GEGEN UNENDLICH 16

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Der Kapitän trat durch die Tür.

Es fühlte sich an, wie durch eine Nebelwand zu treten. Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich im Inneren des Gebäudes. Es roch nach dem Staub von Jahrhunderten. Durch ein hohes Fenster am anderen Ende konnte man das Firmament mit den unzähligen Sternen sehen. Unter dem Fenster stand ein kantiges Bücherpult, links und rechts von zwei leuchtenden Kugeln eingerahmt, die auf kleinen Säulen saßen. Sie spendeten ein kaltes, bläuliches Licht. Der Kapitän hörte, wie Aline in den Raum schlüpfte, erschrocken nach Luft schnappend. Die alte Frau achtete nicht auf das Mädchen und fixierte das große, durchscheinende Buch auf dem Pult. Der Schmerz flackerte in ihrem Unterleib, so rot glühend und scharf, dass es ihr den Atem nahm. Mit klopfenden Herzen schleppte die alte Frau sich weiter.

Die Innenwände bestanden aus einer schwarzen, glatten Steinschicht, die das wenige Licht im Gebäude verschluckte, sodass die Ausmaße des Raumes verschwammen.

»Ich wandle durch die sternenlose Schwärze«, murmelte der Kapitän.

Sie bemerkte, dass Aline sie fragend ansah, doch sie hielt den Blick auf das Objekt am anderen Ende des Raums geheftet. Die Schritte auf dem bloßen Steinboden hallten leise wieder.

Vor dem steinernen Buchständer blieb sie stehen. Obwohl alles in ihr danach rief, in das Buch aus Glas zu schauen, irrte ihr Blick über die Ränder des Buchständers, der aus dem grauen Gestein der Außenwand bestand und nach Alter und Staub roch. Aus der Nähe wirkte die Steinoberfläche porös, wie die verkraterte Oberfläche eines Mondes.

Ihr Gesicht, von dem sie wusste, dass es keine Regung zeigte, war hart wie das Material um sie herum, aber ihre Augen brannten. Seit Jahren vermochte sie nicht mehr zu schlafen, und sobald sie doch einmal die Augen schloss, waren dort nur Träume zu finden. Bilder, aus lang vergangenen Zeiten, ihrer nordenglischen Heimat, ihres Dorfes, die ihre Ruhephasen durchfurchten wie ein Pflug den Acker. Obwohl sie so weit gekommen war und ein Leben zwischen den Sternen gelebt hatte, kehrten sie während des Schlafes immer wieder in ihre Kindheit zurück. Längst vergessene Details wurden lebendig, als wäre sie erst gestern aufgebrochen. Ihr altes Gehirn ließ sie durch Wälder streifen und Gänseblümchen pflücken, ein junges Mädchen, das sich nie davor gefürchtet hatte, sich zu verlaufen. Und erst das Wecksignal holte sie zurück in die kleine Koje zwischen den kahlen Wänden der Ikarus.

Der Kapitän beugte sich über das Buch und schlug es auf.

Es war immer so: Keiner wusste, was ihn erwartete, wenn er in das Gläserne Buch blickte. Jeder sah etwas anderes, und doch war niemand von seinem Inhalt überrascht. Und so war es auch bei ihr.

Vor ihr erstreckte sich das endlose All und instinktiv stützte sie sich auf dem Buchständer ab, um nicht kopfüber zwischen die Sterne zu fallen. Es war, als hätte man ein Fenster ins Universum geschlagen, das sich unter ihr auftat. Sie stöhnte erschrocken auf, Schwindel erfasste sie und es gelang ihr nur mit Mühe, auf den Füßen zu bleiben. Sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden, während die Sterne sich vor ihren Augen zu bewegen begannen. Sie umklammerte das steinerne Bücherpult so fest, dass sie das Gefühl in ihren Händen verlor. Sie erkannte die Sterne, die ihre noch jungen Augen gesehen hatten, als sie als Offiziersanwärterin auf ihrem ersten Flug von der Erde aufgebrochen war. Ein Eindruck, der sich ihr für immer eingebrannt hatte. Planeten und Sternenbilder zogen vorbei wie die Jahre, die sie zwischen ihnen verbracht hatte, eine lange Zeit für einen Menschen, aber nicht einmal ein Wimpernschlag für die Unendlichkeit. Die alte Frau lächelte, während die vertrauten Bilder an ihr vorüberzogen. Wie im Schnellraffer sah sie ihre Reisen an sich vorüberziehen, und sie lächelte noch immer, als die Sterne ihren Zeitlauf überschritten und in die Zukunft hinforteilten. Der Zeitpunkt kam, an dem ihr irdisches Dasein endete und die Ewigkeit begann. Das Ende ihrer Reise. Aufmerksam sah sie hin, bevor sie sich langsam aufrichtete.

Sie war ein wenig zitterig, aber sie hatte genug Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten, und das Alter hatte sie gelehrt, Unvermeidliches auszuhalten. Aline griff nach ihrer Hand und die menschliche Berührung überraschte sie. Wie lange war es her, dass jemand ihre Hand genommen hatte? Ein wenig unbeholfen tätschelte sie die glatte Haut des Mädchens. Langsam, und ohne ein Wort, kehrte sie zum Eingang zurück. Die Tür stand nun offen und ließ die öde Steinwüste erkennen.

Erst als sie gemeinsam vor das heilige Gebäude traten, fand der Kapitän die Worte wieder.

»Du bist nicht zufällig an Bord gekommen, weißt du«, sagte sie unter dem gigantischen Sternenhimmel zu dem Mädchen. »Ich war ungefähr so alt wie du, als ich mit meiner Ausbildung begann.« Der Kapitän machte eine Pause und musterte die Sternenkonstellation, stockte für einen Augenblick. »Manchmal ist es ein Schiff, das sich seine Menschen wählt.«

Aline sah sie fragend an.

»Ich glaube, du würdest gut an Bord der Ikarus passen. Sie hat noch die eine oder andere Reise vor sich und die Mannschaft könnte etwas Nachwuchs gebrauchen.« Der Kapitän lachte ein heiseres Altfrauenlachen. »Wir sind alle nicht mehr die Jüngsten.«

Aline wirkte überrascht und sah eine Weile zu dem entfernten Raumschiff hinüber, dessen Schatten in der Ferne nur zu erahnen war. Dann nahm sie das kleine Büchlein zur Hand und schrieb etwas hinein.

»Meine Eltern sind tot«, las der Kapitän.

Alines Finger, die das Heft hielten, zitterten.

»Wenn du an Bord eines Raumschiffes dienst«, sagte sie zu dem Mädchen, »bekommst du eine neue Familie. Sie werden auf dich aufpassen und sich um dich kümmern. Es ist leichter, an Bord zu sein, wenn du keine Familie zurücklässt!«

Der Kapitän aktivierte mit einem Sprachbefehl ein holografisches Terminal, das blauschimmernd zwischen ihnen auftauchte, und sendete eine kurze Nachricht an ihren Stellvertreter an Bord.

»Bereitet alles für unser neues Crewmitglied vor«, sagte sie. »Schaut, was sie kann, und bildet sie aus. Sie heißt Aline.«

»Verstanden, Kapitän«, antwortete Marl.

»Nachdem das erledigt ist, sollten wir …«

Aline zupfte energisch an ihrem Ärmel und zeigte auf sie.

»Was meinst du, Kleines?«

Aline kritzelte einige Wörter in das Büchlein und hielt es der alten Frau entgegen.

»Was ist mit dir?«, las der Kapitän. »Wie ich schon sagte, das ist meine letzte Reise! Komm mit!«

Die unweit des Heiligtums in den Felshang führende Höhle war kaum mehr als ein schmaler Gang, der sich erst nach ein paar Schritten weitete. Einige Seitengänge führten tiefer in den Felsen, von dem der Kapitän nicht sagen konnte, ob sie natürlichen Ursprungs waren oder über Jahre mühevoll in den Stein gehauen worden waren. In regelmäßigen Abständen befanden sich Behältnisse mit leuchtenden Steinen an den Wänden, die die Umgebung notdürftig erleuchteten. Der Gang endete in einer kleinen Kammer.

Der namenlose Mönch kniete vor einem verblichenen Gemälde, das im flackernden Licht einer Feuerschale golden glänzte. Drei Skelette standen neben ihm und musterten sie mit ihren dunklen Augenhöhlen. Der ganze Raum roch nach Weihrauch.

Der Kapitän erkannte, dass der Mönch ein- und dasselbe Wort immer und immer wieder wiederholte, eine endlose Litanei gemurmelter Silben, die zu einem monotonen Singsang verschmolzen. Bei jedem Ausatmen sprach er das Wort ohne hörbare Gefühlsregung, fast wie ein Hauchen, ohne besondere Betonung. Aber so sehr sich die alte Frau auch bemühte, sie konnte nicht verstehen, um welches Wort es sich handelte. Durch die beständige Wiederholung schien es von Schatten umgeben zu sein, als wäre es von einer übergroßen Deutlichkeit verhüllt.

Nach einer Weile verstummte der Mönch und drehte sich zu ihnen um. Außer dem leisen Flackern des Feuers war nicht das geringste Geräusch zu hören. Der Mönch nahm seine Kapuze ab und winkte Aline zu sich heran.

»Geh, mein Kind«, sagte die alte Frau leise.

Zögerlich ging Aline zu dem knienden Mann hinüber und ließ sich vor ihm nieder. Das schmale Gesicht des Mannes mit den schwarzen Augen wandte sich dem Mädchen ruhig zu. Aline blieb regungslos hocken und für eine Weile rührte sich keiner von beiden. Dann nahm der Mönch ihre beiden Hände in die seinen, beugte sich vor und flüsterte ihr ein Wort ins Ohr.

Das Mädchen schloss die Augen, als würde es in sich hineinlauschen.

Eine Weile passierte nichts.

Der Kapitän warf einen Blick zu dem alten Bild an der Wand, dessen Motiv er immer noch nicht erkennen konnte. Die Farben waren so ausgeblichen, dass man das Motiv erst erkennen konnte, wenn man nahe vor der Leinwand stand. Der Kapitän sah, dass das Bild eine Sternenkonstellation zeigte. Dieselbe Sternenkonstellation, erkannte sie, die ihr das gläserne Buch am Schluss gezeigt hatte.

Eine Weile stand die alte Frau da und betrachtete das Bild. Sie hatte lange genug in die Sterne geblickt, um bemerkt zu haben, dass die Sterne über diesem kleinen Gesteinsbrocken dieser Konstellation entsprachen. Alles war so klar, aber der letzte Schritt erforderte häufig die größte Anstrengung.

Ein Aufkeuchen riss sie aus ihren Gedanken. Aline lag auf dem Rücken und atmete schwer. Der Kapitän trat auf das Mädchen zu, aber der Mönch hob seine Hand. Ein Zittern durchlief den dünnen Körper. Das Gesicht, umrahmt von dem tiefschwarzen Haar, war kalkweiß.

»Was ist mir ihr?«, fragte der Kapitän.

Auf dem bleichen Gesicht des Mädchens lag ein Ausdruck des Schreckens, zwischen ihren zusammengepressten Lippen ragte der Stängel einer Rose hervor. Der Kapitän starrte auf den grünen, dornigen Stiel mit den tiefroten Blütenblättern, der Aline den Mund verschloss. Es war die eine Geschichte, von der sie noch immer träumte. Die erste, die ihr ihre Mutter erzählt hatte.

 

Wir sehen das, dachte sie, was in uns ist. Was für ein merkwürdiger Ort!

Bis heute gab es Menschen in den abgelegenen Ortschaften ihrer Heimat, die auf die Rückkehr des Rabenkönigs warteten. Die dem Glauben ihrer Vorfahren treu geblieben waren.

Die alte Frau kniete sich neben das Mädchen, das mit schreckgeweiteten Augen ihren Blick suchte. Die Rose, die den Mund verschloss. Das Zeichen des Paktes.

Der Mönch blickte sie erwartungsvoll an. In seinen dunklen Augen sah sie ihr nahes Ende.

Es überraschte sie, dass es so enden sollte. Mit diesem Symbol aus ihrer Kindheit. Einer alten Legende, an der sie ihr halbes Leben nicht mehr gedacht hatte.

»Hab keine Angst!«, sagte sie zu dem Mädchen.

Jeder sieht nur das, was er kennt … In ihrem langen Leben hatte sie Leben entstehen und Leben enden sehen. Im großen Ganzen der Schöpfung spielte es keine Rolle. Aber das menschliche Herz sehnte sich nach Bedeutung, nach etwas, das blieb.

»Kann ich hierbleiben?«, fragte sie den Mönch. »Wenn alles vorbei ist …«

Er neigte seinen kahlen Kopf.

Die Vorstellung, für ewig unter diesem Sternenhimmel zu liegen, erleichterte sie.

Langsam beugte sie sich nach vorne und hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. Ihre Finger fanden die Rose.

»Zu den Sternen, mein Kind …!«

Sie nahm die Rose von den Lippen des Mädchens.

Aline keuchte auf, schnappte mit weitaufgerissenem Mund nach Luft. Der Kapitän hielt die Rose in beiden Händen. Sie brannte auf der Haut, als wäre sie ein Eiszapfen. Im nächsten Augenblick kam der Boden auf sie zu.

Langsam atmete der Kapitän aus. Ihre alten Augen richteten sich zu der hohen Decke, über der sich das letzte Sternenbild ihrer sterblichen Existenz befand, weit aufgespannt in all seiner Pracht, in all seiner Dauer, die in menschlichen Maßstäben nicht zu messen war. Jemand beugte sich über sie und das Gesicht Alines sah auf sie herab. Sie hatte Tränen in den Augen.

Der Torheit der Menschen, dachte die alte Frau ohne Trauer, da aller Schmerz von ihr abfiel.

Das Licht nahm um sie herum ab, und sie hatte Mühe, Aline zu erkennen. Ihr Kopf fühlte sich so lebendig wie nie zuvor, aber ihr Körper stellte nach und nach seine Funktionen ein. Wie ein Baum, dachte sie, der kurz bevor er stirbt noch einmal austreibt.

»Ich wollte doch nur meine Eltern wiedersehen«, flüsterte Aline.

Die alte Frau wollte etwas sagen, aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Die älteste Vereinbarung von allen. Ein Ende für einen Anfang.

Mühsam öffnete sie ihre Hände, aber sie waren leer.

Langsam fuhr sie mit den Fingern durch das Gras und pflückte ein Gänseblümchen ab, die einfachste unter den Blumen des Waldes, aber wie ein ganzes Universum voller Wunder in der Hand.

Lukas Vering: 137

Von unserem schmalen Balkon aus wirkt unsere neue Stadt wie ein Labyrinth zum Ausmalen. Solche, die auf den Rückseiten von Müslischachteln abgedruckt sind. Oder auf den Papierunterlagen von Fast-Food-Läden. Doch würde ich einen Stift nehmen und einen Weg durch den Irrgarten zeichnen, würde ich immer nur in Sackgassen enden. Da müssen Abbiegungen und Auswege sein, die ich in der vagen Beleuchtung einfach nicht sehen kann. Das bisschen Licht, das einen Weg durch die dichten, staubfarbenen Wolken findet, bleibt irgendwo in den obersten Stockwerken der hohen Gebäude hängen. Hier unten bleibt uns dann nichts als das gelbe Schimmern der Straßenlaternen und das blaue Flickern der Computerbildschirme.

Hinter mir dringen lauter werdende Stimmen durch die dünne Balkontür. Sie streiten wieder. Über Dinge, die sie nicht mehr ändern können. Die sie niemals hätten ändern können. Die sich niemals ändern werden. Sie sind wie eingesperrte Wildkatzen, immerzu laufen sie auf und ab in ihrem kleinen, engen Käfig aus Plastik, bis sie die Geduld verlieren und aufeinander los gehen. Dann werden ihre Worte zu krallenbesetzten Pranken, die verletzen wollen. Ich habe schnell gelernt, nicht zwischen ihre Fronten zu geraten. So wird man nicht verletzt, wenn Wut und Verzweiflung aus Eltern Wildkatzen machen. Aber Wildkatzen, hat Mutter schon so oft gesagt, sind ausgestorbene Wesen. Sie weiß, dass Gleiches in unserer neuen Stadt schon bald auch für Eltern gilt.

Ich kenne einen Trick, um aus dem Kreuzfeuer zu fliehen. Ich muss mich nur über das Geländer schwingen, die Füße ins Leere baumeln lassen, bis sie den unter uns liegenden Balkon finden und dann loslassen. Nach vier Balkonen erreicht man ein Flachdach, von dem aus eine Feuerleiter bis hinab in eine enge Gasse auf der Straßenebene führt. Die Plastikwände der Wohnblöcke sind in der Gasse so nah, dass ich die Arme nicht ausstrecken kann. Schaut man von hier nach oben, sieht man nur Wände, Brücken, Kanten und Ecken. Alles aus dem gleichen, farblosen Plastik gegossen, dass sie aus den vergifteten Meeren gefischt und mit hierher gebracht haben. Irgendwo dazwischen erhascht man mit viel Glück einen Fetzen Himmel. Orange, beige, staubig, blass, aber gefüllt mit einer Idee von weit entferntem Sonnenlicht. Wenn man das Gesicht in Richtung so eines Fetzens streckt und die Augen schließt, könnte man beinah glauben, so etwas wie Wärme auf seiner Haut zu spüren. Aber viel davon dringt nicht durch die Plastikglocke, die unsere neue Stadt umgibt. In den Pflichtlektüren unserer neuen Schule habe ich gelesen, dass die Glocke uns vor Staub, Wind und Strahlung schützt. Und dass sie derzeit immer noch daran arbeiten, dass die kleinen Partikel im Material der Glocke einen strahlend blauen Himmel simulieren. Vielleicht, wenn es soweit ist, könnten sie dann auch ein bisschen Wärme vortäuschen.

Ich verlasse die Gasse und betrete die Straße. Sie ist nicht viel breiter, nur ein Gehweg. Die wirklich breiten Straßen, auf denen die Tube verkehrt, sind die einzigen Schneisen, die sich durch die dichte Stadt fräsen. Alles andere sind nur Risse. Ich lasse meinen Blick wieder nach oben wandern, versuche von hier aus den Balkon zu erkennen, von dem ich gerade geflohen bin, doch es ist unmöglich, den richtigen zwischen den Abertausenden von baugleichen Balkonen auszumachen. Alle haben das gleiche schwarze Plastikgeländer, den gleichen halben Meter bis zur Tür aus durchsichtigem Hartplastik und das gleiche viereckige Fenster daneben. Reihen über Reihen über Reihen davon schichten sich aufeinander, nebeneinander, ineinander. In irgendeiner dieser engen Plastikschachteln streiten meine Eltern und bemerken nicht, wie ich verschwinde. Wie ich immer weiter verschwinde.

Nach der Flucht war alles anders. Es gab keine andere Wahl, sagt Vater immer. Wir haben zurückgelassen, geopfert und aufgegeben. Alles, was wir einmal waren, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung. Das große Haus, das viele Geld, das schnelle Auto, der Platz an der Sonne. Jetzt gibt es nichts mehr zu wählen, sagt Mutter dann immer.

Ich tauche in das Licht einer Straßenlaterne ein. Es ist kalt und steril, gefühlloses LED. Für einen Moment bin ich strahlend gelb, dann wechsle ich wieder in die trübe Dunkelheit, die hier unten regiert. Andere Menschen kommen mir entgegen, ihre Gesichter kann ich nur in den flüchtigen Momenten erkennen, in denen sie selber durch einen Laternenkegel streifen. Sie sind blass und schmallippig, genau wie ich. Verlorene Raubtiere in einem Urwald aus Schatten. Ich frage mich, welche Sprache sie sprechen.

Der Gehweg mündet in einer breiteren Straße, über deren Mitte eine Schiene verläuft. Darauf gleitet die Tube geräuschlos durch die Innereien der Stadt, windet sich einen Weg über den Bodensatz dieser riesigen, in Plastik verschweißten Blase. Ich schaue nach links und rechts, doch kann nirgendwo eine herannahende Tube erspähen. Ich nutze den Moment, stelle mich auf die Mitte der Straße und schaue aufwärts. Von der Mitte dieser breiten Schneise hat man den besten Blick nach oben. Ich erspähe mehr himmelfarbige Flecken, als ich zählen kann. Von hier aus fällt es mir fast leicht, mir vorzustellen, den ganzen weiten Horizont zu überblicken, über alle Dächer hinweg, bis zu der Linie, die Land und Himmel trennt. Wie wäre es wohl, über diese magische Linie zu treten? Ich würde meine eigene Rakete bauen, die mich vom Land in den Himmel trägt und weit, weit fort von hier bringt. Weg von den beengenden Gassen, den schwindelerregend hohen Häusern, den endlos übereinandergeschichteten Schachtelwohnungen, den nimmersatten Schatten. Weg von den zahllosen Ebenen der Stadt, von denen ich die unterste behause. Doch egal wie sehr ich die Himmelfetzen in meiner Fantasie zusammenflicke, es wird doch keine Decke daraus. Also schaue ich nur verzweifelt auf die Brücken, die sich zwischen den höchsten Häusern spannen, und auf die stummen Fassaden, die mir den Blick verbauen. Ob die Menschen, die dort oben leben, wohl den Horizont sehen? Sie haben schließlich genug dafür bezahlt.

Jemand ruft. Ich verstehe nicht was, aber ich verstehe den Tonfall. Hastig löse ich den Blick von der fremden Welt über mir und erkenne sofort die Tube, die auf mich zu rast. Eine längliche, durchsichtige Röhre, zwei Scheinwerfer fräsen sich vor ihr durch die Dunkelheit, in ihrem Bauch sitzen und stehen Körper ohne Ausdruck. Sie ist noch weit genug entfernt. Ich muss nur zur Seite treten, in die nächste Gasse verschwinden, mich von den Schatten verschlucken lassen.

Ich kenne einen Ort, den es nicht geben sollte. Ich habe ihn auf einem meiner Streifzüge entdeckt. Sicher war es ein Fehler im Bauplan unserer neuen Stadt. Vielleicht aber auch eine Falle. Für neugierige Wesen wie mich. Es ist ein Aufzug. Nicht einer von denen, die von einem Stockwerk im Wohnkomplex ins nächste fahren. Und auch nicht einer von denen, die von der Straßenebene auf die höherliegende Ladenzeile steigen. Dieser Aufzug schraubt sich durch eines der großen Gebäude, der wirklich großen Gebäude. Unsere neue Stadt ist nicht nur die zwielichtige Welt hier unten auf der Straßenebene. Weit über uns, dort wo die ersten Brücken ein neues Netz aus Gehwegen spannen, leben jene, die mit volleren Händen als wir auf die Flucht gingen. Und noch weiter oben, weit, weit oben, wo die Dächer der Häuser schon fast an der Plastikglocke kratzen, leben jene, deren Gnade wir es zu verdanken haben, dass es überhaupt eine Flucht gab. Man erzählt sich, dass sie dort in riesigen Wohnungen leben, auf den Dächern grüne Gärten angebaut haben, das Sonnenlicht durch ihre Fenster flutet. Von hier unten kann ich nur schweigende Fronten und schwebende Schienen erkennen. Lautlos schieben sich die Tuben dort oben am Himmel von einem Gebäude zum nächsten. Manchmal, an Tagen, an denen sich die staubige Wolkendecke etwas lockert, glaube ich sogar Fußsohlen durch den transparenten Tubenboden erkennen zu können.

Die Tür zu dem Aufzug liegt in einem Hof. Diese runde Aussparung im Häuserdickicht ist in das tiefrote Licht einer surrenden Lampe getaucht, die gleich über der Tür zum Fahrstuhl hängt. Als ich den Hof das erste Mal fand, während ich mich mit Absicht in den Wirrungen des Labyrinths verlor, fühlte ich mich ganz unreal im rubinroten Licht. Es malte mich in einer Farbe an, die nicht mir zu gehören schien. Ich entdeckte die Tür, weil zwischen ihren beiden Flügeln ein heller Schlitz leuchtete. Ich zog sie auf, betrat das überraschend geräumige Innere und fand einen Knopf mit der unglaublichen Zahl 137. Damals wagte ich nicht, ihn zu drücken.

Jetzt presse ich meinen Finger energisch auf die 137. Im Inneren des Fahrstuhls schiebt sich eine Tür vor meinen Ausgang, der letzte Schimmer des roten Lichts verschwindet. Ich halte den Atem an. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Lastenaufzug handeln muss. Wer weiß, was die von da oben zu uns herunter transportieren müssen. Was sie loswerden müssen. Ich bin auch zu dem Schluss gekommen, dass sie wohl kaum die Türen eines Lastenaufzuges überwachen werden. Und selbst wenn, werden sie wohl kaum ein Kind aus dem hundertsiebenunddreißigsten Stockwerk werfen. Keine Zeit zum Zweifeln. Der Fahrstuhl fährt bereits. Ich spüre, wie Stockwerk nach Stockwerk an mir vorüberzieht. Ein Kribbeln steigt in meine Finger. Meine Füße fühlen sich schwer wie Stein an, mein Herz leicht wie Sand. Die Gedanken an meine Wehrlosigkeit verfliegen. Auf einem Display steigen die Zahlen immer höher. Plötzlich flutet gleißendes Licht den Fahrstuhl. Erschrocken reiße ich die Hände vor das Gesicht. Die Aufzugkabine ist in Wirklichkeit ein Glaskasten, der nun von einem dunklen in einen transparenten Schacht gewechselt hat. Tageslicht flutet ohne Gnade vor meinen lichtentwöhnten Augen auf mich ein. Fassungslos trete ich an die durchsichtige Wand heran und schaue hinaus in die Stadt, die klein und verschlungen und zerfressen von Schatten unter mir liegt. Kein Wunder, dass niemals jemand von hier oben zu uns herunterkommt.

 

Ich hebe den Blick, löse ihn vom schrumpfenden Labyrinth unter meinen Füßen. Ich sehe rechteckige Hochhäuser mit schimmernden Fassaden, an denen ich vorbeiziehe, bis ich auf ihre flachen Dächer schauen kann. Ich sehe keine grünen Gärten darauf, aber riesige Satellitenschüsseln. Suchen sie Kontakt? In einiger Ferne erkenne ich das Gerüst einer Druckmaschine. Vermutlich thront sie auf einem niedrigeren Gebäude und sprüht gerade Schicht für Schicht heißes Plastik aufeinander, bis daraus ein neues Dutzend Schachtelwohnungen entsteht. Dann schichtet sie eine Handvoll geräumiger Wohnungen für die oberen Etagen darauf, und wer weiß, was zu guter Letzt als krönender Abschluss folgt. Vielleicht sind wir getrennt durch Ebenen und Stockwerke, doch das Plastik aus den Druckmaschinen macht uns alle gleich. Es war das einzige Material, dass wir auf die große Flucht mitnehmen konnten. Viel hat nicht auf unsere Schiffe gepasst, die in die schwärzeste See stachen, um unserer brennenden Heimat zu entfliehen. Noch nicht einmal Mitleid für jene, die wir zurückgelassen haben, in dem Chaos, das wir durch unsere Gier und Selbstsucht entzündet haben. Wir ließen sie glauben, sie könnten die Welt mit Bio-Siegeln, Fair-Trade-Kaffee und ein bisschen Klimaschutz retten, dabei war der Untergang längst unabwendbar und unsere Flucht lange geplant. Es gab keine andere Wahl, sagt Vater immer, verzweifelt und geschlagen vor Schuld. Jetzt gibt es nichts mehr zu wählen, sagt Mutter dann immer, ernüchtert und ausgebrannt von der Erkenntnis, dass sie jetzt zu denen gehört, die man einmal zurücklassen wird.

In weiter Ferne, hinter den riesigen Pumpen der Druckmaschine und den letzten Hochhausfassaden, erkenne ich das vage Schimmern der Glocke, die dort als Wand in die Vertikale steigt. Mein Blick wandert an ihr empor, bis sie sich wie ein Himmel aus Plastik über die Dächer unserer neuen Stadt spannt. Hinter ihr, in noch weiterer Ferne, nach einer Wüste aus rotem Staub und Fels, sehe ich eine weitere Glocke. Und bevor ich die Linie ausmachen kann, die Land und Himmel trennt, noch eine dritte und eine vierte Stadt unter ihrer eigenen Plastikglocke. Geschützt vor Staub, Wind und Strahlung. Und der atemlosen Luft unseres neuen Planeten.

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