Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage

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2.2 Die normative Geltung der Bekenntnisschriften in der Aufklärungstheologie

Die deutsche evangelische Aufklärungstheologie hat ebenfalls die Notwendigkeit einer individuell verantworteten Aneignung des christlichen Glaubens betont. Dies wurde aber, anders als im Pietismus, mit einer Hochstufung der Geltungskraft menschlicher Vernunft in Theologie und Glaube verbunden. Dadurch kam es zunächst zu einer gegenüber Spener nochmals kritischeren Haltung gegenüber der Bekenntnistradition; hinzu kam eine durch die historische Erforschung der biblischen Texte möglich gewordene kritische Attitüde gegenüber der Heiligen Schrift selbst. Die von dieser Basis aus unternommenen Reflexionen der Aufklärungstheologie führten zu tiefgreifenden Umformungen der überlieferten dogmatischen Lehrbestände, Umformungen,[28] die auf dem Weg über die kirchliche Verkündigung auch das Glaubensverständnis der Christen zunehmend beeinflussten.

Es war der 1765 von Johann Joachim Spalding in sein Amt als Diakon (später Archidiakon) an der Berliner St. Nicolai-Kirche eingeführte Theologe Friedrich Germanus Lüdke, der die neue Debatte über die normative Geltung der Bekenntnisschriften anstieß.[29] In seiner 1767 (anonym) publizierten Schrift »Vom falschen Religionseifer« hat |68|Lüdke die aufklärungstypischen Argumente für eine Abschwächung der Geltungskraft der Bekenntnistexte des 16. Jh. entfaltet.[30]

»[V]erständige Gemüther […] werden leicht einsehen, daß, da die menschlichen Erkenntnisse in neuern Zeiten in allen Wissenschaften höher gestiegen sind […], sich auch nothwendig die menschlichen Einsichten über diese und jene Lehrsätze des geoffenbarten Evangeliums […] verbessern müssen.« Eine schlichte Berufung auf »unsre grauen Vorfahren« ist daher ein unplausibles Argument für ein Festhalten am alten Bekenntnis. Vielmehr gilt nach Lüdke, »daß es uns zur Sünde angerechnet werden könne, wenn wir, denen mehrern Hülfsmittel in Erforschung der heiligen Schrift, als sie hatten, durch die göttliche Forschung gegeben sind, in dieser und jener theoretischen Lehre des Christenthums [hier ist zu ergänzen: nicht] von ihnen abgehen« (39–41).

So wie schon Spener, in dessen Tradition sich der Aufklärer Lüdke explizit gestellt hat, den Hamburger Orthodoxen die Einführung eines neuen Papsttums vorgeworfen hatte, so kritisierte auch Lüdke im Blick auf die Hochschätzung der Bekenntnisse und die damit verbundene Verfestigung der (innerprotestantischen) Lehrdifferenzen,

»daß wir ein neues Pabstthum unter uns einführen, einer freien und gewissenhaften Untersuchung der Wahrheit in der evangelischen Kirche Grenzen setzen, um bloßer Nebenmeinungen willen, ob wir gleich Brüder sind, unter uns Zank seyn lassen und in dem sektirischen Geiste der Korinther sprechen wollen: Einer, ich bin lutherisch, der andere ich bin calvinisch, der dritte ich bin christisch [vgl. I Kor 1,12]« (63).

Der von Lüdke kritisierte intolerante Glaubenseifer, der gerade auch die »Nebenmeinungen« der in den Bekenntnisschriften enthaltenen konfessionsspezifischen Lehren zum unveräußerlichen Bestandteil der Rechtgläubigkeit erhebt, boykottiert nicht nur die stets nötige Weiterentwicklung der christlichen Lehre; er verfehlt vor allem die eigentliche Pointe des christlichen Glaubens. Denn er »hindert […] mit dem aufgehaltenen Wachsthum einer gründlichern Erkentniß |69|im Christenthum den Wachsthum einer gereingtern und gewissenhaftern Tugend« (140). – Das dogmatische Innovationsinteresse der Aufklärungstheologen wurde also von Lüdke theologisch mit dem Hinweis auf die reformatorische Kritik am päpstlichen Anspruch auf Lehrhoheit – und insofern im Rekurs auf das protestantische Freiheitsprinzip – gerechtfertigt. Aus juristischer Perspektive – und damit ist erneut die oben schon erwähnte religionspolitische Relevanz der symbolischen Bücher angesprochen – ergab sich freilich das Problem einer Spannung zwischen theologischen Neuerungen und der 1555 bzw. 1648 geschaffenen konfessionspolitischen Situation im Reich, die, was die rechtliche Duldung der Protestanten anging, die Verbindlichkeit der reformatorischen Bekenntnisse für die öffentliche Lehre in den evangelischen Territorien prinzipiell voraussetzte. Ein stets wiederholtes Argument gegen eine Einschränkung der Bekenntnisgeltung lautete daher: »Die reichsrechtliche Anerkennung des Protestantismus basiert auf dem Bekenntnis zur Augustana. Lossagung von dieser Grundlage könnte leicht katholischen Reichsständen Vorwand werden, die Garantien des Augsburgischen resp. Westfälischen Friedens zurückzunehmen.«[31]

Ein prominenter Versuch, die um der evangelischen Freiheit willen unaufgebbare Offenhaltung einer Weiterentwicklung der theologischen Lehre mit den reichsrechtlich verankerten politischen Stabilitätsinteressen auszugleichen, stammt von Johann Salomo Semler. Nach Semlers Auffassung erstreckte sich die Verbindlichkeit der Bekenntnisse des 16. Jh. (lediglich) auf die öffentliche kirchliche Verkündigung, ohne zugleich die privaten Glaubensüberzeugungen aller Christen gleichzeitig umfassend zu normieren.[32] Die der öffentlichen Religionsverkündigung zugrunde liegenden Lehren sind danach lediglich ein staatlich garantierter Rahmen, innerhalb dessen sich die individuellen Glaubensüberzeugungen frei, d.h. ohne Gewissenszwang, entfalten können.[33] Die faktisch bestehende Differenz zwischen dem persönlichen Glauben einerseits und der traditionellen kirchlichen Lehre andererseits hat Semler mit seiner Unterscheidung |70|von Religion und Theologie konzeptualisiert; die individuelle Religiosität des einzelnen Christen sollte dadurch entkoppelt werden von der staatlich sanktionierten christlichen Lehre sowie von den wissenschaftlichen Debatten der Fachtheologen.[34] Damit waren die individuelle Glaubensfreiheit sowie die fachtheologische Kritik an den Bekenntnisschriften und die Debatten über ihre Verbindlichkeit religionspolitisch neutralisiert und mit dem landesherrlichen Interesse an einer Kanalisierung der religiösen Individualisierung und Pluralisierung prinzipiell vermittelt.

2.3 Schleiermacher und die Bekenntnisschriften[35]

Die Frage, »welchen Stellenwert er den Bekenntnisschriften der Reformationszeit für das kirchliche Leben und die theologische Arbeit der Gegenwart beigemessen hat«, hat Friedrich Schleiermacher vornehmlich in drei Texten behandelt, die jeweils in eine konkrete »theologisch-kirchenpolitische Tagesdebatte eingreifen«.[36] Dabei handelt es sich (1) um die 1818 entstandene und im Folgejahr publizierte Schrift »Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher«.[37] Im Hintergrund stand dabei der sog. Ammonsche Streit, der wiederum im theologiegeschichtlichen Kontext des Reformationsjubiläums von 1817 zu würdigen ist.[38] Darüber hinaus sind zwei Texte zu nennen, die in das zeitliche Umfeld der dritten Säkularfeier der Übergabe der »Confessio Augustana« an Kaiser Karl V. am 25. Juni 1530 gehören. Zu nennen ist dabei (2) der im Oktober 1830 erschienene Aufsatz »An die Herren D.D.D. von Cölln und D. Schulz«,[39] der sich mit dem von Daniel Georg |71|Konrad von Cölln und David Schulz gemeinsam verantworteten Votum vom April 1830 zum Halleschen Theologenstreit auseinandersetzt.[40] Mit seiner Stellungnahme provozierte Schleiermacher eine kritische Replik der Breslauer Kollegen,[41] auf die er seinerseits in der (3) Vorrede zur 1831 publizierten Sechsten Sammlung von zehn im Sommer und Herbst 1830 gehaltenen »Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession« reagierte.[42] In seiner (schon herangezogenen) 1989 publizierten Göttinger Habilitationsschrift hat Martin Ohst nicht nur die genannten Texte untersucht,[43] sondern auch herausgearbeitet, dass die Auffassung des Kirchenvaters des 19. Jh. zur Gegenwartsrelevanz der protestantischen Ursprungsdokumente als »eine Anwendung der individualitätstheoretischen Seite von Schleiermachers Reformations- und Protestantismusdeutung« zu verstehen ist.[44]

Schleiermachers Position zum Stellenwert der Bekenntnisschriften lässt sich, soweit es für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, in zwei Punkten zusammenfassen.

a) Einerseits hat sich Schleiermacher stets kritisch gegen die (nach den Befreiungskriegen von Vertretern des lutherischen Konfessionalismus erhobene) Forderung, gewendet, »den kirchlichen Bekenntnißschriften ein bindendes Ansehen« zuzugestehen, »kraft dessen ihr Inhalt die Norm der öffentlichen Lehre wenigstens in allen gottesdienstlichen Handlungen seyn würde«.[45] Noch in der Vorrede zu den Augustana-Predigten hat er – gegen eine missverständliche |72|Formulierung im ersten der Cölln-Schulzschen Antwortschreiben (Anm. 41) – betont, sein Votum vom Oktober 1830 (Anm. 39) sei »nichts anderes […] als eine Protestation gegen etwanige Einführung einer solchen Verpflichtung«.[46] Dem berechtigten Interesse an »Einheit und Festigkeit« der evangelischen Kirche wird nämlich, so Schleiermacher, gerade nicht mit dem »Joch eines Buchstabens« gedient; für effektiver hält er die »zwanglose Stärkung der Kraft öffentlicher Einrichtungen und eines gemeinsamen Lebens«, sofern dadurch die »freie Übereinstimmung im Glauben« gefördert wird.[47] Auch in seiner am 20. Juni 1830 gehaltenen Augustana-Predigt hat Schleiermacher im Anschluss an 1 Kor 7,23 (»Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte«) vor einem Rückfall in die Knechtschaft des Buchstabens dieser Bekenntnisschrift gewarnt. – »Wohl! gesezt nun, wir wären von dieser [durch Paulus in IKor 7,23 kritisierten] Knechtschaft todter Werke zurückgekommen, wir ließen diese auch nicht wieder aufleben, aber wir ließen uns auflegen ein Joch todter Worte und eines todten Glaubens, wir ließen uns binden von einem der da sagte, so nur und nur so muß über dieses geredet werden […]; das wäre nicht eine mindergefährliche, ja ich muß es gerade heraussagen, eine schlimmere Knechtschaft als jene.«[48] Gleichwohl möchte Schleiermacher die Bekenntnisschriften ausdrücklich nicht in den Status nur historischer Dokumente zurückstufen, denen keine besondere Bedeutung für die evangelische Kirche zukommt und die deshalb »mit den Verhandlungen anderer untergeordneten Religionsgespräche« und »mit den dogmatischen Erzeugnissen anderer wohlgesinnter und ausgezeichneter einzelnen« auf einer Stufe stehen. Dies würde »einen gänzlichen Mangel an geschichtlichem Sinne […] verrathen«, eine Ignoranz gegenüber dem »gewaltige[n] Unterschied […] zwischen ersten entscheidenden Augenblicken und zwischen dem nachherigen Verlaufe«. Die reformatorischen Bekenntnisse sind nämlich gleichsam das Resultat eines Kairos; bei ihnen handelt es sich um »das Erste […], worin sich auf eine öffentliche und bleibende Weise der protestantische Geist ausgesprochen hat«.[49]

 

|73|b) Andererseits – und dies hängt mit dem zuletzt zitierten Gedanken zusammen – hat sich Schleiermacher bei aller Betonung der Freiheit vom Buchstaben der symbolischen Bücher nachdrücklich gegen den Vorschlag gewendet, die tradierten durch neue (aktualisierte, d.h. von etwaigen Anstößigkeiten gereinigte) Bekenntnisse zu ersetzen. Er hält also an der Voraussetzung fest, »daß unsere Symbole selbst unveränderlich sind, und keine neuen an die Stelle der alten können gesetzt werden«.[50] Wegen des mit dem reformatorischen Kirchenverständnis wesentlich verbundenen Fehlens einer dogmatischen Letztentscheidungsinstanz betrachtet er die Vorstellung »von periodischer Veränderung der Symbole« als »völlig unprotestantisch«.[51] Diese Haltung ist, sieht man sie im Zusammenhang mit Schleiermachers Auffassung zur Bedeutung der Bekenntnisse für die dogmatische Reflexion (vgl. die in Anm. 17 und 18 nachgewiesenen Zitate von Martin Ohst), durchaus konsequent. In der Aufklärungstheologie freilich spielte lange die (in anderem Kontext auch durch von Cölln und Schulz geteilte[52]) Vorstellung eine Rolle, »durch die Autorität der evangelischen Fürsten und aufgrund einer Einigung der bedeutendsten Theologen [könne] ein neues öffentliches Bekenntnis verfaßt« werden.[53] Eine solche Hoffnung auf ein zeitgemäßes protestantisches Bekenntnis, in dem die seit der Reformationszeit neu aufgelaufenen bibelwissenschaftlichen Einsichten berücksichtigt sind und das zugleich die Klärung innerprotestantischer Lehrdifferenzen |74|dokumentieren würde, kann Schleiermacher nicht nachvollziehen. Er würde nur »Verderben davon ahnden«,[54] weil ein solches Bekenntnis den innerkirchlichen Pluralismus und die protestantische Streitkultur beschädigen müsste und insofern »leicht ein Idol werden kann«,[55] als sich die Kirche dadurch jenes »Joch todter Worte und eines todten Glaubens«[56] auflegen würde, vor dem zu warnen nach Schleiermacher gerade die Pointe der Erinnerung an die Übergabe der »Confessio Augustana« ist.

3. Die Überwindung der Spannung zwischen Bekenntnisbindung und Freiheit durch pragmatischen Konservatismus: Das Beispiel Apostolikumstreit

In den herangezogenen Texten Schleiermachers spielte u.a. die – von dem Franklebener Pastor Rudolf Ewald Stier geäußerte – Auffassung eine Rolle, »ein Rationalist, der die Agende angenommen habe, der habe sich nun selbst gefangen gegeben; denn diese sey so ganz antirationalistisch, daß er es unmöglich dabei aushalten könne, sondern entweder müsse er sich aufrichtig bekehren oder er müsse ein Amt niederlegen«.[57] Als plausibles Argument zugunsten der Sinnhaftigkeit einer Bekenntnisverpflichtung und des dadurch bedingten Ausscheidens von theologischen Rationalisten aus dem kirchlichen Dienst kann Schleiermacher diese Überlegung nicht verstehen. Denn es ist ja die Pointe des theologischen Rationalismus, dass der ihm zuzurechnende Geistliche in bestimmten agendarischen Formulierungen »höchstens einen unbequemen Ausdruck« erblickt, »den er selbst nicht gewählt haben würde, aber mit dem er sich doch vertragen kann«.[58] Insofern hat Schleiermacher gerade an der preußischen Agende geschätzt, dass sie »sich großentheils an biblische oder ältere ascetische Ausdrükke [hält]; und wenn auch Elemente vorkommen, die man hierhin nicht rechnen kann, so haben diese eher etwas |75|unbestimmtes und schwebendes«.[59] Die Texte der preußischen Gottesdienstordnung sind also, mit anderen Worten, deutungsoffen genug für eine Nutzung durch kirchliche Amtsträger ganz unterschiedlicher theologischer Überzeugungen. Diese Deutungsoffenheit aber gilt, so fügt Schleiermacher dann hinzu, bereits für die biblischen Texte selbst. Auch hier nämlich denkt sich »der Geistliche, indem er die apostolischen Texte liest, […] den Sinn dabei […], der das Resultat seiner exegetischen Bestrebungen ist«.[60] Als Beispiele für agendarisch verwendete und neutestamentlich fundierte Formulierungen, die den Lesern eine eigenverantwortete Deutungsaktivität abverlangen, werden von Schleiermacher zwei Aussagen aus dem zweiten Artikel das Apostolischen Glaubensbekenntnisses genannt: »empfangen von dem heiligen Geist« und »niedergefahren zur Höllen«.[61] Weil man sich dabei »etwas Bestimmtes gar nicht denken kann«, ist es für den Geistlichen, zu welcher theologischen Richtung er auch immer gehören mag, angemessen, dass »er sich das Gelesene in seine Vorstellungsweise überträgt«.[62] Damit ist deutlich, dass sich die Frage nach der Bekenntnisverpflichtung im Protestantismus immer auch auf die normative Relevanz des Apostolikums für den christlichen Glauben bezieht, wobei es insbesondere Formulierungen aus dem zweiten Artikel sind, die sich notorisch als problematisch erweisen. Und insbesondere im 19. Jh. entzündeten sich die innerprotestantischen Auseinandersetzungen über die Bekenntnisverpflichtung von Geistlichen immer wieder am Apostolischen Glaubensbekenntnis.[63]

Der Zeitgeist des 19. Jh. war zunehmend durch naturwissenschaftlichen Naturalismus und geisteswissenschaftlichen Historismus geprägt. Diese Konstellation führte in Deutschland (insbesondere in |76|der historischen Phase zwischen 1871 und 1918) auf der einen Seite – neben den Entkirchlichungs- und Dechristianisierungstendenzen, die auch durch die aus der Industriellen Revolution resultierenden Neujustierungen der sozialen Ungleichheit befördert wurden[64] – zur Etablierung eines weltanschaulichen Pluralismus. In dessen Horizont entstanden zahlreiche Weltdeutungs- und Sinnentwürfe, deren Anspruch auf Orientierungskraft und Zukunftsfähigkeit sich mit einer dezidierten »Abdankung der traditionellen Leitbilder« verband.[65] Auf der anderen Seite kam es auch innerhalb des protestantischen Wissenschaftsmilieus zu massiven »theologischen Richtungskämpfen«, in denen sich »die ›Krisenherde‹ des Kaiserreichs […] in verkleinerter Form und in entsprechender Spezifik« abbildeten[66] und die sich regelmäßig als ein Ringen zwischen Konservativen und Modernen um kirchliche Lehr- und Bekenntnisfreiheit artikulierten.

In diesem Zusammenhang kann der sog. Apostolikumstreit des Jahres 1892 als ein historischer Kulminationspunkt gelten.[67] Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand bekanntlich Adolf von Harnack, »ein Stern erster Ordnung am Wissenschaftshimmel des deutschen Kaiserreichs und nach dem Tode Albrecht Ritschls (1889) wichtigster Repräsentant der ›Modernen‹«,[68] der 1888 gegen den Willen des preußischen Evangelischen Oberkirchenrats von Marburg nach Berlin berufen worden war.[69] Den Anlass des Apostolikumstreits bildeten die Vorgänge um den württembergischen Pfarrer Christoph |77|Schrempf (Leuzendorf), der dem Dekanat Blaufelden am 5. Juli 1891 mitgeteilt hatte, er vermöge »einige Artikel des Glaubensbekenntnisses nicht als ein Bekenntnis auszusprechen« und habe sich daher »entschlossen, dies auch nicht mehr an heiliger Stätte in heiligen Handlungen zu tun«.[70] Die damit angezeigte Verweigerung der Verwendung des Apostolikums in Taufgottesdiensten, die Schrempf alsbald zu einer grundsätzlichen Weigerung des Taufvollzugs zuspitzte, führte zu einem Amtsenthebungsverfahren. In einem Erlass des Landeskonsistoriums vom 3. Juni 1892 wurde Schrempf schließlich mitgeteilt, dass der württembergische König Wilhelm II. seine Entlassung aus dem kirchlichen Dienst ohne Pensionsbezüge zum 14. Juni 1892 verfügt hatte.[71]

Die Causa Schrempf schlug Wellen bis nach Berlin. Eine Abordnung von Theologiestudenten wandte sich an Harnack mit der Frage, »ob er ihnen raten könne, mit andern preußischen Studenten der Theologie in Anlaß des Falls Schrempf eine Petition an den Evangelischen Oberkirchenrat zu richten um Entfernung des sogenannten Apostolikums aus der Verpflichtungsformel der Geistlichen und aus dem gottesdienstlichen Gebrauch«.[72] In Harnacks Votum, das zu einer »Flut teilweise übler Polemik«[73] in Gestalt von »Schmähschriften, von Spottgedichten und Abkanzelungen« führte,[74] sind drei Aspekte von besonderer Bedeutung.

|78|a) Harnack erklärt die Parole »Das Apostolikum soll abgeschafft werden« für kontraproduktiv. Denn sie würde »zur Waffe in der Hand der Gegner des Christentums werden, würde dem hohen religiösen Werte und dem ehrwürdigen Alter des Apostolikums gegenüber eine Ungerechtigkeit sein, würde ferner eine Vergewaltigung der evangelischen Christen bedeuten, die ihren Glauben […] im Apostolikum ausgedrückt finden, und würde endlich der Art nicht entsprechen, in der sich die Kirchen der Reformation zu den Glaubenszeugnissen der Vergangenheit gestellt haben« (670: Nr. 3).

b) Neben diesem – wenn man so will – konservativen Argument schärft Harnack aber auch ein, dass eine »Anerkennung der Apostolikums in seiner wörtlichen Fassung« keineswegs »eine Probe christlicher und theologischer Reife« ist (670: Nr 6). Vielmehr ist der Anstoß an bestimmten Bekenntnisformulierungen für den gebildeten Christen sogar unvermeidlich. Insbesondere aus der Formulierung ›Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria‹ ergibt sich ein »Notstand […] für jeden aufrichtigen Christen«. Gleichwohl hält es Harnack für »eine haltbare und sittlich zu rechtfertigende Position«, wenn jemand, »der an jenem Stück und an ähnlichem Anstoß nimmt«, dennoch »in der Kirche, sei es auch als Lehrer, bleibt« (671: Nr. 8).

c) Die Warnung vor Abschaffungsparolen (a) und die Einschärfung der Kritisierbarkeit des Symbols (b) werden schließlich flankiert durch die – gleich am Anfang des Textes formulierte – Perspektive auf ein neu formuliertes Bekenntnis, »das das in der Reformation und in der ihr folgenden Zeit gewonnene Verständnis des Evangeliums deutlicher und sicherer ausdrückte und zugleich die Anstöße beseitigte, die jenes Symbol [sc. das Apostolikum] in seinem Wortlaut vielen ernsten und aufrichtigen Christen, Laien und Geistlichen, bietet« (669: Nr. 1).

Der hier an dritter Stelle genannte Aspekt ist von besonderem Interesse. Harnack selbst hat auf die reformatorischen Wurzeln seiner Idee aufmerksam gemacht. In einem Zusatz zu seiner aus Anlass des Apostolikumstreits verfassten und in zahlreichen Auflagen erschienenen Abhandlung »Das apostolische Glaubensbekenntnis«[75] |79|hat er erwähnt, dass Luther in sein »Taufbüchlein«[76] gerade nicht die tradierte Gestalt des Apostolikums übernommen hatte, »sondern eine verkürzte Form desselben, die aus dem frühen Mittelalter stammt« (42). Dabei fehlen bemerkenswerterweise insbesondere im zweiten Artikel nahezu alle Formulierungen, die für den denkenden Christen der Moderne eine Zumutung darstellen könnten.[77] Zugleich stand Harnacks Vorschlag in der Tradition der auf der Preußischen Generalsynode von 1846 – freilich unter ganz anderen Vorzeichen – durch Karl Immanuel Nitzsch vorangetriebenen Bemühungen um die Formulierung eines Ordinationsgelübdes, das faktisch ein Unionsbekenntnis darstellte.[78] Der äußerst umstrittene und polemisch als »Nitzschenum« bezeichnete Vorschlag[79] wurde seinerzeit jedoch von König Friedrich Wilhelm IV. abgelehnt.

Harnack selbst hat bis ins hohe Alter an seiner Idee festgehalten. Dabei richteten sich seine späten Hoffnungen auf die erste Weltkonferenz über Glauben und Kirchenverfassung, die vom 3. bis 21. August 1927 in Lausanne stattfand und an der er aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen konnte. »Sein großes Anliegen trug er der Konferenz schriftlich vor: Die Konferenz möge ein neues, kurzes, |80|schlichtes Bekenntnis formulieren, in dem über die Person Christi das ausgesagt würde, was alle freudig und aus wahrhaft gläubigem Herzen bekennen können.«[80] – Zu einem solchen Bekenntnis ist es bekanntlich weder im Kontext der 1892er Auseinandersetzungen noch zu einem späteren Zeitpunkt gekommen. Insofern sind zwar einerseits »alle Fragen, die der Apostolikum-Streit vom Jahr 1892 aufgeworfen hatte, […] noch heute offen«.[81] Andererseits kann gerade der Verzicht auf die Formulierung eines neuen Bekenntnisses als ein faktisches Anknüpfen an Schleiermachers »gewohnheitsmäßig-lockere Auffassung der Bekenntnisverpflichtung«[82] betrachtet werden – und damit zugleich als Aufnahme seiner Bedenken im Blick auf die Formulierung eines zeitgemäßen protestantischen Symbols.

 

In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, wie sich der Evangelische Oberkirchenrat in den Auseinandersetzungen um das Apostolikum positioniert hat. Diese Positionierung liegt vor in Gestalt eines Zirkularerlasses vom 25. November 1892 »betreffend den Gebrauch und die Wertschätzung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses«.[83] In diesem Votum lassen sich drei für die hier behandelte Thematik relevante Aspekte identifizieren.

a) Eine atmosphärische Bemerkung bezieht sich auf die »sowohl bei vielen evangelischen Geistlichen, als auch in weiten Kreisen des evangelischen Volkes« verbreitete »Beunruhigung«, die »durch die Auslassungen des Professors D. Harnack« hervorgerufen worden sei. Diese Beunruhigung sei, so stellt der Text weiter fest, »in ihrem innersten Grunde darauf zurückzuführen, daß man durch die Äußerungen jener Kundgebung über das Apostolische Glaubensbekenntnis [gemeint ist das Votum Harnacks vom 18. August] den Vollbestand des Christenglaubens, insbesondere auch die zum Grundbestande gehörende Lehre von der Menschwerdung des Sohnes Gottes für gefährdet erachtet« (677).

b) Es schließt sich ein wissenschaftspolitisches Argument an. Harnack habe, so der Zirkularerlass, in seinem Votum den Eindruck erweckt, seine kritische Auffassung zur Formulierung »Empfangen |81|vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria« stelle eine »durch die theologische Forschung allseitig rezipierte Lehrmeinung« dar. Gegen diesen Eindruck wird vom Evangelischen Oberkirchenrat geltend gemacht, »daß nach dem Urtheil zahlreicher hervorragender Vertreter der theologischen Wissenschaft, insbesondere auch hochangesehener Mitglieder der theologischen Fakultät in Berlin, die in jenen Sätzen bekannte Thatsache vor unbefangener wissenschaftlicher Forschung noch immer die Probe der Wahrheit besteht« (677f.). Harnacks Auffassung, mit der zitierten Apostolikumsformulierung sei ein »Notstand […] für jeden aufrichtigen Christen« verbunden,[84] wird damit zu einer Minder- bzw. Nebenmeinung innerhalb der theologischen Wissenschaft herabgestuft.

c) Die Pointe des Zirkularerlasses wird man freilich eher in einer pragmatischen Erwägung finden. Der Oberkirchenrat betont seine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der kirchlichen Ordnung, gerade auch »in Betreff des liturgischen Gebrauches des Apostolikums«. Eine Freigabe der gottesdienstlichen Nutzung des Apostolikums ist damit nachdrücklich abgelehnt. Dabei wird aber zugleich die Auffassung zurückgewiesen, nach der die Zustimmung zum Apostolikum als ein schlichtes Für-wahr-Halten des Wortlauts all seiner Einzelaussagen zu verstehen sei. Der Oberkirchenrat möchte also »bei aller evangelischen Weitherzigkeit und entfernt davon, aus dem Bekenntniß oder aus jedem Einzelstück desselben ein starres Lehrgesetz zu machen, doch etwaige agitatorische Versuche, das Apostolikum aus seiner Stellung zu verdrängen, […] nicht dulden« (678).

Evangelische Weitherzigkeit – an dieser Formel lässt sich am besten zeigen, wie jedenfalls das pragmatische Argument des Zirkularerlasses faktisch zu Schleiermacher zurücklenkt. Denn dieser war ja der Auffassung, dass der innerprotestantische Pluralismus am ehesten dann gewahrt bleibt und kultiviert werden kann, wenn die Bekenntnisse einerseits unverändert belassen werden, andererseits aber ein freier Umgang mit den in den überlieferten Texten enthaltenen Aussagen konzediert und gefördert wird. Schleiermachers Überlegungen aus dem ersten Drittel des 19. Jh. stehen also ebenso für einen pragmatischen Konservatismus wie das Oberkirchenrats-Votum von 1892. Und in beiden Fällen ist damit die Absage an einen ideologischen Konservatismus (im Sinne einer Einschärfung des Wortlauts |82|der antiken und/oder reformatorischen Bekenntnisse als obligatorisches Glaubensgut) verbunden. Hinzu kommen die (freilich nur bei Schleiermacher explizit gemachten) Vorbehalte gegenüber neuen (und vermeintlich unanstößigen) Bekenntnisaussagen, deren Formulierung Harnack vorgeschwebt hat.

Wenn nicht alles täuscht, ist der beschriebene pragmatische Konservatismus in besonderer Weise dazu geeignet, die Differenz zwischen dem christlichen Glauben selbst und seiner in den kirchlichen Bekenntnissen fixierten symbolischen Form festzuhalten. Insofern kann diese usualistische Lösung, ungeachtet dessen, dass sie weit davon entfernt ist, innovativ zu sein, auch gegenwärtig als die angemessenste Form der Bearbeitung des für den Protestantismus konstitutiven ambivalenten Verhältnisses zwischen Bekenntnisbindung und Freiheit gelten.