Einführung in die Publizistikwissenschaft

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Unsere Aufmerksamkeit richtet sich insbesondere auf die strukturellen Eigenheiten und Probleme der Medienentwicklung sowie der öffentlichen Kommunikation im Vergleich verschiedener kultureller Kontexte (Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen europäischen Ländern oder Europa und den USA) und unterschiedlicher Mediensysteme (öffentliche vs. privatwirtschaftliche Institutionalisierung). Die Beispiele in den einzelnen Beiträgen beziehen sich deshalb soweit möglich auf internationale Vergleiche, zumindest aber auf Vergleiche zwischen den deutschsprachigen Ländern. Gelegentlich wird allerdings bewusst nur auf Beispiele aus der Schweiz zurückgegriffen.

Übungsfragen:

Was versteht man unter Transdisziplinarität?

Was versteht man unter Material- und Formalobjekt einer Wissenschaft?

Worin unterscheiden sich Publizistik-/Kommunikationswissenschaft und Medienwissenschaft in ihrem Fachverständnis?

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Basisliteratur

Bentele, Günter (1999): Gegenstands- und Problembereiche, Systematiken, Theorien und Methoden unseres Fachs. In: Aviso, H. 24, S. 4–8.

Bentele, Günter/Brosius, Hans-Bernd/Jarren, Otfried (Hg.) (2003): Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden.

Literatur

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Bentele, Günter/Rühl, Manfred (Hg.) (1993): Theorien öffentlicher Kommunikation. Teil III: Konstruktivismus und Realismus in der Kommunikationswissenschaft. München, S. 103–171.

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Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. Wien, Köln, Weimar.

Faulstich, Werner (1994): Einführung: Zur Entwicklung der Medienwissenschaft. In: Faulstich, Werner (Hg.): Grundwissen Medien. München, S. 9–15.

Faulstich, Werner (2002): Einführung in die Medienwissenschaft. Probleme — Methoden — Domänen. München.

Glotz, Peter (1990): Von der Zeitungs- über die Publizistik- zur Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik Jg. 35, H. 3, S. 249–256.

Hickethier, Knut (2003): Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart, Weimar.

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Kloock, Daniela/Spahr, Angela (1997): Medientheorien. Eine Einführung. München.

Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid (2001): Publizistik: ein Studienbuch. Köln.

Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen.

McLuhan, Marshall (1992 [1968]): Die magischen Kanäle. Düsseldorf, Wien.

McQuail, Denis (2010): McQuail’s Mass Communication Theory. London, Thousand Oaks, New Delhi, Singapore.

Postman, Neil (1985): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt a. Main.

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Pürer, Heinz (2003): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: ein Handbuch. Konstanz.

Rühl, Manfred (1985): Kommunikationswissenschaft zwischen Wunsch und Machbarkeit. In: Publizistik, Jg. 30, H. 2, S. 229–246.

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Saxer, Ulrich (2000): Mythos Postmoderne: Kommunikationswissenschaftliche Bedenken. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 48, H.1, S. 85–92.

Schade, Edzard (2005): Was leistet die Publizistikwissenschaft für die Gesellschaft? Eine Rückschau auf wichtige Forschungsvorhaben zur Ausgestaltung der Medienlandschaft Schweiz. In: Schade, Edzard (Hg): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachentwicklung. Konstanz, S. 13–45.

Schmidt, Siegfried/Zurstiege, Guido (2000): Orientierung Kommunikationswissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek b. Hamburg.

Themenheft „Ferment in the Field“ (1983). In: Journal of Communication, Jg. 33, H. 3.

Weber, Stefan (Hg.) (2003): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. Konstanz.

Weischenberg, Siegfried (1995): Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation. Bd. 2: Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure. Opladen.

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Frank Esser

KOMPARATIVE PUBLIZISTIK- UND KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT

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1 Entwicklung des Vergleichs

Verspätete fachgeschichtliche Entwicklung

Der international vergleichende Ansatz ist in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft lange vernachlässigt worden, während er sich in den Nachbardisziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie deutlich früher etablierte. In der Politikwissenschaft heisst die entsprechende Unterdisziplin Comparative Politics. Dazu gibt es ein Vielzahl von Lehrbüchern und spezialisierte Fachzeitschriften. Davon ist die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft noch weit entfernt. Die Gründe für dieses Defizit liegen zum einen darin, dass die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft eine junge Disziplin ist. Zum anderen überwog bei vielen Forschern lange die Einstellung, dass Journalisten, Medienorganisationen, Nachrichteninhalte und Publikumspräferenzen so eng an nationale, kulturelle und sprachliche Wurzeln geknüpft seien, dass man sie am besten historisch oder gegenstandsorientiert erklärt.

Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich eine stärker international vergleichende Orientierung im Fach ab. Nach den Universitäten Erfurt und Bochum war Zürich 2006 die dritte Universität im deutschsprachigen Raum, die einen Lehrstuhl für vergleichende Medienforschung besetzte. Erkenntnisfortschritt und Forscherenthusiasmus nehmen rasch zu; Zweifel über die Vorteile und das Erkenntnispotenzial des komparativen Ansatzes sind ausgeräumt. Die Gründerväter Michael Gurevitch und Jay Blumler, die die Entwicklung seit den Anfängen mit prägten, sehen Anzeichen für die Herausbildung eines „eigenständigen, reifen Forschungsfeldes“ (Gurevitch/Blumler 2003: 371). Es könne

Komparative Kommunikationsforschung nun im Reifungsprozess

keine Rede mehr von einer Vernachlässigung der vergleichenden Kommunikationsforschung sein. „Sie ist fast schon in Mode gekommen“ (ebd.: 373).

2 Definition des Vergleichs

Komparative Kommunikationswissenschaft vergleicht keineswegs immer nur Länder

Die komparative Analyse arbeitet grundsätzlich mit mindestens zwei Vergleichseinheiten. Dabei werden auf Makroebene Systeme oder Kulturen bzw. Teilsysteme oder Teilkulturen verglichen. Es ist zu betonen, dass Systeme oder Kulturen keineswegs zwangsläufig deckungsgleich mit Nationen sind. Auch innerhalb von Nationalstaaten können

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Medienkulturen unterschieden werden, wie etwa die sprachlich segmentierten Medienmärkte in der Schweiz (vgl. hierzu Blum 2003; Hungerbühler 2005) oder in Belgien oder Kanada. Andererseits wird auch oberhalb von Nationalstaaten die Herausbildung transnationaler Medienkulturen untersucht, z. B. wenn die Europäisierung nationaler Medienöffentlichkeiten (Pfetsch/Adam/Eschner 2008; Brüggemann/ Hepp/Kleinen von Königslöw/Wessler 2009) oder gar Unterschiede zwischen einem europäischen und einem angloamerikanischen Journalismus diskutiert werden (Donsbach/Klett 1993; Mancini 2005).

Weil die nationalstaatliche Ebene keineswegs die einzige Bezugsgrösse darstellt, hat sich neben der Bezeichnung „international vergleichend“ der neutrale Terminus „komparativ“ durchgesetzt. Die vergleichende Kommunikationsforschung ist zwar grundsätzlich grenzüberschreitend, die Art der Grenzziehung kann jedoch variieren. Wie die Vergleichsfälle konzeptionalisiert und voneinander abgegrenzt

Definition

werden, hängt also von Festlegungen des Forschers ab. Als Definition lässt sich formulieren: Komparative Kommunikationsforschung liegt immer dann vor, wenn zwischen mindestens zwei Systemen oder Kulturen (oder deren Teilelementen) Vergleiche auf mindestens einen kommunikationswissenschaftlich relevanten Untersuchungsgegenstand gezogen werden. Vergleichende Kommunikationsforschung unterscheidet sich von nicht vergleichender Kommunikationsforschung in drei Punkten: Es handelt sich um eine besondere Strategie zum Erkenntnisgewinn, die (a) grundsätzlich grenzüberschreitend vorgeht, sich (b) um eine system- und kulturübergreifende Reichweite ihrer Schlussfolgerungen bemüht und die (c) Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Untersuchungsobjekten mit den Kontextbedingungen der sie umgebenden Systeme bzw. Kulturen erklärt (vgl. Esser 2003; Pfetsch/Esser 2003).

Motive vergleichender Forschung

Vergleichende Kommunikationsforschung strebt an, das Chaos internationaler Beobachtungen mittels Typologien zu ordnen, die Reichweite und Generalisierbarkeit von Erkenntnissen zu prüfen, Auswirkungen von Kontexteinflüssen auf Untersuchungseinheiten zu erklären, die Kontextabhängigkeit von Befunden herauszustreichen sowie zu einem besseren Verständnis unserer kommunikationswissenschaftlichen Konzepte und Gegenstände zu kommen. Zusätzlich zum räumlichen Vergleich betont die Komparatistik auch den zeitlichen Vergleich: So sollten Mediensysteme zu mehreren Zeitpunkten verglichen |22◄ ►23| werden, wenn beispielsweise die Frage nach Angleichungsprozessen im Mittelpunkt des Interesses steht.

 

3 Logik des Vergleichs

Diesen Festlegungen liegt die Annahme zugrunde, dass unterschiedliche mediale und politische Kontextbedingungen (z. B. des Medien-und

Komparatistik untersucht die Einflüsse unterschiedlicher Kontexte auf den Untersuchungsgegenstand

Politiksystems der Schweiz) in einer charakteristischen Wechselbeziehung mit den Arbeitsweisen und Inhaltsgestaltungen von Medienorganisationen (z. B. der Neuen Zürcher Zeitung) sowie den in diesen Medienorganisationen arbeitenden Journalisten stehen. Die publizistischen Arbeitsweisen werden sich in systematischer Weise von Journalisten und Zeitungen unterscheiden, die in andere mediale und politische Kontextbedingungen eingebettet sind. Daher werden komparative Untersuchungen häufig so angelegt, dass gezielt solche Länder ausgewählt werden, die sich hinsichtlich der Kontextbedingungen für das interessierende Phänomen unterscheiden. Auf diese Weise können allgemeine Aussagen über das Phänomen geprüft werden (Was gilt immer, unabhängig von den Kontexteinflüssen?) und spezifische Aussagen (Wie verhält sich der Untersuchungsgegenstand unter dem Einfluss unterschiedlicher Kontextbedingungen?) gemacht werden.

Dieses Beispiel soll deutlich machen, dass die vergleichende Forschung nicht aus blossem Vergleichen, sondern aus dem Suchen nach Erklärungen besteht (Przeworski 1987). Nun können Erklärungen auf

Komparative Erklärung: Zwei Ansätze

zwei verschiedene Arten gesucht werden: mittels „intensiver, fallorientierter Analysen“ für wenige Länder oder mittels „extensiver, variablenorientierter Analysen“ für viele Länder (Ragin 1987). Intensive, fallorientierte Analysen wenden eher verstehende, qualitative Verfahren an; extensive, variablenorientierte Analysen eher kausallogische, quantitative Verfahren. Beim intensiven, fallorientierten Ansatz werden die

Fallorientierter Ansatz

Vergleichsfälle mittels dichter Beschreibung in ihren historischen Kontext eingeordnet, ganzheitlich rekonstruiert und in ihrer eigentümlichen Bedeutung und einmaligen Gestalt erkannt und verstanden (vgl. Geertz 1973; Ragin 1989). Genau gegen diese Einzelfallorientierung wendet sich der extensive variablenorientierte Ansatz. Extensiv heisst, dass verallgemeinerbare, repräsentative Ergebnisse sowie reichweitenstarke Theorien angestrebt werden. Variablenorientiert heisst, dass mit |23◄ ►24| Forschungsfragen und Hypothesen gearbeitet wird, die der Kausallogik von unabhängigen und abhängigen Variablen folgen. Länder werden nicht aufgrund ihr Eigentümlichkeit in die Analyse aufgenommen, sondern weil sie eine interessante Kombination von Variablen aufweisen (vgl. Jahn 2006; Landman 2008).

Variablenorientierter Ansatz

Die variablenorientierte Kausallogik baut auf der Logik der „quasiexperimentellen“ Methode auf: Forscherteams wählen ihre Fälle bzw. Länder so aus, dass sie unterschiedliche Ausprägungen der unabhängigen, erklärenden Variablen in verschiedenen Systemkontexten entsprechen. Dazu wählen sie z. B. zwei Länder mit rein kommerziellem Rundfunksystem, zwei Länder mit rein öffentlich-rechtlichem Rundfunksystem und zwei Länder mit dualem Rundfunksystem aus. Die drei Gruppen in diesem ländervergleichenden Quasi-Experiment werden dann beispielsweise daraufhin verglichen, in welchen Intensitätsgraden sich die Systeme hinsichtlich der abhängigen Variablen (z. B. Boulevardisierung der Politikberichterstattung) unterscheiden. Ein solches quasi experimentelles Forschungsdesign mit nur sechs Fällen verbietet zwar eine streng kausale Ursachenattribution für die gefundene Varianz der abhängigen Variablen. Eine „weiche Kontrolle“ der Varianz kann aber durch systematische Berücksichtigung alternativer Erklärungen für Boulevardisierung erfolgen. Ein solches Untersuchungsdesign kann zeigen, ob es einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Kommerzialisierungsgrad eines Rundfunksystems und dem Boulevardisierungsgrad der Politikberichterstattung gibt. Formal gesprochen, kann ein solches Untersuchungsdesign zeigen, ob es Kovarianz zwischen einer angenommenen unabhängigen Variable und der gemessenen abhängigen Variable gibt. Sie ist von entscheidender Bedeutung für die Leitfrage der Komparatistik — nämlich inwiefern Faktoren des Kommunikationskontextes in charakteristischer Wechselwirkung

„Die“ prinzipielle Logik der komparativen Kommunikationsforschung

zu den Untersuchungseinheiten stehen. Der Vergleich bedeutet also, die Kontextbedingungen zu variieren und dann in den jeweiligen Settings zu untersuchen, inwiefern die Einstellungen und Handlungen der Akteure mit konkreten Strukturbedingungen systematisch korrespondieren (vgl. Esser 2003; Pfetsch/Esser 2003; Pfetsch 2003b). Soweit die Kausallogik, die in diesem Lehrbuchbeitrag durchgehend als „die“ Logik der komparativen Kommunikationsforschung vertreten wird.

Lästigerweise gibt es zwei Probleme in der Praxis. Wie im genannten Beispiel ist auch sonst in der komparativen Kommunikationsforschung |24◄ ►25| ein „harter“ Kausalnachweis manchmal nicht möglich, weil zu wenige Länder in der Analyse sind. Wenn man nur wenige Länder vergleicht, können nicht alle alternativen Kausalkombinationen, die theoretisch ebenfalls zu Boulevardisierung führen können, überprüft werden. Dazu bräuchte es grosse Stichproben mit Ländern, in denen vielfältigste Konfigurationen vorherrschen. Weil die komparative Kommunikationswissenschaft aber oft nur Daten für kleine Ländersamples zur

Kombination von variablenorientiertem und fallorientiertem Ansatz vor allem bei kleineren Ländersamples

Verfügung hat, muss sie manchmal auch auf „weiche“ (nicht statistische) Kausalnachweise zurückgreifen. Kleine Vergleichsstudien vertrauen deshalb stärker auf den verstehend-qualitativen Ansatz. Erklärung im Rahmen des verstehend-qualitativen Ansatzes wird u. a. durch Methoden wie „pattern matching“ oder „process tracing“ erreicht. Mit process tracing ist beispielsweise eine systematische „Kausalitätsrekonstruktion“ auf der Basis von sorgfältiger Kontextbeschreibung, dem Nachzeichnen von Entwicklungspfaden, der Identifizierung von chronologischen Etappenschritten und Kausalketten sowie dem theoriegeleiteten Aufzeigen von Verursachungsmechanismen und Auswirkungen gemeint (vgl. George/Bennett 2005; Jahn 2006; Muno 2009; Rohlfing 2009).

Der vergleichenden Forschung geht es also um Erklärung. Das bezieht sich einerseits auf den Nachweis von Kausalbeziehungen zwischen Variablen zur Überprüfung von Theorien bzw. Hypothesen (variablenorientierter Ansatz), andererseits auf das verstehende Rekonstruieren ganzheitlicher Bedeutungsprozesse (fallorientierter Ansatz). Zusätzlich geht es natürlich auch um den Erwerb spezifischer Kenntnisse über die jeweiligen Mediensysteme und Medienkulturen. Gurevitch/Blumler (2003) betonen daher zu Recht, dass vergleichende Forschung immer einen „doppelten Nutzen“ erbringen sollte. Sie soll

Doppelter Nutzen der Komparatistik: Kontextbedingte Unterschiede in den Untersuchungsgegenständen erklären und Mediensysteme verstehen

nicht nur darauf abzielen, einen bestimmten Untersuchungsgegenstand zu erklären, sondern auch die unterschiedlichen Systeme, in denen er untersucht wird.

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4 Fachinteresse am Vergleich

Für das gewachsene Interesse lassen sich drei Gründe benennen, die

1. Triebfeder: Wissenschaftssysteme und Mediensysteme sind global vernetzter geworden

eng zusammenwirken. Erstens hat das Ende des Kalten Krieges die Ost-West-Spaltung beendet, Reisemöglichkeiten der Forscher erleichtert und das Interesse an internationalen Zusammenhängen neu stimuliert. Wissenschaftskongresse sind pluralistischer und Forschungsfördermöglichkeiten grenzüberschreitender geworden; neue Kommunikationstechnologien haben den weltweiten Austausch erleichtert; das World Wide Web hat den Zugang zu Daten und Wissensbeständen anderer Länder begünstigt. Nicht nur das Wissenschaftssystem, auch das Mediensystem ist globaler geworden. Dies hat das Bewusstsein für die Relevanz kultureller Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten erhöht. Die ökonomische und technologische Seite der Massenkommunikation ist weltweit vernetzt, wie die Transnationalisierung von Medienkonzernen

2. Triebfeder: Führen transnationale Diffusionsprozesse zur Angleichung der Systeme?

und Medienregulierungsfragen zeigt. Zweitens hat die Dynamisierung der internationalen Entwicklungen und die damit verbundenen Entgrenzungs- und Transformationserfahrungen den Operationsmodus des Vergleichens zu einer Dauernotwendigkeit gemacht. Gerade Prozesse gesellschaftlichen Wandels haben das Interesse am Vergleich befördert. Der Besorgnis über die Möglichkeit der Untergrabung nationaler Medienkulturen durch US-Einflüsse („Amerikanisierung“), Furcht vor der Aufweichung nationaler Kommunikationstraditionen durch den Einfluss der Europäischen Union („Europäisierung“) oder dem vermeintlichen Zwang zur Anpassung an die Erfordernisse der weltweiten Medienökonomie und Kommunikationstechnologie („Globalisierung“) begegnet die Publizistikwissenschaft mit international vergleichenden Studien. Die entscheidende Frage lautet hier, ob es im Zuge dieser Strömungen zu einer internationalen Konvergenz der Kommunikationsarrangements kommt oder ob nationale Distinktionen und ursprüngliche Identitäten aufgrund von Filter- und Resistenzreflexen erhalten bleiben. Neben Globalisierung und Transformation

3. Triebfeder: Wie fördern oder hemmen Medien die demokratische Entwicklung in den Gesellschaften?

spielt drittens die Demokratie eine Rolle. Die positive Rolle der Medien in Demokratisierungsprozessen osteuropäischer und ostasiatischer Transformationsgesellschaften hat die Komparatistik ebenso beflügelt wie die negative Rolle der Medien in etablierten Demokratien, wo ihnen bisweilen eine unzuträgliche Intervention in den politischen Prozess vorgeworfen wird. Unter welchen Bedingungen die Medien |26◄ ►27| eine förderliche oder hinderliche Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung spielen ist eine Kernfrage der komparativen Kommunikationsforschung.

5 Etablierungsprobleme des Vergleichs

Es gibt eine Reihe von Hemmnissen, die der Herausbildung der komparativen Kommunikationsforschung als eigenständiger wissenschaftlicher Teildisziplin der Publizistikwissenschaft bislang im Wege standen: schwacher disziplinärer Status, schwache Wissenschaftsstrukturen, schwache Datenbasis und schwach entwickeltes Theorie- und Methodeninventar.

Komparatistik ist „nur“ eine Forschungsstrategie und ohne eindeutigen Objektbezug

Erstens handelt es sich bei der Komparatistik „nur“ um eine spezifische Strategie zum Erkenntnisgewinn, nicht um einen inhaltlich bestimmten Bereich wie etwa die Medienökonomie, Journalismusforschung oder Politische Kommunikation. Die international vergleichende Forschungsstrategie ist vor allem durch Verfahrensfragen der Analysenlogik und Fallauswahl gekennzeichnet, nicht durch die Festlegung auf ein spezifisches Formalobjekt. Vergleichen lässt sich prinzipiell alles — egal auf welchen Gegenstand der Lasswell-Formel (Kommunikator, Aussage, Medium, Rezipient, Wirkung) oder welche Analyseebene der Mikro-Meso-Makro-Logik (Akteure, Organisationen, Systeme) es bezogen ist. Der fehlende Objektbezug erschwerte bislang die Herausbildung einer eigenen Identität.

Kleine Fachgemeinde, labile Wissenschaftsstrukturen

Zweitens ist der Kreis der Publizistikwissenschaftler, die sich kontinuierlich und systematisch mit dem Vergleich beschäftigen, weiterhin klein. Da es innerhalb dieser kleinen, lose verbundenen Gruppe nur wenig koordinierte Zielvorstellungen und konsentierte Qualitätskriterien für die komparative Kommunikationsforschung gibt, konnte sie sich noch nicht als vollwertige Subdisziplin institutionalisieren. Die Entwicklung einer stärkeren „Personaldecke“ sowie die Durchsetzung leistungsfähiger Strukturen, verlässlicher Gütekriterien und Methodenstandards bleiben zentrale Herausforderungen der nächsten Jahre (vgl. Saxer 2008).

Mangel an globalen Daten

Drittens sind die für harte Kausalnachweise notwendigen grossen Länderstichproben in der komparativen Kommunikationsforschung immer noch Zukunftsmusik. Es fehlen unserem Fach die Kapazitäten |27◄ ►28| zum Aufbau umfassender, wahrhaft globaler Datensätze. Dies ist in der Politikwissenschaft anders, weil sich dort internationale Organisationen (Freedom House, World Bank, OECD, Eurostat etc.) oder Forschergruppen (Polity IV, Polyarchy, Party Policy, World Values Survey etc.) seit Jahrzehnten am Aufbau von systematischen Datensätzen mit 170 Ländern und mehr beteiligen. Ohne eine solche unterstützende Infrastruktur stossen auf sich allein gestellte Medienforscher rasch an ihre Grenzen. Wo Grossprojekte ausnahmeweise möglich wurden, hatten sie mit gravierenden Strukturschwächen zu kämpfen — insbesondere mit Koordinations- und Integrationsproblemen sowie mit Äquivalenz-und Validitätsproblemen (vgl. dazu Stevenson 2003; Esser 2004; Wilke 2008).

 

Mangel an adäquaten theoretischen Modellen und methodischen Verfahren

Viertens sind die für harte Kausalnachweise notwendigen theoretischen Modelle und methodischen Auswertungskompetenzen noch unterentwickelt. Zur Beantwortung der Kernfrage, inwiefern verursachende Faktoren des Kommunikationskontextes einen charakteristischen Einfluss auf das Kommunikationsprodukt haben, nimmt die Komparatistik eine klare Trennung zwischen dem Untersuchungsgegenstand und seinen Rahmenbedingungen vor. Der Komparatist variiert durch den Ländervergleich die makrosozialen Rahmenbedingungen und zieht dann Schlussfolgerungen darüber, wie sich dies auf den Untersuchungsgegenstand auswirkt. Solche Schlussfolgerungen von Bedingungen der Makroebene auf die Mikroebene sind allerdings

Mehrebenen-Problematik in der Komparatistik

problematisch, weil sie (durch den Sprung über Analyseebenen hinweg) zu unzulässigen Kausalbehauptungen führen können. Für dieses Problem, das in der Literatur als „ökologischer Fehlschluss“ bezeichnet wird, bedarf es anspruchsvoller Lösungen: Sie betreffen Theorie und Methode. Zum einen müssen Mehrebenenheuristiken entwickelt werden, die solche schichtenübergreifenden Analysen theoretisch rechtfertigen (siehe weiter unten); zum anderen müssen Mixed Methods Designs, Triangulation und Mehrebenenanalyse zum Einsatz kommen (vgl. Jahn 2006; Hanitzsch 2010), um die hierarchischen theoretischen Annahmen auch methodisch umzusetzen. Die entsprechenden theoretischen Modelle und methodischen Verfahren sind in der komparativen Kommunikationsforschung erst in der Entwicklung. |28◄ ►29|

6 Ziele des Vergleichs

Warum vergleichen wir? Einleitend wurde bereits festgestellt, dass die Logik des Vergleiches ultimativ auf Erklärung abzielt. Auf dem Weg zu diesem Endpunkt werden drei weitere, vorgelagerte Zielsetzungen unterschieden (vgl. Esser 2003; Landman 2008):

1. Ziel: Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Das erste Ziel liegt in der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Wir beschreiben publizistikwissenschaftlich relevante Phänomene in unterschiedlichen Medienumfeldern, um Gleichartigkeiten von identitätsstiftenden Besonderheiten grob abgrenzen zu können. Als Methode dient uns dazu die kontextuelle Beschreibung. Sie gilt als Anfangspunkt der vergleichenden Analyse, jedoch wird kein geschulter Komparatist hier stehenbleiben.

2. Ziel: Erkennen funktionaler Äquivalente

Das zweite Ziel besteht im Erkennen funktionaler Äquivalente. Das Grundproblem der Komparatistik liegt, so trivial es klingen mag, in der Vergleichbarkeit. Nur Äquivalentes (also Gleichwertiges), das in unterschiedlichen Kontexten die gleiche Funktion (also Rolle) erfüllt, kann sinnvoll verglichen werden. Aber was sind funktionale Äquivalente des deutschen Nachrichtenmagazins Spiegel und des Focus in England? Was sind funktionale Äquivalente der auflagenstärksten Schweizer Wochenblätter Coopzeitung und Migros-Magazin in Frankreich? Was ist das funktionale Äquivalent des amerikanischen Berichterstattungsstils Investigative Reporting in der Schweiz? Als Methode zur Identifizierung funktionaler Äquivalente dienen Expertenbefragung, Abgleich mit externen Daten und mehrperspektivische Recherche. Neben dem Länder- und Gegenstandswissen, welches wir aus den zuvor erwähnten Kontextbeschreibungen erhalten haben, ist hierfür zusätzlich theoretisch geschultes Konzeptwissen erforderlich, um die Gleichwertigkeit auf einer höheren Abstraktionsebene erkennen und begründen zu können.

3. Ziel: Entwicklung von ordnenden Typologien

Das dritte Ziel der Komparatistik besteht in der Entwicklung von Typologien, welche die Ordnung der erhobenen empirischen Phänomene erlauben. Typologien sind das Mindestergebnis einer komparativen Analyse. Hierbei werden die Befunde aus verschiedenen Ländern (z. B. zu journalistischen Einstellungen, Nachrichteninhaltsmustern oder Mediennutzungspräferenzen) nach mehreren Kriterien oder Dimensionen verglichen, sodass „Typen“ erkennbar werden. Von besonderem Interesse ist, welche Kriterien oder Dimensionen der Forscher|29◄ ►30| identifizieren kann, die zur Entstehung eines Typs beitragen, und wie gut sich die untersuchten Fälle („Realtypen“) denen im Zuge der Typologiekonstruktion entwickelten „Idealtypen“ zuordnen lassen. Erstmalig wurde dieses Vorgehen von Siebert, Peterson und Schramm in Four Theories of the Press (1956) gewählt. Auf Basis verschiedener Vergleichsdimensionen–Medienfunktion, Medienzugang, Medienkontrolle, Medienzensur und Medienbesitz–entwickelten sie vier Idealtypen von Mediensystemen: Autoritarismus-, Liberalismus-, Sozialverantwortungs- und das Kommunismus-Modell. Auch die Nachfolgestudie Comparing Media Systems von Hallin und Mancini (2004) ging so ähnlich vor (siehe Beitrag Mediensysteme–Medienorganisationen, i. d. B.). Eine Zuordnung von Realtypen zu einem Idealtypus ist immer mit Abstraktion und Detailverlust verbunden. Diese Komplexitätsreduktion wird von Komparatisten ausdrücklich begrüsst, weil sie kriterienorientierte Muster zu erkennen erlaubt. Von Nichtkomparatisten wird sie jedoch oft kritisiert, weil sie Länderspezifika, die ausserhalb der gewählten Vergleichskriterien liegen, ausblendet. In der vergleichenden Kommunikationswissenschaft wurden z. B. Typologien entwickelt für nationale Medienstrukturen (vgl. Kriesi 2003; Pfetsch/ Maurer 2008), Einstellungsmuster von Kommunikatoren (vgl. Donsbach /Patterson 2003; Pfetsch 2003a), Medienpublika (vgl. Norris 2000; Tenscher 2008) und Berichterstattungsmuster (vgl. Esser 2008; Plasser/ Lengauer/Pallaver 2009; Wessler et al. 2009).

4. Ziel: Erklärung

Das vierte Ziel liegt in der Erklärung. Die grundlegende Annahme der erklärungsorientierten Komparatistik lautet, dass spezifische Konstellationen des medialen und politischen Kontextes in charakteristischer Weise interagieren mit den Einstellungen der Kommunikatoren, ihrem Handeln und den so beeinflussten Ergebnissen der Kommunikation. Unterschiedliche Kontexte korrespondieren also systematisch mit den Kommunikationsvariablen. Nach dieser Erklärlogik haben

Beispiele für erklärende Vergleichsstudien

Zhu et al. (1997) den Einfluss politischer, kultureller, organisatorischer und individueller Faktoren auf das berufliche Selbstverständnis von Journalisten in drei Ländern untersucht. Wu (2000) untersuchte für 38 Länder den Einfluss systemischer Faktoren auf die Beachtung dieser Länder in der internationalen Auslandsberichterstattung. In ähnlicher Weise untersuchten Brüggemann/Kleinen von Königslöw (2009) in fünf europäischen Ländern, inwieweit systemische und organisationale Faktoren einen Einfluss auf die Intensität der Europaberichterstattung|30◄ ►31| in Zeitungen haben. Dagegen untersuchten Vliegenhart/ Schuck/Boomgarden/de Vreese (2008) den Einfluss des Tenors der EU-Berichterstattung auf die EU-Unterstützung in der Bevölkerung von sieben Ländern. Während Curran/Iyengar/Lund/Moring (2009) den Einfluss der Qualität der Informationsversorgung in einem Mediensystem auf das politische Wissen der Bürger in fünf Ländern analysierten, studierten Norris/Holtz-Bacha (2001), inwieweit personenbezogene Mediennutzungsfaktoren das politische Wissen der Bürger in 15 EU-Ländern beeinflussen. Alle diese Vergleichsstudien wählten Regressionsanalysen für ihre Kausalnachweise (weitere Beispiele für regressionsanalytische Vergleichsstudien sind Peter 2003, Pfetsch/ Adam/Eschner 2008 oder Iyengar/Hahn/Bonfadelli/Marr 2009). Im Bereich der quantitativ-statistischen Komparatistik bewegt sich die Forschung von Regressions- zu anspruchsvolleren Mehrebenenanalysen (Hanitzsch 2010). Im Bereich der qualitativen Vergleichsforschung sind QCA-Analysen eine interessante Neuerung (Schneider/ Wagemann 2007; Nguyen Vu 2010).