Dionysische Nächte

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Extremis Malis Extrema Remedia

Bei aller Konzentration: Eine Ratte in der Kaffeeküche konnte sogar Larissa nicht übersehen.

„Was soll das?“, fragte sie.

Tom deutete in Richtung des nächstgelegenen Eckbüros. Stephan übernahm die Erklärung: „Mag. Lunk hat seit Kurzem eine Schlange im Büro. Ein Geschenk von einem Arbeitskräfteüberlasser.“ Stephan ergänzte: „Ganz geheuer ist ihm die Schlange nicht. Es ist eine seltene mexikanische Klapperschlange, die ist zwar giftig, aber nicht tödlich.“ Larissa griff sich an die Stirn: „Ja, sind denn alle verrückt geworden?“ Stephan schien persönlich beleidigt: „Also, mir macht das Füttern Spaß. Weißt du, die Schlange an sich ist nicht nur selten. Das Besondere an ihr ist, dass …“ Doch Larissa unterbrach ihn: „Ein Partneranwalt quartiert Raubtiere ein. Ein Mandant will, dass ich ein Theaterstück schreibe.“ Tom schnaubte überrascht. Stephan prustete: „Was?“ Larissa zeigte den beiden ihr Smartphone, weil sie es selbst noch nicht glauben konnte. Vielleicht spielte ihr Verstand ihr einen Streich. Bei der E-Mail handelte sich nicht um den gewohnten weit verzweigten unternehmensinternen Nachrichtenverlauf, über dem das übliche „Bitte zeitnah erledigen“ des Partneranwalts thronte. Die Nachricht bestand nur aus einem Satz: „Bringen Sie das Beraterproblem bis morgen auf die Bühne. Machen Sie einen kurzen Prozess daraus.“

Stephan starrte kurz in die Luft und sagte dann: „Vielleicht liegt es an der Autokorrektur? Es könnte ja sein, dass du das Beraterproblem ÜBER die Bühne bringen sollst. Und das in einem KURZEN Prozess.“ Stephan kratzte sich am Hinterkopf: „Du kannst auch einfach beim Mandanten rückfragen.“

Larissa wunderte sich, dass Stephan in seiner Zeit hier nicht die erste und wichtigste Regel gelernt hatte. Sie versuchte, ihm gelassen zu antworten, doch sie merkte selbst, dass ihr Ton schärfer war, als beabsichtigt: „Einer allein kann diese Sache niemals zu Ende bringen. Schon gar nicht bis morgen und vor allem nicht durch einen Prozess.“ Stephan hob den Zeigefinger: „Weißt du, was das Beraterproblem ist?“ Larissa hätte ihm am liebsten den Finger gebrochen. Tom kam ihr zur Hilfe: „Wer fragt, verliert. Akten sind selbsterklärend.“ Sie versuchte sich zu fassen, was ihr erneut misslang, und sie nur noch ungehaltener werden ließ: „Das Beraterproblem ist das einzig Klare an dem Auftrag. Politiker haben während ihrer Amtszeit ihren Einfluss ausgenutzt, um die Abbaugesellschaft auszunehmen. Danach sind sie nahtlos in den Consultingbereich gewechselt, um nun die Gläubiger des Unternehmens zu beraten, wo es noch etwas zu holen gibt.“ Stephan schien zu begreifen: „Klingt kompliziert. Das bringst du nicht einmal AUF eine Bühne.“ Tom merkte an: „Sie kriegen den Hals nicht voll.“

Tom sah, wie Larissas Blick stählern wurde – wie bei einer Läuferin, die durch die Hürden vor ihr auf das Ziel dahinter sah: „Eine Management Summary in dramatischer Form. Das will der Mandant.“ Sie schnippte und zeigte auf Stephan: „Recherchier mir bitte die gesamte Theatergeschichte Mitteleuropas. Du hast eine Stunde Zeit.“ Stephan antwortete: „Ich erledige es in einer halben.“ Dann verschwand er in Richtung Bibliothek.

Larissa wollte ebenso davoneilen, doch Tom konnte sich die Tragödie, die sich vor ihm entspann, nicht ansehen. Er packte sie an der Schulter und sagte: „Du brauchst ein Auge fürs Wesentliche.“ Er schlug mit der Handkante in seine andere Handfläche: „Du willst etwas erzählen – Anfang, Mitte, Schluss – Fakten, Details – Verdichte! – Plot! Los!“ Tom hoffte, dass Larissa nicht wusste, woher der Spruch stammte – aus einem Film mit vielen Explosionen und Kampfrobotern.

Larissa war begeistert von Toms glasklarer Anweisung. Tom erschien ihr als genau der richtige Sparring-Partner für diesen außergewöhnlichen Auftrag. Daher folgte sie auch seinem Vorschlag: „Lass uns nach draußen gehen, um den Kopf frei zu kriegen.“ Eigentlich verließ Larissa die Kanzlei ungern – nicht einmal in der Mittagszeit. Die Arbeit erledigte sich nicht von alleine. Selbst Phasen von Müdigkeit oder Erschöpfung übertauchte sie in ihrem Bürostuhl, wartend auf neue Energie. Aber ein Spaziergang war wohl in diesem Fall genau das Richtige, denn, wie hieß es so schön: „Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen.“

Mission Impossible – Part Deux

Die Ruhe der Nacht kehrte in der Kanzlei ein. Dies waren Jonathans Bonus-Stunden, um all die Punkte zu bearbeiten, die unten auf seiner Prioritätenliste standen. Wie die Gesetze der Kanzlei so wollten, konnte er dafür meist auch keine Leistungen verzeichnen. Anders gesagt: Er erledigte jene Aufgaben, die nicht verrechenbar waren, in den Überstunden, die er nicht einzeln entlohnt bekam. Das System funktionierte. Heute etwa überarbeitete Jonathan den Entwurf eines Fachartikels, der unter dem Namen seines Ausbildungsanwalts Mag. Lunk erscheinen würde.

Dion erfasste alles, was in der Kanzlei vor sich ging. Selbst war er jedoch kaum fassbar. Dion beobachtete Jonathan und zoomte sich Details herbei – seinen Ehering, sein Hemd und den Aktenordner mit dem Recherchematerial für den Artikel. Dabei blieb Dion hin- und hergerissen, ob er Jonathan respektierte oder bemitleidete. Dion musste herausfinden, woraus der Mann gemacht war. Er bereitete eine weitere Szenenanweisung vor.

Jonathan nahm seinen Ehering ab und legte ihn neben die Fotocollage seines Sohns, der vor einem Monat geboren worden war. Die Bilder im naturfarbenen Holzrahmen hielten die Illusion aufrecht, dass Jonathan seinen Nachwuchs regelmäßig zu Gesicht bekam. Jonathan krempelte seine Ärmel hoch. Das Hemd war neu. Es stammte von dem Modekonzern, für den er im letzten Monat die Dienstverträge geschrieben hatte.

Sein Blick wanderte auf den Aktenordner mit dem Recherchematerial von 500 Seiten für einen Artikel, der höchstens drei Magazinseiten lang werden durfte. In seinem Kopf begann es zu rattern, er holte das Schema hervor: Die Texte begannen mit der Wendung „Grundsätzlich ist es so, dass …“, gefolgt von einer Wiedergabe des Gesetzestextes. Daran schloss „Ausnahmen hiervon sind …“, welches in „Die Rechtsprechung lautet dazu …“ und „Die Lehre vertritt demgegenüber …“ mündete. Es war wie ein Haus zu bauen, zuerst die Steine des Fundaments zu legen und irgendwann das Dach darauf zu setzen. Bloß nicht umgekehrt.

Bevor er mit dem Artikel weitermachte, wollte er auch noch eine freiwillige Feedback-Mail wegen seiner gestrigen Heimfahrt schreiben. Ein Online-Vermittlungsdienst für Fahrdienstleistungen hatte letzten Sommer eine kurze Anfrage an die Kanzlei geschickt, die er beantwortete hatte. Sie hatten sich seitdem nicht mehr gemeldet. Dennoch nahm Jonathan nur noch deren Dienst für Heimfahrten aus der Kanzlei in Anspruch. Brav schickte er auch immer Feedback-Mails über die Mietfahrer. Er wusste, zwischen ihm und dem Vermittlungsdienst konnte nach diesem „One-Night-Stand“ eine Beziehung fürs Leben entstehen.

Der Ton einer eingehenden E-Mail erklang: Jonathan erwartete um diese Zeit nur automatisch versandte Newsletter, doch hielt er beim Hemdaufkrempeln inne, da als Absender Mag. Lunk aufschien. Der Betreff lautete: „Ihr Entwurf“. Und der Text dazu: „Ich bitte Sie, Ihren Artikel bis morgen 09:00 radikal umzuarbeiten. Das Thema ‚Die Entlassung unter dem Aspekt der unverzüglichen Geltendmachung personenbezogener Auflösungsgründe‘ kann wahrlich anders aufbereitet werden als in der aktuellen Form. Nämlich nervenaufreibender.“ Jonathan wunderte sich, dass Mag. Lunk das Wort ‚nervenaufreibend‘ verwendet hatte, doch die E-Mail war noch nicht zu Ende. „Lassen Sie es knallen! Begeistern Sie nicht nur mich, begeistern Sie die Welt. Präsentieren Sie das pralle Leben – in einem juristischen Fachartikel.“ Jonathan las einen Satz, wanderte mit den Augen zurück und las den gleichen Satz wieder. „Lieber Kollege, seien Sie das Feuer in der Nacht.“ Und es ging noch weiter: „PS: Wenn Sie Inspiration brauchen, genehmigen Sie sich die eine oder andere Flasche Wein aus meinem Medizinschrank.“

Jonathan stutzte, Unwohlsein überkam ihn. Schon länger bemerkte er einen anwachsenden inneren Widerstand in sich. Die Aufgaben kamen ihm wie Ohrfeigen vor. Sie wurden zwar nicht heftiger, jedoch fühlten sich so an, weil sie ohne Pause auf die gleiche Wange ausgeteilt wurden. Aber wenigstens waren diese Ohrfeigen berechenbar und er konnte sie sich schönreden. Das nun war dagegen ein unerwarteter Faustschlag in die Magengrube.

Stephan klopfte an Jonathans Glastür und schob sie zur Seite: „Hast du zufällig Larissa gesehen?“ Jonathan erhob sich und sah, dass Stephan einen Stapel Ausdrucke theaterwissenschaftlicher Artikel dabei hatte. Er schlug sie Stephan aus der Hand und sagte: „Du bist nicht hier zu deinem Privatvergnügen. Es gibt echte Arbeit.“

Ein Spaziergang durch den künstlichen Wald

Der Schein ihres Smartphones erhellte Larissas Augen. „Wusstest du, dass manche Theatermacher Filmprojektionen auf der Bühne einsetzen?“, sagte Larissa, während sie den Spazierweg neben Tom entlangging. Dabei stolperte sie beinahe über einen Ast. Der Weg war schmal, es gab keine Laternen, die Lichter der Stadt beleuchteten den künstlichen Wald. Über ihnen thronten die beiden Türme und die Dächer der Wohnbauten.

Tom sagte: „Du musst lange in dich gehen, um nach außen scheinen zu können.“ Larissa blieb stehen: „Also deshalb redest du nicht viel. Weil dann so etwas rauskommt.“ Dafür sprach er in Verhandlungen immer die richtigen drei Worte aus, dachte Larissa, hätte es aber nie ihm gegenüber zugegeben. Tom reagierte nicht auf die Bemerkung: „Wann warst du das letzte Mal auf einer Reise?“

 

„Ich war auf einer Fachtagung in London diesen Sommer.“

Tom seufzte und ging weiter. Larissa widmete sich wieder ihrem Smartphone. Sie murmelte: „Wenn du schon so naturverbunden bist, weißt du, ob es hier Pilze gibt, die wir einwerfen könnten? Vielleicht fällt uns dann was ein.“ Tom lachte trocken: „Wenn Juristen Pilze nehmen, kommt nur Böses dabei raus.“ Larissa seufzte: „Ich komme mir so vor, als müsste ich etwas erschaffen. Die Fakten sind alle in meinem Kopf – aktenweise davon. Aber all das zusammenfassen. Verdammt noch mal, das ist neu. Das ist irgendwie … unseriös.“

Durch das Gestrüpp war die Driving Range des Golfplatzes zu sehen, die noch beleuchtet war. Tom hielt inne und beobachtete die weißhaarigen Golfer am Abschlag: „Eher sterbe ich auf meinem Surfbrett.“

Larissa musterte ihn – es gab unter den Männern ihrer Kanzlei drei Typen: Diejenigen, die zunahmen, diejenigen, die dünn oder dick blieben, wie sie immer schon waren, aber krumm wurden, und diejenigen, die sich im Fitness-Center abmühten. Tom zählte zur dritten Art. Tom ertappte sie bei ihrem Blick, mit welchem sie seine physische Verfassung abschätzte. Sie tat so, als wäre sie in Arbeitsgedanken verloren: „Vielleicht sollte ich einfach eine umfangreiche Powerpoint-Präsentation gestalten.“ Doch rutschte ihr sogleich die Frage heraus: „Wohin gehst du trainieren? Bei unseren Arbeitszeiten?“

„Ich habe über einen Bekannten einen Schlüssel für die Tennishalle am anderen Ende des Erholungsgebiets bekommen. Dort gibt es einen Fitnessraum. Ich kann ihn benutzen, wann ich will.“ Tom zog aus seiner Gesäßtasche den Schlüssel hervor, außerdem ein kleines Büchlein. Es war ein Handkodex. Er reichte ihr beides. „Das sind die Werkzeuge, um dein Problem zu lösen.“

„Sozialrecht?“, lachte sie.

„Hast du einmal ein Gesetzbuch gelesen?“

„Natürlich.“

„Nein, ich meine, nicht einzelne Paragraphen nachgeschlagen. Wirklich gelesen. So wie einen Roman. Von vorne bis hinten.“

„Nein.“

Er setzte sich auf die nächste Parkbank und bedeutete Larissa es ihm gleich zu tun.

„Dann lies.“

„Wozu? Das hat nichts mit dem Thema zu tun.“

Tom verzog keine Miene: „Es gibt keine härtere Droge, als den Regelungen des Sozialversicherungsrechts für längere Zeit ausgesetzt zu sein.“

Larissa sah ihn skeptisch an, dann fiel ihr Blick auf die Uhr und sie sah, wie spät es geworden war. Sofort begann sie bei § 1. Tom legte die Hände in den Nacken und versuchte die Sterne hinter all dem Stadtlicht ausfindig zu machen. Die Zeit verging, bis Larissa entnervt ausrief: „Meine Augen tun weh, aber das war es auch schon.“ Tom blieb sachlich: „Das wundert mich nicht. Das ist ganz normales Sozialversicherungsrecht. Na, ja … nicht ganz.“ Er nahm ihr das Büchlein aus der Hand und blätterte nach hinten, wo die Seiten aus dickerem Papier waren, aus dem sich kleine Quadrate herauslösen ließen. Tom sagte nur: „Alice D.“ Larissa schlug ihm kameradschaftlich gegen die Schulter: „Und das bringt Ideen und Inspiration?“ Er sprang auf und reichte ihr die Hand: „Mir immer. Die Tennishalle ist um die Zeit schon leer. Am besten unternehmen wir heute noch eine kleine Reise.“ Larissa ließ sich von ihm hochhelfen.

Das Duell

Die Weinflasche stand vor Jonathan und Stephan geöffnet auf dem ovalen Tisch des Konferenzraums. „Es war eine Weisung.“, sagte Jonathan zweifelnd. Stephan lachte: „Eine dienstliche.“ Er trug vor: „Der Arbeitgeber darf mittels Weisungen die Pflichten des Arbeitnehmers konkret ausgestalten, die dieser mit Abschluss des Arbeitsvertrages übernommen hat. Nur so kann der Inhalt des Arbeitsvertrages an die Erfordernisse des Arbeitsplatzes angepasst und der Arbeitnehmer in die Organisation des Unternehmens eingegliedert werden.“

Jonathan war überzeugt. „Hol zwei Gläser.“, sagte er. Als Stephan zurückkam, hatte Jonathan das Flipchart vorbereitet: „Es gibt keine Veränderung in der Welt ohne Mindmaps und Cluster.“ So tranken die beiden und assoziierten. Irgendwann fragte Jonathan mit schwerer Zunge: „ Was haben wir?“ Stephan zeigte auf die teilweise unlesbaren Kritzeleien auf dem Flipchart: „Ein Bonmot zur Kündigung und drei Wortspiele zur Entlassung.“ Dann blickte er auf den Laptop vor sich: „Außerdem folgenden Witz.“ Er räusperte sich: „Wie lässt sich die Geschichte der Arbeit in einem Dialog zusammenfassen?“ Er machte eine Pause, obwohl Jonathan die Pointe kannte. „Sagt der Arbeitgeber zum Arbeitnehmer: Stellen SIE sich nicht so an. Darauf der Arbeitnehmer: Stellen Sie MICH nicht so an.“

Jonathan lehnte sich zurück. Er wusste selbst, dass es fesselndere Themen gab als jenes für den Artikel. Aber ihm blieb nichts weiter übrig, als kreativ zu sein. Die Desorganisation des Anwalts ist der Stress des Konzipienten.

Jonathan starrte auf sein leeres Weinglas: „Mir fällt nichts ein.“

Stephan schenkte ihm nach. „Vielleicht holen wir uns Dion aus der IT noch als Ideengeber. Du weißt ja, wie der auf Firmenfeiern immer abgeht, wenn er zu viel getrunken hat.“ Jonathan brummte: „Nur, weil er mit nacktem Oberkörper in Trance auf der Bar tanzen kann, ist er noch kein Ausbund an Schöpfertum. Gut, der lange Bart und der Lockenkopf deuten auf einen Künstler hin … oder einen Terroristen. Die Personalabteilung sollte einen zweiten Background Check machen.“ Jonathan hatte seinen gedanklichen Filter weggetrunken, bestimmte Dinge nicht auszusprechen. Stephan redete darüber hinweg und lehnte sich im Sessel nach vorne: „Er ist sogar ein Poetry-Slammer. Sehr kreativ ist er nicht, er tritt unter seinem Kanzleikürzel bei Poetry Slams auf.“ Jonathan lachte: „Was? Dion.Sys? Das kann doch keiner aussprechen. Und was ist überhaupt ein Poetry Slam?“

„Ein Schriftsatzwechsel. Nur kürzer.“ Jonathan schien nicht zu verstehen. Stephan erklärte: „Wenn du sagst: ‚Mir fällt nichts ein.‘, ginge das blumiger. Zum Beispiel: Mein Kopf ist so leer wie die Regale eines Blumengeschäfts während eines einmonatigen Betriebsurlaubs.“ Stephan ließ sein Wortbild wirken. „Und nun musst du darauf replizieren. Also, ich meine, was fällt dir so ein? Irgendwas?“ Jonathan griff zu seinem Glas und nahm einen kräftigen Schluck, so als hätte ihm Stephan einen Fehdehandschuh hingeworfen. Er antwortete: „Ich habe für Mag. Lunk eine Klage vorbereitet, in der die Gültigkeit einer schwindligen Betriebsvereinbarung bestritten wird. Die Betriebsvereinbarung regelt die Inanspruchnahme von Zigarettenpausen. Ich habe den Satz reingeschummelt: Die Rechtsnatur der Vereinbarung ist vom Rauch vernebelt.“ Jonathan setzte nach: „Weil ich es poetisch fand.“

Stephan funkelte ihn böse an – das fand er unglaublich gut – und attackierte Jonathan mit: „Unter meiner Krawatte bleibt der oberste Hemdknopf immer geöffnet.“ Er beugte sich vor, um flüsternd zu ergänzen und so Punkte für eine gute Performance zu bekommen: „Das ist meine Revolution des Alltags.“ Jonathan schien schwer getroffen, doch er spielte seinen Trumpf des Betrunkenen aus: „Ich bin ein harter Verhandler. Immer wenn es um Geld geht, RAUFHANDEL ich die Summe.“ Stephan wollte sich nicht geschlagen gegeben. So begann er über den Wein zu dozieren, um mit seinem vinologischen Wissen zu prahlen. Er leitete seine Lektion ein mit den Worten: „Du weißt es vielleicht nicht, aber ich bin ein Weinsinniger ...“

Jonathan klinkte sich irgendwann während der Fachsimpelei aus. Er tat sich schwer, ob der feinen Wortklinge und Stephans lexikalischem Wissen über Wein nicht neidisch zu werden. „Der Praktikant? Ein Mann der Renaissance?“, dachte er und fragte laut: „Woher weißt du das alles?“

„Ich war auf der Tourismusschule. Ich habe mich aber dagegen gewehrt, Koch oder Hotelier zu werden. So habe ich mich für die Juristerei entschieden.“

„Warum?“

„Wegen der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen im Gastgewerbe und im Tourismus.“

„Und jetzt willst du in die Großkanzlei?“

„Ja.“

„In DIESE Großkanzlei?“ Jonathan fiel grölend von seinem Drehstuhl. Stephan rückte sein Stecktuch zurecht und sagte ungerührt: „Außerdem wollte ich keine Küchen-Uniformen tragen.“ Jonathan blieb lachend liegen und prustete: „Bitte, schreib das auf.“

Der Zoo

In den Wasserrohren über Larissas Kopf rumorte es. Jeder ihrer Schritte hallte durch den Raum. Die Geräusche blieben an der Dunkelheit hängen, die zäh und klebrig war wie Teer, wurden von dieser umschlossen und erstarben. Larissa wagte keinen Schritt mehr. Sie wusste nicht, wo sich Tom befand. Sie wusste nur, dass sie eine Treppe hinabgestiegen war, um etwas zu suchen.

Licht breitete sich im Raum aus, so als ginge der Glühfaden einer Lampe in Zeitlupe an. Was sich vor Larissa befand, gewann nur langsam an Kontur und schließlich an Formen und Farben. Vier Linien erstreckten sich vor ihr auf einen schwach glühenden Fluchtpunkt zu. Es war ein Gang ohne Fenster und Türen. Ein Fadengitter legte sich über Boden, Wände und Decke. Graubraune Farbe breitete sich darüber aus, so als liefe sie grifaus den Poren der Mauern, die so vor ihr entstanden. Teilweise blieben die Gitter an den Wänden zurück. Sie verdichteten sich zu Eisenstäben. Larissa befand sich in einem langen Kellergang, der an einer beleuchteten Tür endete. Vergitterte Abstellräume säumten den Gang.

Doch das Licht wurde noch stärker, mehr als das einer einfachen Glühbirne, bis es so stark war, dass es die Decke wegbrannte und ein blauer Himmel sich über Larissa aufspannte. In den Abstellräumen schmolz das Gerümpel weg. Pflanzen des Dschungels schossen aus dem Boden. Kaum waren sie gewachsen, raschelte es in den Zweigen und zwischen den Blättern. Larissa tat einen Schritt nach vorne und Papageien flogen hinter dem ersten Gitter auf und davon. Die Stäbe hinderten Larissa daran an die Tiere zu kommen, auf der anderen Seite lag jedoch Urwald, soweit das Auge reichte. Larissa schlenderte durch den umgekehrten Zoo, sie selbst befand sich im Gehege für Besucher. Sie beobachtete Weißbüscheläffchen, die in den Baumkronen herumturnten. Im Gebüsch erkannte sie die Musterung eines vorbeischleichenden Jaguars. Ein paar Schritte weiter sah sie Krokodile faul an einem Flussufer liegen. An den Wänden waren Schilder angebracht, die jedes der Tiere kurz vorstellten – sie stammten alle aus Mittel- und Südamerika.

Larissa näherte sich der letzten Tür, die sie für den Ausgang hielt, weil diese nicht von einem Gitter versperrt war. Als sie näherkam, bemerkte sie, dass aus der Tür Nebel waberte, in dem tief drinnen ein Licht grün-schwarz pulsierte. Es gab auch ein Schild, auf dem jedoch nur eines stand, nämlich „Die Abbaugesellschaft“.

Die grüne Lichtquelle schwebte im Nebel davon. Larissa erinnerte sich, wonach sie suchte und warum sie hier war. Sie folgte dem flüchtenden grünen Schein. Doch jemand lief gegen sie und rempelte sie um. Über ihr blieb eine unkenntliche Person stehen. An ihrer Brust glühte auf einer Plakette das Wort „Wärter“. Ein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Nur eine Hand, die ihr gereicht wurde. Larissa griff ins Leere. Die Gestalt huschte davon, so als bestünde sie selbst aus Nebel.

Also stand Larissa von selbst auf. Der Nebel lichtete sich, sie fand sich am anderen Ende des Kellers beim ersten Gitter wieder. Die Tür in der Ferne war immer noch beleuchtet. Sie blinkte wie eine Ampel, die auf Grün geschalten war. Larissa blinzelte und mit einem Mal stand eine Silhouette in der Tür: einen Mann in einem „Cutaway“-Anzug, er trug Gamaschen mit Steg an seinen Füßen, einen Gehrock, dessen Ecken abgeschnitten waren, und einen Zylinder auf dem Kopf. Der Mann griff nach der Tür, um sie zu schließen. Die Stimme eines Unsichtbaren flüsterte Larissa ins Ohr: „Das ist dein einziger Ausweg.“ Sie wollte loslaufen. Bereits mit einem Schritt, so als hätte sie Superkräfte, stand sie an der Tür und fasste die Türschnalle. Sie presste sich gegen die Tür. Diese gab nicht nur nach, sie verschwand komplett. Larissa stolperte fast über jemanden, der am Boden kauerte. Es war Tom. Sie blickte sich suchend um und sah den „Cutaway“-Mann in der Ferne. Sie gab Tom die Hand: „Komm! Wir müssen weiter.“

 
Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?