Einführung in die Publizistikwissenschaft

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

7 Erklärende Komparatistik: Ihre theoretischen Grundlagen

Bislang ist die Logik von Kausalität und Erklärung mehrfach im Sinne einer einseitigen „Verursachung“ bzw. „Einflussnahme“ beschrieben worden. Oft hatten die genannten Studien dafür auch die entsprechenden theoretischen Annahmen. Andere kommunikationswissenschaftliche

Komparatistik will den Zusammenhang zwischen Kontext und Untersuchungsgegenstand erklären

Theorien machen aber keine Aussagen über einen gerichteten Zusammenhang zwischen Strukturkontext und Untersuchungsgegenstand. In diesen Fällen sollte man angemessener von charakteristischen „Wechselbeziehungen“, „Interaktionen“, „Korrelationen“, oder „Korrespondenzen“ sprechen. Dieser Warnhinweis zur Kausalitätsrichtung ist wichtig und sollte immer beachtet werden.

Dazu stellt sie Hypothesen auf–aber wie geht das?

Grundsätzlich führt das aber zu der Frage, woher wir unsere Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Strukturkontext und Untersuchungsgegenstand überhaupt nehmen. Dazu ist zu sagen, dass man nur solche Hypothesen aufstellt, für die spezifische Gründe (Ergebnisse aus Vorgängerstudien oder eigenen Beobachtungen) oder aber theoretische Annahmen (Theorien) sprechen. Hypothesen sind immer |31◄ ►32| Bestandteile eines theoretischen Zusammenhangs, und jede erdenkliche komparative Hypothese lässt sich in der Regel einem übergeordneten Theorieparadigma zuordnen. Deshalb sollte die Einordnung in einen theoretischen Rahmen auch immer versucht werden. Für

Es gibt drei Theorie-Paradigmen, aus denen sich komparative Hypothesen gut ableiten lassen

die Komparatistik sind dazu die drei grundlegenden Paradigmen der Sozialwissenschaft relevant: Handlungstheorien, Kulturtheorien und Strukturtheorien (vgl. Lichbach 1997). Für jede dieser Perspektiven geben wir im folgenden Beispiele aus der komparativen Kommunikationswissenschaft, die auch als Ansatzpunkte für die eigene Hypothesenentwicklung dienen können.

7.1 Handlungsorientiertes Paradigma

Handlungsparadigma: Das Verhalten von Akteuren wird erklärt

Hier liegt der Fokus auf Akteuren. Komparative Analysen, die das Verhalten von individuellen oder korporativen Akteuren in verschiedenen Kontexten erklären wollen (z. B. die Nachrichtenauswahl von Journalisten bzw. Medienorganisationen in zwei Ländern), können eine handlungsorientierte Nachrichtentheorie zur Grundlage nehmen. Wie leitet man aus einer handlungsorientierten Nachrichtentheorie (z. B. Gatekeeping, News Bias, Instrumentelle Aktualisierung, Medienframing) komparative Hypothesen ab? Hierbei werden internationale Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in der Nachrichtengebung zurückgeführt auf die (gleichwertigen oder abweichenden) organisationalen oder institutionellen Rahmenbedingungen, welche die Handlungsräume, Strategien, Interessen und Spielregeln der einzelnen Journalisten bzw. Medienorganisationen bestimmen. Ein Hypothesenbeispiel lautet: Je stärker in einem Medienbetrieb Konzerninteressen Einfluss auf Nachrichtenentscheidungen nehmen, desto weniger werden Journalisten Beiträge veröffentlichen, die auf kostspieligen Recherchen beruhen oder dem Ansehen oder der politischen Grundhaltung des Medienbetriebes entgegenstehen. Ein anderes Hypothesenbeispiel zum Zusammenhang von Handlungszielen und Rahmenbedingungen lautet: Je stärker Journalisten sich zu einem aktiven Rollenselbstverständnis (als Interpretierer, Kritiker oder Gegner) bekennen, desto stärker werden sie Handlungsräume und -strategien zu etablieren versuchen, die ihnen eine durch Einflussnahme gekennzeichnete Politikberichterstattung erlaubt. Innerhalb der handlungsorientierten Nachrichtentheorien verweist das erste Beispiel auf den Einfluss des Managementstils, das |32◄ ►33| zweite auf den Einfluss professioneller Rollenvorstellungen auf Gatekeepingprozesse (vgl. Shoemaker/Vos 2009).

7.2 Kulturalistisches Paradigma

Hier liegt das Interesse auf der Verdichtung von Einzelaspekten als Ausdruck von Kultur. Komparative Analysen, die nicht einzelne Akteure,

Kulturalistisches Paradigma: Manifestationen von Medienkultur werden erklärt

sondern gesellschaftliche Gruppen, Diskurse oder Symbolkomplexe vergleichen, können Theorien zur Grundlage nehmen, die dem kulturorientierten Paradigma entstammen. Unabhängig von der Theorie, die man wählt, lautet wieder die Frage, wie man aus ihnen komparative Hypothesen ableitet. Solche Hypothesen führen internationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Journalismuskulturen, Nachrichtenkulturen oder Medienkulturen auf verschieden herausgebildete Identitäten, Internalisierungen, Werthaltungen oder Weltbilder zurück. Diese Kulturen sind das Ergebnis historisch-kollektiver Sozialisationsprozesse und können sich in kleinen Milieus, Organisationen, Nationen oder transnationalen Räumen herausbilden. Sie strukturieren einerseits als Orientierungs- und Wahrnehmungsschemata die Weltwahrnehmung der Beteiligten, andererseits strukturieren sie die Produktion, Rezeption, Evaluation und gegebenenfalls Regulation von Medienkulturprodukten. Ergebnisse von Kultur lassen sich in den Vor-und Einstellungen der Kommunikatoren, ihren unmittelbaren Praktiken sowie den daraus resultierenden schriftlichen und mündlichen Kommunikationsprodukten analysieren (vgl. Hepp 2006; Hanitzsch 2007; Brüggemann 2010). Es gibt eine geisteswissenschaftliche und eine sozialwissenschaftliche Kulturforschung. Letztere interessiert hier besonders. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive fordern beispielsweise Semetko und Mandelli (1997) mehr ländervergleichende Untersuchungen zur Hypothese, inwiefern Medien die politische Kultur beeinflussen, indem eine skandalorientierte Politikberichterstattung die Ansichten der Bevölkerung gegenüber Regierungs- und Parteivertretern langfristig untergraben kann. Pfetsch (2003a) untersucht in einer Vergleichsstudie die Hypothese, inwiefern die institutionellen Strukturen des amerikanischen und deutschen Politik- und Mediensystems mit den Beziehungsmustern der Politiker und Journalisten korrespondieren, welche die Autorin zu Typen von Kommunikationskulturen verdichtet. Blumler und Gurevitch (1995) untersuchen eine |33◄ ►34| Hypothese zu den Auswirkungen unterschiedlicher Professionskulturen –„pragmatic“ und „sacerdotal“–in öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Rundfunksendern auf die Berichterstattung über Wahlkämpfe in Grossbritannien und den USA.

7.3 Strukturalistisches Paradigma

Strukturalistisches Paradigma: Die Prägekraft institutioneller Arrangements wird erklärt

Hierbei stehen Systemaspekte als Erklärungsfaktoren im Vordergrund. Komparative Analysen, die Aspekte der Massenkommunikation durch makro-analytische Charakteristika der Medienstrukturen oder Medieninstitutionen erklären, basieren oft auf Theorien der strukturorientierten Forschungstradition. Hierbei werden oft medienökonomische, medienrechtliche, medienpolitische oder medienhistorische Konfigurationen (oder sonstige strukturelle Aspekte des Medien- und Politiksystems) zur Erklärung für unterschiedliche Ausprägungen der politischen oder journalistischen Kommunikation herangezogen. Das Bindeglied zwischen Struktur und Handlung bilden Institutionen, definiert als Regeln und formale Organisationen. Institutionen prägen Rollen, die wiederum das Verhalten einzelner Akteure prägen. Durch den meist direkten Bezug zu nationalen Mediensystemen als Analyseeinheit wird hier besonders deutlich, dass Einflüsse unterschiedlicher Regulierungsordnungen, nstitutionalisierungsformen und anderer verfestigter Makroarrangements auf konkrete Kommunikationsverhältnisse nur durch Ländervergleiche analysiert werden können. Die Mediensystemtypologie von Hallin/Mancini (2004) steht mit ihrem historisch-institutionalistischen Ansatz beispielsweise in dieser Tradition. Weitere Beispiele: Aus ihrem 10-Länder-Vergleich leiten Gunther/ Mughan (2000) die Hypothese ab, dass die effektivsten Barrieren gegen eine Verwässerung der Informationsqualität in heutigen Mediensystemen zwei Strukturelemente sind–ein stark verankerter öffentlicher Rundfunk sowie eine effektiv ausgestaltete Medienregulierung, welche die Einhaltung gemeinwohlorientierter Standards beaufsichtigt. Die 6-Länder-Studie von Aalberg/van Aelst/Curran (2010) bestätigt übrigens genau das. Ein anderes Beispiel ist die Wahlkampfstudie von Swanson und Mancini (1996). Eine ihrer ländervergleichend untersuchten Strukturhypothesen lautet, dass Vielparteiensysteme, in denen programmatisch unterschiedliche Gruppierungen gegeneinander antreten, zu einer grösseren Themen- und Perspektivenvielfalt |34◄ ►35| in der Wahlkampfberichterstattung führen als Zweiparteiensysteme, in denen mit Allerweltsparolen um dieselben unentschlossenen Wähler gekämpft wird.

Bei der theoretischen Herleitung der eigenen Vergleichsstudie spricht nichts dagegen, Theoriekonzepte zu verwenden, die Bezüge zu allen drei Paradigmen herstellen. Generell dürfte die Theoriearbeit

Integrative Studien verwenden Theorien, die Elemente verschiedener Paradigmen in sich aufnehmen

in der komparativen Kommunikationswissenschaft davon profitieren, Impulse aus allen Paradigmen aufzunehmen, integrative Analysemodelle zu entwerfen, und daraus originelle Hypothesen abzuleiten (vgl. Lichbach 2009). Dies sollte jedoch informiert und nicht willkürlich geschehen. Ebenfalls dürfte deutlich geworden sein, dass prinzipiell jeder Gegenstand verglichen werden kann. Was die vergleichende von der nicht vergleichenden Forschung unterscheidet, sind ihre konkreten Ziele, die erklärende Analyselogik und grosse Bedeutung der Fallauswahl. Die Auswahl der Länder ist das Herz der komparativen Methode, wie die folgende Diskussion der methodischen Grundlagen zeigt.

8 Erklärende Komparatistik: Ihre methodischen Grundlagen

 

Die vergleichende Kommunikationsforschung greift deduktiv auf eine Vielzahl theoretischer Stränge zurück und baut induktiv stark auf Ergebnissen von Vorgängerstudien auf. Um den Schritt von der Beschreibung („alte“ Komparatistik) zur Erklärung („neue“ Komparatistik) zu vollziehen, müssen in den Hypothesen die Beziehungen zwischen Kontextfaktoren und den Untersuchungsphänomen klar benannt werden. Die Hypothesen bestimmen dann die Form der

Die Art der Hypothesen bestimmt das Untersuchungsdesign und die Zahl der Untersuchungsfälle

Untersuchung (Medieninhaltsanalyse, Dokumentenanalyse, Fragebogensurvey, Intensivinterviews, Beobachtung, Experiment), Art der Datenerhebung (quantitativ oder qualitativ), die Datenerhebungszeitpunkte (Querschnitt oder Längsschnitt) sowie das Forschungsdesign, für das die Anzahl und Auswahl der Untersuchungseinheiten (Länder bzw. Mediensysteme bzw. Elemente von Mediensystemen) festgelegt werden müssen. Die meisten Studien zur komparativen Kommunikationsforschung müssen sich aus Gründen begrenzter Ressourcen oder mangelnder Daten mit kleinen oder mittleren Fallzahlen begnügen. Weil multi-nationale Large-N-Studien ausserhalb der Reichweite von |35◄ ►36| Studierenden liegen, konzentriert sich die weitere Darstellung auf

In der Kommunikationswis- senschaft überwiegen kleine bis mittelgrosse Fallzahlen

kleinste bis mittelgrosse Versuchsanordnungen. Während kleine Vergleichsstudien eher „intensive“, qualitativ-verstehende Methoden verwenden, kommen für mittelgrosse Analysen bereits „extensive“, quantitativ-variablenorientierte Methoden in Frage (vgl. Ragin 1987). In all diesen Vergleichsstudien ist es ausserordentlich wichtig, dass der Forscher eine klare theoretische Begründung für die Länderauswahl

Die Fallauswahl muss immer begründet werden!

benennt.

8.1 Ein Land: Impliziter Vergleich

Einzelfallstudien sind in der Komparatistik unter der Bedingung vertretbar, dass sie als implizierter Vergleich angelegt werden (vgl. George/ Bennett 2005; Muno 2009). Zum Beispiel kann ein Mediensystem in

Einzelfallstudien können einen Beitrag zur Komparatistik liefern–wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen

Bezug auf einen von der komparativen Literatur entwickelten Idealtypus analysiert werden–um z. B. zu untersuchen, ob Grossbritannien wirklich dem von Hallin/Mancini (2004) entwickelten „liberalen“ Mediensystemtypus zugeordnet werden kann. Hierbei wird ein Mediensystem, das als repräsentativ für den Idealtypus gelten kann, auf seine prototypischen Charakteristika oder seine gravierenden Abweichungen hin untersucht (representative case oder deviant case analysis). Bezogen auf das genannte Beispiel, stünde dann allerdings weniger das britische System in seiner Gesamtheit im Erkenntniszentrum als die Angemessenheit und Verallgemeinerbarkeit des von Hallin/Mancini entworfenen Idealtypus. Theoretisch sauber durchgeführt, könnte eine solche Einzelfallstudie im besten Fall zur Überarbeitung der komparativen Typologie führen.

Viele Handbücher bieten eine Zusammenführung von Einzelfallanalysen in Form von Länderkapiteln–so etwa im Internationalen Handbuch Medien des Hans-Bredow-Instituts (2009), im Euromedia Handbook (Kelly/Mazzoleni/McQuail 2004) oder im ICA Handbook of Election News (Strömbäck/Kaid 2008). Sofern die als Länderkapitel präsentierten Fallstudien nach systematischen Kriterien ausgewählt, nach methodisch einheitlichen Kriterien verglichen, ihre Ergebnisse in einem synthetisierenden Schlusskapitel einer echt komparativen Analyse zugeführt und in Bezug auf eine einheitliche Theorie als theorieunterstützend oder theoriewiderlegend interpretiert werden, sind die Anforderungen einer „method of structured, focused comparison“|36◄ ►37| (George/Bennett 2005) erfüllt. In den genannten Beispielen, wie auch bei vielen anderen solcher Handbücher, ist dies allerdings nicht der Fall.

8.2 Wenige Länder: Qualitativer Vergleich

Paarvergleiche sind häufig, aber nicht unproblematisch. Sie müssen den Anforderungen der „structured comparisons“ folgen

Bei nur zwei oder drei Fällen muss die gerade angesprochene „method of structured, focused comparison“ angewendet werden (George/Bennett 2005). Es sollten dafür jeweils möglichst repräsentative Fälle ausgewählt werden, die idealerweise Aussagen über den dahinterstehenden Idealtypus erlauben. Die Frage, wofür jeder Fall ein Fall ist, muss vom Forscher also klar angegeben werden. Man muss allerdings realistischerweise auch sagen, dass die Generalisierbarkeit von Zwei-Land-Vergleichen im Regelfall sehr begrenzt bleibt. Das Hauptproblem liegt darin, dass bei kleiner Fallzahl eine grosse Menge von Kontextvariablen ins Blickfeld geraten, die vom Forscher kaum unter Kontrolle zu bekommen sind. Wenn sich die beiden Länder hinsichtlich Geschichte, Kultur, Wirtschaft, Politik, Recht etc. stark unterscheiden und diese Kontextfaktoren mit dem Untersuchungsgegenstand zudem eng verflochten sind, können Zusammenhänge nicht mehr zuverlässig identifiziert werden. Formal gesprochen, gilt dann die abhängige Variable als unterdeterminiert. Um dennoch Zusammenhangsmuster aufspüren und erklären zu können, sollten sich Forscher mit qualitativen Strategien wie „pattern matching“, „process tracing“ oder „analytical narratives“ vertraut machen (George/Bennett 2005; Jahn 2006; Muno 2009; Rohlfing 2009).

8.3 Mittlere Länderzahl: Kontrollierter Vergleich

Mittlere Fallzahlen sind ideal, aber an bestimmte Analysestrategien gebunden

Logik des Most Similar Systems Design (MSSD)

Bei Vergleichsstudien von 4–15 Mediensystemen ist erst recht eine bewusste Fallauswahl erforderlich. Diese Studien fussen auf sogenannten quasi experimentellen Designs. Dafür stehen verschiedene Strategien zur Verfügung: Der erste Weg besteht darin, möglichst ähnliche Mediensysteme auszuwählen; der zweite Weg darin, möglichst verschiedenartige Mediensysteme zu untersuchen (vgl. Przeworski/ Teune 1970; Jahn 2006; Landman 2008). Die erste Forschungsstrategie wird mit Most Similar Systems, Different Outcome beschrieben. Hierbei werden Mediensysteme ausgewählt, in denen der Untersuchungsgegenstand |37◄ ►38| (die abhängige Variable) in sehr ähnlichen Kontexten variiert. Es werden ähnliche Mediensysteme zum Ausgangspunkt genommen, um die groben Rahmenbedingungen für den Untersuchungsgegenstand konstant gering zu halten. Ziel ist nun die Identifikation jener Ursache, die in beiden Mediensystemen eben nicht gleich ist und dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass es zu unterschiedlichen Outcomes hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes kommt. In Abbildung 1 ist die Logik von Most Similar Systems, Different Outcome systematisch dargestellt. Verglichen werden zwei Mediensysteme, die sich in vielen Kontextfaktoren gleichen, aber in einem unterscheiden. Der Grund, warum sich im zweiten Mediensystem der Untersuchungsgegenstand X nicht herausgebildet hat liegt im Fehlen des Kontextfaktors „b“. Das grosse Problem dieser Forschungsstrategie liegt darin, wie man most similar systems erkennt bzw. bestimmt. Hierbei können Mediensystemtypologien wie die von Hallin/Mancini (2004) helfen. Beispiele für kommunikationswissenschaftliche Anwendungen des Most Similar Systems Design sind Adam (2007), Esser (2008) und natürlich Hallin/ Mancini (2004).

Abbildung 1: Erklärlogik von „Most Similar Systems, Different Outcome“


Logik des Most Different Systems Design (MDSD)

Die zweite Forschungsstrategie wird als Most Different Systems, Similar Outcome bezeichnet. Bei solchen Untersuchungen von extrem heterogenen Mediensystemen besteht das Ziel darin, in der Fülle von Unterschieden jenen gemeinsamen Faktor zu finden, der dann als ursächlich (im Sinne einer hinreichenden Bedingung) für einen überall vorgefundenen, ähnlichen Outcome gelten kann. In Abbildung 2 ist „a“ der verursachende Faktor, der in den ansonsten unterschiedlichen Mediensystemen 3 und 4 dafür sorgt, dass sich Outcome X in beiden zeigt; Mediensystem 5 dient als Prüffall zur Bestätigung dieser Schlussfolgerung. Kommunikationswissenschaftliche Beispiele für Most Different Systems Designs legten Swanson/Mancini (1996), Norris/Inglehart (2009) sowie Hanitzsch/Seethaler (2009) vor.

|38◄ ►39|

Abbildung 2: Erklärlogik von „Most Different Systems, Similar Outcome“


MSSD und MDSD sind Idealvorstellungen, die adaptiert und kombiniert werden können

Beide Forschungsstrategien, Most Similar und Most Different Systems Design, werden in der Praxis dadurch verkompliziert, dass es nie nur eine Ursache für ein erklärungsbedürftiges Phänomen gibt, sondern immer eine Konstellation mehrerer Ursachen. Beide Designs sind demnach als Idealvorstellungen anzusehen, die sich nur selten in Reinform realisieren lassen. Um die Vor- und Nachteile der verschiedenen Forschungsstrategien auszugleichen, kombinieren viele Studien die Logik von Most Similar und Most Different Systems Design.

Logik der Qualitative Comparative Analysis (QCA)

Es gibt eine weitere Lösung für das Problem, dass ein erklärungsbedürftiges Phänomen meist auf eine Konstellation mehrerer Ursachen zurückgeführt werden kann. Sie nennt sich Qualitative Comparative Analysis (vgl. Schneider/Wagemann 2007; Ragin 2008) und basiert auf einem anderen Kausalitätsverständnis und einer anderen Datenanalysestrategie als die beiden zuvor behandelten Strategien. Das Kausalitätsverständnis der QCA ist weniger deterministisch, indem nicht isolierte verursachende Einzelfaktoren gesucht werden (etwa „b“ in Abbildung 1), sondern grössere Konstellationen, die in bestimmten Gruppen und Kombinationen vorkommen müssen (etwa „a-b-c-d“ in Abbildung 1). Kausalität wird also nicht auf Einzelvariablen, sondern auf komplexe Konfigurationen von „notwendigen“ und „hinreichenden“ Bedingungen zurückgeführt. Für die komplexere Datenanalyse stehen speziell entwickelte Computerprogramme zur Verfügung; deren Auswertungslogik basiert auf Mengentheorie, logischer Kombinatorik und sogenannten Wahrheitstafeln. Ein kommunikationswissenschaftliches Anwendungsbeispiel der QCA ist Nguyen Vu (2010).

|39◄ ►40|

9 Anwendungsfelder des Vergleichs

Zur Beantwortung der Kernfrage, inwiefern Faktoren des Kommunikationskontextes in charakteristischer Weise mit dem Untersuchungsgegenstand interagieren, sind für verschiedene Bereiche unseres Faches

Drei Anwendungsfelder, für die Mehrebenenheuristiken entwickelt wurden

hilfreiche Mehrebenenheuristiken entworfen worden. Hierzu zählt das an Stephen Reese angelehnte Modell der mehrschichtigen Einflussfaktoren im internationalen Journalismus, die Mediensystemtypologie von Daniel Hallin und Paolo Mancini sowie das Konzept des Politischen Kommunikationssystems von Jay Blumler und Michael Gurevitch. Entsprechend wenden wir uns diesen Feldern zu.

9.1 Journalismus im Vergleich

Forschungsinteresse: Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Professionskultur und Nachrichtenstilen erklären

In der komparativen Journalismusforschung geht es u. a. um die Frage, ob es eine einheitliche oder ob es unterschiedliche professionelle Einstellungen und Kulturen gibt und welche Bedeutung dies für die Produktion der Medieninhalte hat. Es spricht viel für die Annahme verschiedener professioneller Kulturen, wobei ihre Grenzen unterschiedlich bestimmt werden. So unterscheidet beispielsweise Donsbach (vgl. Donsbach/Klett 1993; Donsbach/Patterson 2003) auf Basis einer 5-Länder-Befragung von Nachrichtenjournalisten zwischen einer anglo-amerikanischen (USA, GB) und einer kontinental-europäischen (SW, D, IT) Professionskultur, wohingegen Heinderyckx (1993) auf Basis einer 8-Länder-Inhaltsanalyse von Fernsehnachrichtensendungen eine nordisch-germanische (GB, D, NL) von einer romanischmediterranen (F, IT, ES) abgrenzt. Gute Überblicke über die zentralen Einzelstudien und die bisherigen Befunde der vergleichenden Journalismusforschung finden sich bei Esser (2004), Donsbach (2008) sowie Hanitzsch (2009a).

 

Erklärungen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede im westlichen Journalismus können auf verschiedenen Analyseebenen verortet werden

Eine Fülle von Einzelfaktoren, die sich auf verschiedenen Analyseebenen anordnen lassen, können für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Journalismussystemen oder -kulturen verantwortlich gemacht werden (vgl. den Beitrag Journalismusforschung, i. d. B.). Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten: Journalisten westlicher Industrieländer zeigen eine hohe Angleichung hinsichtlich Durchschnittsalter, Schichtenrekrutierung, Frauenanteil, Bildungsgrad, Anstellungsverhältnis, Mediensektorzugehörigkeit und Arbeitszufriedenheit, was |40◄ ►41| auf die Anwendung ähnlicher Kriterien bei der Personalrekrutierung, -positionierung und -ausbildung in westlichen Medienorganisationen zurückgeführt werden kann. Unterschiede haben internationale Journalistenbefragungen v. a. hinsichtlich der beruflichen Einstellung und Aufgabenselbstverständnisse aufgedeckt. Hier zeigen sich in den Journalistenpopulationen westlich-pluralistischer Industrienationen erstens Unterschiede hinsichtlich Investigativgeist und Selbstverständnis der Presse als demokratiekontrollierende Vierte Gewalt (was u. a. auf Divergenzen der politischen Kultur und anderer gesamtgesellschaftlicher Kontextfaktoren zurückgeführt werden kann); zweitens hinsichtlich Recherchebereitschaft und -verhalten (was u. a. auf Divergenzen bei der Herausbildung des Reporter-Berufsbildes und anderer medienorganisationaler Kontextfaktoren zurückgeführt werden kann); drittens hinsichtlich der Trennungsnorm von Nachricht und Meinung (was u. a. ebenfalls auf medienorganisationale Prinzipien–Grad der Arbeitsteilung und redaktionellen Kontrolle–zurückgeführt werden kann); sowie viertens hinsichtlich Berichterstattungsabsichten und Informationsbeschaffungsmethoden (deren Unterschiede sich auf der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Kontextes mit allgemeinen Normen und dem Rechtssystem, auf der Ebene der Medienorganisationen mit der Organisation redaktioneller Tätigkeiten erklären lässt). Es wird deutlich, dass die komparative Journalismusforschung zur Erklärung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf ein mehrschichtiges Modell von Einflussfaktoren zurückgreift, an deren Konzeption Reese (2001), Esser (2004), Donsbach (2008) und Hanitzsch (2009b) mitgewirkt haben.

Es gibt Angleichungen im westlichen Journalismus, aber keine Einebnung nationaler Distinktionen

Insgesamt kommt die Forschung zum Ergebnis, dass es unterschiedliche professionelle Kulturen gibt, die sich durch Prozesse der Europäisierung, Amerikanisierung oder Globalisierung bislang nicht eingeebnet haben. Unterschiede können vor allem durch Einflussfaktoren der nationalgesellschaftlichen Mediensystemebene (mit ihren divergierenden kulturellen, politischen, rechtlichen Bedingungen) erklärt werden; Gemeinsamkeiten durch die darüber liegende, supranationale Ebene (mit ihrer grenzüberschreitenden Diffusion von Ausbildungsstandards, Nachrichtenwerten, Informationsströmen) sowie die darunterliegende Medienorganisations- und Mediensektorebene (mit ihren konvergierenden technologischen und ökonomischen Bedingungen). Hebt man die Beschränkung auf die westliche Hemi-sphäre

Herausforderung: global gültige Erklärungen und Modelle

auf und blickt auf den Journalismus verschiedener Kontinente, zeigen sich weltweit fundamentale Unterschiede, an deren Erklärung die Forschung noch arbeitet (vgl. Weaver 1998; Hanitzsch/Seethaler 2009).

|41◄ ►42|

9.2 Mediensysteme im Vergleich

Einen anderen Blick auf Journalismussysteme bietet Mancini (2005). Er ist weniger an aktuellen Befunden interessiert, sondern macht

Erklärungen für Mediensystemunterschiede setzen historischinstitutionell an

historische Ursprünge für die Ausprägung von Mediensystemen verantwortlich. Ihm zufolge haben sich europäische Medien in grösserer Nähe zur Politik entwickelt–und sich häufig auch stärker mit politischen Interessen identifiziert. Dies habe eine grössere Parteilichkeit der Berichterstattung begünstigt. Dagegen hätten amerikanische Medien seit ihren Anfängen weniger starke Verbindungen zur Politik unterhalten und sich eher kommerziell auf ein Massenpublikum ausgerichtet. In den früh entwickelten angloamerikanischen Massenzeitungen sei Politik–wenn sie überhaupt vorkam–eher neutral dargestellt worden, um potenzielle Leser nicht vor den Kopf zu stossen. Neben Politiknähe und Parteilichkeit zeichneten sich die Ursprünge des europäischen Journalismus ausserdem durch eine Nähe zur Literatur aus, was einen anspruchsvolleren Schreibstil mit einem Hang zu Interpretation, Analyse, Belehrung, Aufklärung und Kommentierung begünstigt habe–Publizisten hätten sich als Teil der intellektuellen Elite gesehen. Dagegen habe das angelsächsische Journalismusideal andere Wurzeln: unelitärer, vermittelnder, faktenzentrierter, newsorientierter. Für den eher politiknahen, parteilichen, interpretierenden Journalismus in Europa gebe es schliesslich noch einen letzten Grund, nämlich die grössere Involviertheit des Staates. Der sich in die Presse- und Rundfunkordnung einmischende Staat, der entweder wohlfahrtsstaatlich reguliert oder die Medien für eigene Zwecke instrumentalisiert, hat in Europa lange Tradition. Dies sei in den USA ganz anders verlaufen, wo der Markt anstatt des Staates herrsche. Daher hätten sich dort ein staatlich geschützter öffentlicher Rundfunk, staatliche Pressesubventionen oder eine ausdifferenzierte Mediengesetzgebung nicht recht entwickeln können. Mancini anerkennt, dass es sowohl im Kreise der angelsächsischen wie der kontinentaleuropäischen Systeme gravierende Unterschiede zwischen den Einzelländern|42◄ ►43| gibt. Daher ist von der Existenz mehrerer Mediensystemtypen im Westen auszugehen.

Forschungsinteresse: Zentrale Vergleichsdimensionen bestimmen, die die Unterscheidung verschiedener Mediensystemmodelle erlauben

Eine solche theoriegeleitete Unterscheidung westlicher Mediensysteme entwickelte Mancini mit seinem amerikanischen Kollegen Hallin (Hallin/Mancini 2004). Ihre Typologie unterscheidet Mediensysteme nach vier Einflussfaktoren: (1) Kommerzialisierung: Gab es eine starke Entwicklung zur massenorientierten, auflagenstarken Presse, oder blieb die Presse eher elitenorientiert und damit auflagenschwächer? (2) Politisierung: Gibt eine starke Parallelität zwischen dem ideologischen Spektrum der Zeitungen und dem der politischen Parteien, oder gibt es diese kaum? (3) Professionalisierung: Ist der Berufsstand der Journalisten autonom, unabhängig und verfügt über eigene, von der Politik klar abgrenzbare Standards, oder ist er nur schwach institutionalisiert und von Politikern leicht instrumentalisierbar? (4) Staatsinterventionismus: Ist es eher der Staat oder der Markt, welcher als Ermöglicher und Regler der Medienordnung auftritt? Mittels dieser vier Erklärfaktoren

Hallin und Mancini identifizierten drei westliche Mediensystemtypen, die durch eine Reihe von „medienbezogenen” Erklärungsfaktoren bestimmt werden (Abbildung 3), sowie …

unterscheiden die Autoren drei Mediensysteme im westlichen Raum: das polarisiert-pluralistische, demokratisch-korporatistische sowie das liberale Modell (vgl. Abbildung 3; siehe auch den Beitrag Mediensysteme–Medienorganisationen, i. d. B.).

Die drei Modelle–und ihre Bezeichnungen–basieren auf einer Reihe von Variablen des politischen Systems, welche auf die Ausformung des Mediensystems Einfluss nehmen. Aufgrund der engen Verschränkung von Politik- und Mediensystem in sämtlichen Gesellschaften nennen Hallin/Mancini (2004) ihre Typen auch „models of media and politics“. Neben den in Abbildung 3 genannten medialen Erklärfaktoren unterscheiden Hallin/Mancini (2004) weiterhin fünf politische Erklärfaktoren, die gleichermassen bedeutend zur Bestimmung der verschiedenen „models of media and politics“ sind, hier aber nur kurz genannt werden können: (1) frühe oder späte Demokratisierung,