der Pflege des Ideals, das es sich von sich macht, legt das Individuum ein flottes Bekenntnis zu seiner Freiheit ab. Wenn es auf seine Rechtschaffenheit pocht, erklärt es seinen Willen, den Maßstäben der bürgerlichen Gesellschaft stets zu genügen, und hält sich in seinem Stolz nun endgültig für alles zuständig, was bei seinen Taten herauskommt. Das hat Konsequenzen für die „Deutung“ der Misserfolge, die es sich einhandelt: Ein moralischer Mensch entdeckt seine Mängel und Niederlagen sogleich in Gestalt unmittelbarer Selbstbezichtigung. Er hält nicht viel von Selbstkritik, dafür ist ihm die Übersetzung von sämtlichen Fehlern und Misserfolgen in ein schlechtes Gewissen geläufig. Die Scham, die einen mit diesem „Selbstbewusstsein“ ausgestatteten Knilch, also jedes erzogene Individuum befällt, bedarf nicht einmal mehr der verständigen Unterscheidung zwischen einer Bemühung, die ein Konkurrent, der Staat oder sonst eine maßgebliche Instanz unfruchtbar gemacht hat, und der unsachgemäßen Durchführung eines Vorhabens, einer Ungeschicklichkeit, eines falschen Vorgehens, das mangelnder Kenntnis oder Übung entspringt. Deshalb nicht, weil ihr Grund nicht im Urteil über das eigene Tun liegt, sondern im Anlegen des offiziellen Erfolgsmaßstabs an das, was man zustande bringt. Wer aus dem Willen, in Übereinstimmung mit den Zwängen des kapitalistischen Lebens und nur so Erfolg zu ernten, eine Lebensmaxime gemacht hat und sich in ihrer Erfüllung idealisiert, der blamiert sich eben nur noch vor seinen eigenen Prinzipien – die er für alles andere als für versubjektivierte Zwänge hält.

Im Schamgefühl, das sich bei einem Fehler ebenso einstellt wie anlässlich einer Verletzung des Benimms, den man befürwortet, entdeckt das Individuum die Wahrheit seines „berechnenden“ Charakters, den es mit dem Gemeinspruch „Der Erfolg gibt ihm recht!“ ansonsten behauptet. Es hört auf, sich berechnend zu geben; und im Interesse seines Interesses, das es ja nicht immerzu so sträflich vernachlässigen kann, wird es dann auch schnell wieder unverschämt. Darunter versteht man zurecht nicht die Praktiken der Heuchelei, sondern deren Unterlassung. Akzeptiert und üblich sind die Praktiken, durch die ein Mensch sein schlechtes Gewissen in ein gutes verwandelt: Jene Zusammenstellung von tausend guten Gründen dafür, dass es gar nicht anders handeln konnte als so, wie es seinem Gewissen eigentlich missfällt. Damit entschuldigt sich der Mensch vor sich und vor anderen, die sich offensichtlich mit denselben Idealen drangsalieren und sie an jedermann als Maßstab anlegen, der ihnen in die Quere kommt. Die Demonstration des guten Gewissens, die Präsentation der vorzüglichen Gesinnung und Leistungsfähigkeit erspart dabei den lästigen Umweg über das Vorzeigen der Scham, die man mit sich herumschleppt, weil man ständig bemerkt, wie wenig das Ideal der rechtschaffenen Figur Wirklichkeit ist. So laufen moderne Individuen außer mit viel Selbstzweifeln auch noch als Angeber herum und erzeugen vor Gott und der Welt den Schein, sie wären wunder wer und brächten lauter Großtaten zustande. Falsches Bewusstsein tritt hier unmittelbar als Lüge auf: über die eigenen Leistungen, über den Erfolg, den Verdienst, über die lauteren Absichten und über die großen Pläne, hinter denen man her ist, während man in der stinknormalsten Weise sein Zurechtkommen in der Welt bewerkstelligt, so wie es deren Ordnung gebietet.

 
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