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‚Beschäftigung‘ und die unabdingbaren Notwendigkeiten zu ihrer Sicherung

Die Daueraufgabe der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, im Kampf um ‚Gute Arbeit‘ den Angriffen der Arbeitgeberseite korrigierend hinterherzulaufen, schließt die bange Frage nach dem „Ob“ bzw. „Wie viel“ der Beschäftigung, eben der Gelegenheiten zum Arbeiten, das da gut werden soll, allemal ein. Seit geraumer Zeit ist diese Reflexion auf die unverzichtbare Bedingung des gewerkschaftlich organisierten Interesses – dass es die Arbeitsmöglichkeiten überhaupt gibt, auf deren Ausgestaltung sich dieses Interesse richtet – zur Richtschnur seiner Verfolgung geworden, und moderne Gewerkschaften kümmern sich um ‚Beschäftigungssicherung‘: Die Arbeitsplätze, die die Voraussetzung und Bezugsgröße des Kampfes um ‚Gute Arbeit‘ bilden, sind heutzutage dermaßen prekäre Existenzen, dass die Arbeitervertretung eigentlich immer gerade damit befasst ist, sie entweder vor übermäßigem Abbau zu schützen, sie in ihrem Bestand zu erhalten oder sich im besten Fall für ihren Aufbau einzusetzen. Das ist keine leichte Aufgabe, weil dafür erstens nun einmal die Arbeitgeber zuständig sind und sich deren namengebende Tätigkeit zweitens von der Bedrohung derselben Arbeitsplätze nur schwer unterscheiden lässt. Denn wenn Unternehmensführungen Arbeitsplätze abbauen, outsourcen, ins Ausland verlagern, durch Zeitarbeiter oder Werkverträgler ersetzen oder ‚Tarifflucht‘ begehen, um aus der verbleibenden Arbeit mehr Ertrag herauszuwirtschaften, dann mag ihr unausbleiblicher Verweis auf die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit ‚im Interesse der Arbeitsplätze‘ noch so verlogen sein: an der Anerkennung dieses Kriteriums als Voraussetzung eines solidarisch zu erstreitenden guten Lebens kommt eine Gewerkschaft einfach nicht vorbei, es gilt nun einmal. ‚Beschäftigungssicherung‘ bedeutet auch auf gewerkschaftlich in der Sache nichts anderes als die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen.

Eine verantwortliche Gewerkschaft kann das freilich keinesfalls den Arbeitgebern überlassen, will sie den Betroffenen ‚unnötige Härten‘ ersparen: So viele Entlassungen, wie vorgesehen, sind bestimmt nicht nötig, mit ein bisschen kollektivem Lohnverzicht und Flexibilisierung kann man Arbeitsplätze retten, nämlich rentabler machen. Solche Zugeständnisse machen deutsche Gewerkschaften aber nur gegen das unternehmerische Garantieversprechen, dass die auf diese Weise rentabel gemachte Arbeit auch angewandt wird – was regelmäßig darauf hinausläuft, sie exakt so lange anzuwenden, wie es sich für die Firma rentiert: Erst dann schließt sie den Betrieb. Im Vergleich zu solch bitteren Pillen ist es zweifellos besser, es dazu gar nicht erst kommen zu lassen, etwa mittels Öffnungsklauseln, mit denen Unternehmer im Falle geschäftlicher Schieflagen ihre Belegschaften tarifvertragsgemäß dafür haftbar machen, dass sich ihre weitere Beschäftigung lohnt. In jedem Fall ist gewerkschaftliche Differenzierungskunst verlangt, um echte Geschäftsnotwendigkeiten, denen man Rechnung tragen muss, von bloßer Unzufriedenheit mit der Gewinnlage zu scheiden, die keine Abweichung vom Tarif rechtfertigt – eine Entscheidung, die, davon gehen am großen Ganzen orientierte Gewerkschaften aus, besser nicht dem Betriebsrat des betroffenen Unternehmens überlassen bleiben sollte, auch wenn der aus den eigenen Reihen kommt. Der ist nach langjähriger gewerkschaftlicher Erfahrung nämlich zumeist empfänglich für eine übertriebene Auslegung der Gleichung, dass gut für die Belegschaft ist, was gut für den Betrieb ist, der sich an ihren Diensten bereichert. Als gar nicht übertriebene Normalität gelten dagegen inzwischen Tarifverträge, die gleich ganz allgemein die Ausnahme der Öffnung als Regel vorsehen.

Was gut für die Beschäftigung ist, kann an der tarifvertraglichen Norm nicht spurlos vorbeigehen. Die Millionen Arbeitslosen, die bei Tarifverhandlungen immer mit am Tisch sitzen, beweisen der Gewerkschaft, dass es die wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze nicht gibt, die es bräuchte, um sie zu beschäftigen. Von daher geraten die Konkurrenzbedingungen des nationalen Standorts überhaupt in den Blick, und da entpuppen sich auch ihre eigenen Errungenschaften als Schranken des Wachstums, ohne das kein Beschäftigungszuwachs zu haben ist. Also leisten die Gewerkschaften ihren Beitrag zum deutschen Beschäftigungswunder: mit Arbeitszeitmodellen, deren Attribut ‚flexibel‘ nicht falsch zu verstehen ist; mit Tarifabschlüssen, die sich über die Jahre in Reallohnverlusten niederschlagen; mit der Fixierung von Niedriglohngruppen auch in den besseren Branchen; mit Entgeltmodellen, die die Bezahlung explizit an den Betriebserfolg koppeln. Und wenn trotz dieser zur Normalität gewordenen tarifpolitischen Errungenschaften die Anstrengungen der Unternehmen nicht nachlassen, die Arbeit ihrer Belegschaften ganz ohne gewerkschaftliche Mitbestimmung noch ertragreicher zu organisieren, dann wissen deutsche Gewerkschaften auch darauf eine Antwort: den offensiven, flexiblen Einsatz ihrer Tarifmacht. Ein Boom der Leiharbeit ist zwar ärgerlich, beschäftigt aber Millionen, für die – wenn es sie nun einmal gibt – eine fürsorgliche Gewerkschaft einfach zuständig ist. So avanciert dank gewerkschaftlicher Mitwirkung das Geschäft mit der kostensenkenden Untervermietung von Arbeitskraft aller Art zu einer eigenen ‚Zeitarbeitsbranche‘, deren Beschäftigte seit 2015 den passenden Tariflohn verdienen, mit dem sich für die Leihbetriebe die attraktiven Billiglohnangebote verfertigen lassen, die die Leiharbeitsplätze sichern.

Deutsche Gewerkschaften sind insgesamt ziemlich zufrieden mit ihren Anstrengungen, die ‚Arbeit der Zukunft‘ selbstbewusst zu gestalten. Sie gehen die Anforderungen an, die ‚Globalisierung‘ und ‚Digitalisierung‘, also die Zukunft schon heute an die Beschäftigung stellt und die sich extrem vergangenheitsorientiert auf Kostenoptimierung zwecks Gewinnmaximierung reimen. Der ohnmächtige Hebel, den die Arbeitervertretung in Sachen ‚Beschäftigungssicherung‘ zu bieten hat, nämlich die sozialfriedliche Abwicklung der nötigen Opfer der Umwälzung aller Beschäftigungsverhältnisse, fällt ganz einfach zusammen mit dem elementarsten Dienst an ihrer Klientel: dem ‚Erhalt‘ genau der Arbeitsplätze, die es jeweils gibt, und die genau so ausgestattet und ausgestaltet sind, wie es die Unternehmensrechnung gebietet. Wenn sie mit dieser Tarifpolitik nach eigener Auskunft die „Strahlkraft des Normalarbeitsverhältnisses“ sichert, „das sich durch sichere Arbeit, geschützt durch Gesetz und Tarifverträge, festes und ausreichendes Einkommen auszeichnet“, dann lebt diese Strahlkraft ganz sicher nicht von einer nüchternen Prüfung der Frage, wofür diese Einkommen ausreichen und wie sicher und fest sie der Schutz durch Gewerkschaft und Sozialstaat eigentlich macht. Strahlend ist das alles nur im Vergleich zur wachsenden Welt der ‚atypischen‘ Beschäftigung, die die Gewerkschaften heute herausfordert.

2. Der Kampf um Soziale Sicherheit

Anno 2017 erstreckt sich die tarifpolitische Zuständigkeit der deutschen Gewerkschaften nur noch auf etwas mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten. Und neben der vielbeklagten Tarifflucht, dem Dauereinsatz von Zeitarbeit, Praktika und Kettenbefristung, Minijobs und ausländischen Wanderarbeitern hebeln deutsche Unternehmen und z.T. auch öffentliche Arbeitgeber die gewerkschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten in die ‚Gestaltung der Arbeitswelt‘ darüber aus, dass sie die Arbeit gar nicht mehr von ‚abhängig Beschäftigten‘ verrichten lassen. Sie schreiben zu erledigende Tätigkeiten kreativ als ‚Werke‘ aus, um deren Vergabe sie ‚Soloselbständige‘ konkurrieren lassen; im IT-Sektor erledigen ‚Crowdworker‘ ihr ‚Clickwork‘, indem sie einander ganz selbständig im Buhlen um Aufträge unterbieten und dergleichen mehr: Arbeitsalltag für ein Prekariat, das den größten Niedriglohnsektor Europas bevölkert – und viel zu tun für eine Gewerkschaft, die ihren Anspruch auf Interessenvertretung auf alle Lohnabhängigen erstreckt.

Letztlich ist doch nur sozial, was ‚Arbeit schafft‘!

Mit dem bloßen Anspruch müssen deutsche Gewerkschaften sich auch dort nicht begnügen, wo sie über keine wirksamen Ansatzpunkte verfügen. In der deutschen sozialen Marktwirtschaft kennen sie den Staat als Ansprechpartner, der sich der Leiden der Lohnabhängigen auf seine Weise längst umfassend angenommen hat – als die ‚soziale Frage‘, die er stets im Griff haben will. Er hat dem lohnabhängigen Teil seiner Bevölkerung nicht nur die allgemeinen Bürgerrechte spendiert, sondern lauter soziale Extravorkehrungen, die die ‚sozial Schwachen‘ zum Leben unbedingt brauchen. Auf dessen Macht zur Korrektur auch der modernsten prekären Verhältnisse setzt der DGB und erteilt sich den Auftrag, die Inhaber der Staatsmacht von den vielen Korrekturnotwendigkeiten zu überzeugen. Dass die angesprochene Korrekturinstanz selbst maßgeblich an der Herbeiführung der beklagten Zustände beteiligt ist, beweist den gewerkschaftlichen Liebhabern des Sozialstaats nur umso deutlicher, wie unentbehrlich sie dafür sind, die Politiker auf den rechten Weg zurückzuführen. Und sie beweisen, wie robust diese Liebe ist, wenn sie die mit den verhassten Hartz-Gesetzen begonnenen Reformen des Sozialstaats unter den irreführenden Begriff der ‚Deregulierung‘ fassen: In den neuen Regeln des Arbeitsmarkts, die gewiss nicht weniger geworden sind darüber, dass sie so eindeutig unternehmerfreundlich ausfallen, sehen sie die Abwesenheit von Regeln; der staatliche Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen – das berühmte ‚Besitzstandsdenken‘ – wird als Unterlassung dessen gedeutet, was doch die eigentliche, schützende Aufgabe des Staates wäre, deren entschlossene Inangriffnahme die lohnabhängige Mehrheit so dringend braucht. Deswegen ist eine „Neuordnung des Arbeitsmarktes durch“ – eben – „den Gesetzgeber unerlässlich“ – und wofür? – „um unsichere Beschäftigungsverhältnisse zu begrenzen“. Das Leitmotiv: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ macht sich der DGB zwar nicht zu eigen, hinter seine brutale Wahrheit will aber auch er nicht zurück: Der Missbrauch von Zeitarbeit, Werkverträgen, Befristung und Minijobs gehört bekämpft, ihr Gebrauch geht nämlich in Ordnung, solange deutsche Unternehmen sie für ihr Wachstum brauchen und so ‚Beschäftigung sichern‘. In der Festlegung der richtigen Grenzen durch die Politik liegt das Ziel gewerkschaftlicher Lobbyarbeit, die damit genau an der richtigen Adresse ist. Denn Arbeitnehmerfreunde mögen es dem deutschen Staat zwar vorwerfen, aber so kurzsichtig, das Soziale aus dem Blick zu verlieren, gerade wenn er die Lohnzahlung auf seinem Standort ausdrücklich davon befreit, einen Lebensunterhalt gewährleisten zu sollen, ist er wirklich nicht. Es sind in der Tat seine sozialen Gesichtspunkte, auf die sich die Vertreter der Lohnarbeiterbelange berufen, um von der Politik Verbesserungen einzufordern, die oft genug nur darin bestehen, weitere Verschlechterungen zu bremsen.

 

So verweisen Gewerkschafter gerne auf die nachteilige Wirkung der ‚atypischen‘ Beschäftigungsformen nicht nur auf die Konten der Arbeiter, sondern auch auf die staatlichen Sozialkassen, die mit der klassischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Stammbelegschaften doch viel verlässlicher aufgefüllt werden. Wenn aber die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts bei realistischer Betrachtung nur mit einem gehörigen Anteil von ‚working poor‘ zu sichern ist, dann wirbt der DGB für eine Regulierung, die drohenden Folgeproblemen wie Alters- und Kinderarmut Rechnung trägt. Und wenn trotz aller guten Argumente für die Berücksichtigung der sozialen Interessen ihrer Klientel die Neuregelung der Zeitarbeit auch wieder zu wünschen übrig lässt, der Missbrauch von Werkverträgen partout nicht eingedämmt wird und Flüchtlinge integrationsförderlich zum Sonderangebot im Billiglohnbereich hergerichtet werden, dann kennen Gewerkschafter immer noch einen unschlagbaren Einwand gegen solch unsoziale Fehlgriffe: „Wir dürfen keine Standards aufgeben, weder bei den Arbeitsbedingungen noch beim Mindestlohn. Wir brauchen sie weiterhin als untere Haltelinie, um die Spaltung nicht nur des Arbeitsmarkts, sondern der Gesellschaft zu verhindern.“ Das von ihnen betreute Arbeitnehmerinteresse behandeln deutsche Gewerkschafter ziemlich schamlos als von „Haltelinien“ einzuzäunende Restgröße, für die sie als soziale Rechtsanwälte und Wortführer eines gesamtgesellschaftlichen ‚Wir‘ gegenüber dem Staat eintreten: Die Begünstigten müssen sich in ihren Umständen aufgehoben sehen und nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen! Das ist das elementare demokratisch-marktwirtschaftliche Versprechen der ‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ – so viel sozial muss sein. Dass der von der ansonsten drohenden ‚sozialen Spaltung‘ betroffene Staat dann nach seinem Kalkül verbindlich festlegt, wie viel das ist, ist im Preis einer solchen gewerkschaftlichen Interessenvertretung inbegriffen.

Nirgends zeigt sich der gewerkschaftliche Sinn für die Kalkulationen, von denen die ihrer Mitglieder abhängen, deutlicher als beim gesetzlichen Mindestlohn. Schon in der langjährigen Werbung für das Gesetz zur ‚Verhinderung von Lohnarmut‘ führt der DGB die Vorteile an für die Konjunktur, für den fairen Wettbewerb der Unternehmerschaft, für die Entlastung des Staatshaushalts etc. – so selbstverständlich gehen die gewerkschaftlichen Anwälte staatlicher Schranken der Lohndrückerei davon aus, dass das von ihnen vertretene Interesse eine abhängige Variable der maßgeblichen Interessen von Unternehmerschaft und Staat ist; und genauso selbstverständlich ist ihnen, dass die Gewerkschaft als Organisation der Arbeiterschaft den Verschlechterungen der Lebenslage der Lohnabhängigen nichts entgegenzusetzen hat, die sich in ihrem alternativlosen Bemühen um ihr individuelles Einkommen für Löhne verdingen, die keinem mehr ein Auskommen bieten. Das wird absehbar auch so bleiben, das steht für die Arbeitervertretung felsenfest, so dass eben nur der Staat da einen Boden einziehen kann. Was den arbeitnehmerfreundlichen Gehalt der gesetzlichen Regelung ausmacht, den die heutige Gewerkschaft da feiert, so hat Marx den bereits im vorletzten Jahrhundert kritisch auf den Punkt gebracht: „Zum Schutz gegen die ‚Schlange ihrer Qualen‘ müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.“ Im Vergleich zum damaligen Streit für eine gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages ist allerdings ein entscheidender gesellschaftlicher Fortschritt unverkennbar: Der moderne Sozialstaat erspart den Arbeitern und ihrer Gewerkschaft die Probe aufs Exempel, ob sie sich angesichts der ruinösen Konsequenzen ihrer eigenen Konkurrenz je wieder zusammengerottet hätten, um dem Staat ein Gesetz abzutrotzen, und spendiert ihnen nach nur zehn Jahren Überzeugungsarbeit den Mindestlohn glatt von sich aus. So viel sozialstaatliche Fürsorge gegen allen Widerstand der Unternehmerschaft bestätigt der Gewerkschaft ihr prinzipiell gutes Bild von der Republik: „Mindestlöhne schaffen würdigere Arbeitsbedingungen. Existenz sichernde Einkommen sind ein Zeichen des Respekts für getane Arbeit.“ Das ist sie also, die aktuell-zeitlose Elementarfassung des marktwirtschaftlichen Lohninteresses, für dessen Vertretung die Gewerkschaft zuständig ist und für dessen Erfüllung es der Staatsgewalt bedarf: Die materielle Wertschätzung der Arbeit muss dem Kriterium genügen, die moralische Wertschätzung zu belegen, die die Arbeit verdient.

Wie hoch der Lohn dafür sein muss, ist natürlich nicht eindeutig zu beantworten, mit dem Kriterium des gesetzlichen Existenzminimums, an dem sich der Mindestlohn, hochgerechnet auf eine Vollzeitstelle, bemisst, aber ziemlich treffend auf den Begriff gebracht. Dass er – im wohlverstandenen Interesse derjenigen, für die der Verlust eines nicht mehr rentablen Arbeitsplatzes allemal ein größeres Übel darstellt als ein Hungerlohn – nicht zu hoch sein darf, weiß auch die Gewerkschaft, deren Vertreter der Staat deswegen beruhigt in die zuständige Mindestlohnkommission berufen kann. Und die gute Nachricht lautet: Die 8,50 € haben keine Arbeitsplätze vernichtet und können getrost auf 8,84 € angehoben werden.

Dabei gilt für das Mindestlohngesetz natürlich wie für alle Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit: Bloß weil sie Gesetz sind, gelten sie nicht einfach – da kennen sich deutsche Gewerkschaften, durch 125 Jahre Erfahrung geschult, aus. Jederzeit ist damit zu rechnen, dass findige Unternehmer den Mindestlohn nur auf dem Papier bezahlen und ihre Beschäftigten falsche Stundenzettel unterschreiben, weil sie um ihren Job fürchten. Das Interesse, mit dem es die Gewerkschaften zu tun haben, ist schließlich so sehr das gesellschaftlich herrschende, dass die von ihm benötigten ‚Grauzonen‘ bisweilen ziemlich flächendeckend ausfallen. Genau diese Praktiken des Unterlaufens von Mindestlohn, Entsendegesetz etc. beweisen der Gewerkschaft umgekehrt die Notwendigkeit und Nützlichkeit der staatlichen Gewalt, also des eigenen Kampfs um ‚soziale Sicherheit‘: Sie macht sich praktisch – ob ausdrücklich berufen oder nicht – zum Anwalt von Niedriglöhnern, ausländischen Billigarbeitern und wie auch immer sonst noch Benachteiligten, denen nur mit einem kollektiven Rückhalt überhaupt zu dem Recht zu verhelfen ist, das sie als Individuen nur auf dem Papier haben. In deren Namen übernimmt sie die Rolle des Wächters über die Einhaltung der staatlichen Reglementierungen des Billiglohnsektors.

Die „Arbeitswelt von morgen“ und die Gewerkschaft schon heute: „flexibel“

Um soziale Sicherheit für alle Arbeit zu gewährleisten und speziell die der Zukunft in Richtung ‚Gute Arbeit‘ zu steuern, reicht es heute aber nicht mehr aus, auf Mindestrechten und ihrer Einhaltung zu bestehen. Denn „die Digitalisierung bedeutet einen revolutionären Umbruch – zurück zu einer Individualisierung und Vereinzelung der Arbeitnehmerschaft. Die Arbeiter von heute, das sind immer mehr Soloselbstständige, Click- und Crowdworker, oft ohne jede Rechte. Mit diesen Umwälzungen in der Arbeitswelt verändert sich auch die Rolle der Gewerkschaften. Gerade ihnen kommt eine Schlüsselfunktion bei der Gestaltung der Arbeitswelt von morgen zu.“ Um einen tieferen Einblick in die Umwälzungen zu bekommen, die „die Digitalisierung“ in Gestalt tätiger Unternehmensleitungen so mit sich bringt, erhebt die Gewerkschaft eigens Fakten zum ‚digitalen Prekariat‘ und stellt fest: Es gibt weder feste Arbeitszeiten noch Urlaubsanspruch oder Kündigungsschutz; mit bis zu 80 Stunden Arbeit 4.0 in der Woche kommt man auf durchschnittlich 1500 € im Monat, und in Bezug auf „unser Sozialversicherungssystem“ ist ein Totalausfall namens „Schutzlücke“ zu vermelden. Erwartungsgemäß herrscht auch in dieser Sphäre der Arbeitswelt alles andere als Zufriedenheit, was aber noch lange keinen Ruf nach der Gewerkschaft erschallen lässt. Dem stehen nicht nur die individualisierten Beschäftigungsformen entgegen, sondern auch die Beschäftigten selbst, die es sich als persönliche Freiheit zurechtlegen, das vorgegebene Arbeitspensum individuell um die sonstigen Notwendigkeiten des Alltags herum gruppieren zu können.

Durch diesen repräsentativen Vorgeschmack auf die „Arbeitswelt von morgen“ sehen sich die Gewerkschaften als ordnungspolitische Kraft im Land herausgefordert. Den neuen Gegebenheiten gilt es mit „anspruchsvollen neuen Formen von Regulierung“ zu begegnen, mittels derer der Staat nicht weniger als den „Arbeitnehmer-, Arbeitgeber- und Betriebsbegriff“ neu zu definieren hat – i.e. den Fortschritten der Unternehmenspraktiken anzupassen, die diese Begriffe im Sinne eines arbeitsrechts- und gewerkschaftsfreien Umgangs mit der Arbeit längst umdefiniert haben. Die Soloselbständigen müssen als moderne Ausprägung der Spezies Arbeitnehmer definiert werden, wenn das Arbeitszeitgesetz und der Kündigungsschutz überhaupt für sie gelten sollen; die Auftraggeber von zahllosen Mini-Sub-Unternehmern müssen als Arbeitgeber definiert werden, um auf Fürsorgepflichten wie Sozialversicherungsbeiträge festgelegt werden zu können; die verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse müssen als eine Sorte Betrieb definiert werden, wenn die betriebliche Mitbestimmung als Element einer wirksamen Arbeitnehmervertretung greifen soll. Kurzum: Was den Arbeitnehmern fehlt, sind die elementaren Voraussetzungen der Schutzrechte, die sie unbedingt brauchen.

Gleichzeitig fehlen der Gewerkschaft die Voraussetzungen, ihre beanspruchte Schlüsselfunktion bei der Gestaltung dieser schönen neuen Arbeitswelt auch tatsächlich ausüben zu können. Wie gut, dass der Adressat ihrer Bewerbung um diese Gestaltungsrolle ein offenes Ohr hat: Auch die Kollegin Nahles (IGM) ist schließlich schwer für den „Erhalt und Ausbau Guter Arbeit“, von der der deutsche Staat so gut lebt. Wenn sie in ihrer Funktion als Arbeitsministerin zu diesem Zweck in ihrem „Grünbuch Arbeiten 4.0“ die Frage stellt: „Wie wollen wir in Zukunft arbeiten?“ und den DGB dazu ausdrücklich konsultiert, lässt man sich dort nicht zweimal bitten: „Die Digitalisierung braucht Regeln, damit die Technik dem Menschen dient und nicht der Mensch der Technik.“ Das heißt allerdings, dass Technik und Mensch als Erstes dem Profit dienen müssen, für dessen Produktion beide überhaupt nur zum Einsatz kommen. Als selbstverständliche Bedingung der „fairen Teilhabe an den Vorteilen der Digitalisierung“ müssen die Unternehmen die Chancen voll ausnutzen können, die für sie aus einem flexibleren Einsatz der Arbeitskräfte gemäß ihren Geschäftsbedürfnissen in Produktion, Forschung und Entwicklung sowie Verwaltung entstehen. Ganz folgerichtig ist es diese und keine andere Flexibilität, aus der man beim DGB Chancen für die Beschäftigten zu verfertigen gedenkt: ein selbstbestimmter Arbeitsbeginn am Morgen, damit der Nachwuchs noch in die Kita gebracht werden kann, das Aufhäufen von unbezahlten Überstunden zu einem Sabbatical, Home-Office am Abend, wenn die Familie Ruhe gibt, und was der arbeitnehmerfreundlichen Ideen mehr sind, die sich an die Auflösung fester Arbeitszeiten knüpfen. Geradezu beispielhaft, was dem obersten Gewerkschafter unter der Rubrik „neues Verständnis der Arbeitszeit“ als gewerkschaftlicher Beitrag einfällt, um „tarifvertraglich gesichert ... mehr persönliche Wahlfreiheit“ zu schaffen: „Warum sollte es für Schichtarbeiter beispielsweise nicht auch Teilzeit geben?“ Ja, warum eigentlich nicht? Eine andere als die vorfindliche Arbeitswelt 4.0 gibt es nun einmal nicht, um in ihr den „Menschen in den Mittelpunkt“ zu stellen. Und um ihn dorthin zu stellen, um aus einem „einseitigen Instrument im Sinne der Unternehmen“ „Arbeitszeitsouveränität“ im Sinne der Beschäftigten zu machen, liegt mit der betrieblichen Mitbestimmung schon ein maßgeschneidertes Instrument vor. Mit dessen Erweiterung auf die Arbeitswelt 4.0 ist die demokratisch-selbstbestimmte Berücksichtigung der Belange der Mitbestimmenden schließlich definitionsgemäß gewährleistet und für eine moderne Arbeitervertretung das Aufgabenfeld präpariert, dessen Bewirtschaftung ein Gutteil ihrer „veränderten Rolle“ ausmacht: Wenn heutzutage die „Flexibilitätskompromisse“ nun einmal vor Ort im z.T. erst noch zu definierenden Betrieb und nach dessen Notwendigkeiten geschlossen werden, gilt es eben die Interessen der Betroffenen so zu wahren, wie sie da hineinpassen. Für die fällige gesetzliche Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung braucht es natürlich wieder gute Gründe, nämlich einen Nutzen der entscheidenden gesellschaftlichen Instanzen aus der „Innovationskraft“ ihrer Belegschaften: „Wer mitbestimmt, ernst genommen und wertgeschätzt wird, ist motiviert und nutzt mit seinen Ideen, die er in den Betrieb einbringt, auch dem Unternehmen.“ So billig, mit ideellem Lohn für ihre Beschäftigten, wäre materieller Nutzen für die deutschen Unternehmen zu haben. Falls das nicht überzeugt: Mit dem mitbestimmten, also sozialfriedlich organisierten Lohnverzicht ist Deutschland bekanntlich mit ganz vielen geretteten Arbeitsplätzen gestärkt aus der Krise gekommen!

 

In solchen Zukunftsfragen verzeichnet der DGB aktuell einige Erfolge. Die Bundesregierung hat sich sogar dem Ziel verschrieben, die Tarifbindung insgesamt wieder auszuweiten, und hat die Stärkung der ‚Sozialpartnerschaft‘ zur Zutat aller Reformen erhoben, die der deutschen Industrie den zukünftigen Erfolgsweg pflastern sollen. Dass der Staat, nach dessen Macht die Gewerkschaften so dringend rufen, für ihre Beteiligung dann auch seine Kriterien des standortpolitischen Nutzens vorgibt, ist auch hier im Preis enthalten: Noch flexiblere Anwendung der Leiharbeit als sie die gesetzliche Neuregelung ohnehin erlaubt? Können die deutschen Unternehmen haben – aber nur sozialfriedlich qua Tarifvertrag. Solche „Tarifpolitik vom Feinsten“ (Nahles) ist ein erster Schritt in Richtung der „ausgehandelten Flexibilität“, zu der auch die Abweichung vom „als starr geltenden“ Arbeitszeitgesetz gehören soll. Die politisch beförderte „Privilegierung“ der Tarifpartnerschaft ist für die Gewerkschaften um den Preis zu haben, den sie – bei aller Differenz im Detail – auch selbst im Angebot haben: ihre Beteiligung an dem großen „Flexibilitätskompromiss“, den der deutsche Standort braucht. Die Politik nötigt deutsche Gewerkschaften damit zu nichts, was ihnen fremd wäre: In ihrem unermüdlichen Dienst an den Arbeitnehmern wollen und müssen sie schließlich die Instrumente gestalten, die Beschäftigung sichern, also auch so, dass sie sie sichern – in der deutschen „Arbeitswelt von morgen“.