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Die Herausforderung der Digitalisierung

Bei allem Stolz auf das Erreichte warten Politiker neben dem Lob für die spitzenmäßigen Rationalisierungserfolge auch mit Ermahnungen auf: Der Industriestandort Deutschland dürfe sich nicht auf seinen Erfolgen ausruhen und die Herausforderung der Zukunft verschlafen, die sie ehrfürchtig „Digitalisierung“ nennen, als wäre sie ein übermächtiges anonymes Subjekt, dem „man“ nicht entkommt. Gemeint sind die großartigen Perspektiven, die die Informations- und Kommunikationstechnologie eröffnet und die so gewinnversprechend sind, dass sie todsicher geschäftlich wahrgenommen, also wahr gemacht werden. Dazu gehören nicht nur interessante neue Konsumgüter, sondern entscheidende Mittel zur Optimierung der Produktion: In und zwischen den „smart factories“ der Zukunft soll eine standardisierte Maschine-Maschine-Kommunikation die flächendeckende Automatisierung der betriebsübergreifenden Koordination und Kooperation der Produktionsprozesse ermöglichen. Deren Kontrolle und Steuerung lässt sich zunehmend Programmen übertragen; durch deren Entwicklung und mithilfe der automatisierten Auswertung der gespeicherten Datenflut aus Sensoren und Aktoren lassen sich stets neue Potenziale zur Optimierung des vernetzten Produktionsablaufs gewinnen; und am Ende wird mithilfe der kontinuierlich erhobenen Daten der industrielle wie individuelle Kunde automatisch mit den Angeboten versorgt, die seiner Bedarfslage perfekt entsprechen.

Wofür diese wunderbare Entwicklung der Produktivkräfte gut ist, ist keine Frage: Sie erlaubt die Einsparung von bezahlter Arbeit an den verschiedensten Stellen, also ihren kommerziellen Anwendern gewinnträchtige Fortschritte beim Ausschluss ihrer Belegschaften vom produzierten Reichtum – reihenweise rechnen Studien vor, in welchem Umfang „die Digitalisierung“ Arbeitsplätze und ganze traditionelle Berufszweige überflüssig zu machen beschlossen hat –, und stellt deswegen ihren Entwicklern einen weltweiten Markt in Aussicht, der den Spitzenreitern traumhafte Renditen verspricht.

Deutsche Politiker sehen diese Entwicklung als große Chance für die Behauptung und den Ausbau deutscher Technologieführerschaft, sodass sie sich gleich selbst zum Anführer der diesbezüglichen Revolution ausrufen und ihrem ganzen Industriestandort auch gegen skeptische Mittelständler ein digitalisiertes Durchrationalisierungs-Update 4.0 verpassen wollen. Politisch protegiert wird auch der Revolutionsexport durch die Maschinenbauer, auf dass denen gelinge, mit einem Quantensprung in der Rationalisierungstechnik flächendeckend bestehende Produktionsmittel tendenziell kapitalistisch unbrauchbar zu machen, was ein schönes Geschäft und ein bedeutender Fortschritt in Sachen Dominanz der industriellen „Wertschöpfung“ zu werden verspricht. Die weltweite Verbreitung der vernetzungsfähigen Maschinen mit deutschen Kommunikationsstandards ließe nicht nur allerorten die Notwendigkeit wachsen, zum Kunden der deutschen Technologieführer zu werden, sondern verbaute in gleichem Maß Anbietern mit konkurrierenden Kommunikationsstandards Absatzchancen; idealerweise erlaubt der technische Vorsprung auf diesem Gebiet – und etwas anderes als der Vorsprung interessiert die kapitalistische Welt an arbeitssparender Technik sowieso nie – die Monopolisierung der Schlüsselstelle, von der die weltweiten Produktionsanstrengungen abhängen. Daher kann der Fortschritt gar nicht rasch genug gehen.

Die digitale Technik lässt sich zweitens kapitalistisch noch in ganz anderer Hinsicht revolutionär benutzen, nämlich im Bereich der Dienstleistungen: Die Shooting Stars unter den Global Players entwickeln ausgehend von den eroberten Besitzständen im Bereich der privaten Kommunikation (Facebook), der Navigation in virtueller und realer Welt (Google), als Zentrale des Handels (Amazon) usw. usf. Technologien für die Auswertung und geschäftliche Nutzbarmachung von gesammelten Datenmengen, zentralisieren damit „den Markt“ in ihren Händen und bewirtschaften ihn nach den Maßstäben, unter denen Bedürfnisse in der Marktwirtschaft eben einzig interessieren. Die Bereiche von Marktforschung und Werbung sind bei weitem nicht das einzige Feld, auf dem sie traditionelle Geschäftsmodelle technologisch revolutionieren, ökonomisieren und effektivieren und sich so, auf Kosten etablierter Unternehmen und deren überkommener Geschäftsmodelle samt Arbeitsplätzen, für den Rest der Geschäftswelt interessant bis unentbehrlich machen; ihre Kompetenzen als führende Datenstaubsauger und -verarbeiter befähigen sie und ihresgleichen zum Vordringen in stets neue Sphären, sodass kein sachverständiger Bericht über die digitalisierte Ökonomie mehr ohne das Wort „Disruption“ auskommt. Für etablierte Industriekonzerne wird einerseits die Ausstattung ihrer Produkte mit internetbasierten Applikationen für die Marktfähigkeit unentbehrlich – selbst die Produkte führender Autofirmen werden zunehmend zu „Smartphones auf Rädern“. Andererseits wird die Nutzung der technischen Möglichkeiten für eine effektive Vernetzung mit ihren Kunden und mit ihren Geschäftspartnern zunehmend unwiderstehlich, wodurch allerdings auch die Kompetenz zur Gestaltung der Nachfrageseite auf ihrem Absatzmarkt – mit ihrer Modellpolitik, ihrer Werbung usw. – auf die neuen Organisatoren der Kundenwünsche übergeht. Sogar klassische Autohersteller haben die Notwendigkeit erkannt, sich zu „Mobilitätsdienstleistern“ weiterzuentwickeln, um nicht fremde Geschäftemacher definieren zu lassen, wie viele und welche von ihren traditionellen Produkten in einer „sharing economy“ noch nachgefragt werden.

Auch auf diesem Feld versprechen also die Vorsprünge in Sachen digitaler Vernetzung – namentlich auf dem Wege der Standardisierung von Kernbereichen wie Betriebssystemen etc. – Schlüsselelemente zu monopolisieren, um die weltweiten Wertschöpfungsketten zu dominieren. Das ist in diesem Fall, weil der diesbezügliche Fortschritt in den USA entwickelt wird, eine grauenhafte Vorstellung für die Propagandisten des digitalen Updates für den deutschen Standort – und in ihrem Gefolge für alle europäischen Moralwachteln, Datenschützer, Kulturfexe usw., die die Amerikanisierung der Kommunikations-, Einkaufs- und Datenerhebungskultur mit äußerster Skepsis, die Degeneration der hiesigen Sitten und Persönlichkeiten betreffend, sehen. So undenkbar ist es für sie, dass die weltumspannende Kooperation einem anderen Zweck dienen könnte als dem, für den sie und ihresgleichen sie politisch vorantreiben, nämlich um die damit gestifteten Abhängigkeiten unbarmherzig zum einseitigen nationalen Vorteil auszunutzen. So droht dem deutschen Standort nicht nur ein großes Geschäftsfeld der Zukunft zu entgehen, was ja schon schlimm genug ist, sondern auch, dass sein bewährtes Mittel zur Dominanz der Weltmärkte ausgehebelt wird. Denn, so die Sorge, was ist weltrekordmäßig arbeitssparende Fertigungstechnik noch wert, wenn sie zum ausführenden Organ eines fremdbestimmten Wertschöpfungsprozesses wird?! Und zu was sind Spitzenprodukte noch nutze, wenn die Welt durch ökonomischeren gemeinsamen Gebrauch ausreichend davon hat?! Die politischen Verwalter des Standorts fragen sich sogar, ob sie nicht perspektivisch ihre Handlungsfreiheit gegenüber der Macht verlieren, deren Firmen sie das Funktionieren ihres ganzen gesellschaftlichen Innenlebens verdanken. Was daraus folgen muss, ist sonnenklar: Um nicht in verhängnisvolle Abhängigkeiten verstrickt zu werden – positiv ausgedrückt: um seinerseits fremde Standorte und Souveränitäten in derart vielversprechende Abhängigkeiten verstricken zu können –, braucht es eine erfolgreiche nationale Konkurrenzoffensive zur Eroberung „digitaler Souveränität“: Alle überseeischen Standards für die „Schnittstellen“, an denen Unternehmen und individuelle Konsumenten unter- und miteinander „vernetzt“ werden, müssen politisch „offen und frei zugänglich“ für das Eindringen europäischer Konkurrenten gehalten, die Marktmacht der digitalen Vorreiterkonzerne politisch eingehegt werden, und schnellstmöglich ist mit „Wagnis-Kapital“ und einer eigenen „Start-Up-Kultur“ die Aufholjagd in Angriff zu nehmen.

Diese Offensive schließt ein Update für die Welt der Arbeit ein.

„Neue Arbeitswelten“

Wie es sich für die Einschwörung auf ein umfassendes Erneuerungsprogramm gehört, mahnen die zuständigen MinisterInnen, vor lauter Freude über die Möglichkeiten des digitalen Fortschritts die Wirkung auf die arbeitenden Menschen nicht zu vergessen – als wäre der Umgang mit diesem Kostenfaktor vergessen worden! –, und laden die sozial gesinnte Öffentlichkeit zum ergebnisoffenen, herrschaftsfreien Dialog über die rhetorische Frage ein: „Wie wollen wir arbeiten in der digitalen Welt?“ In diesem Diskurs werden die Verheißungen einer neuen Freiheit, die endlich „Zeitsouveränität“ für persönliche Lebensentwürfe wie Kinderaufzucht und Altenbetreuung und ähnliche „Potenziale für eine Humanisierung der Arbeitswelt“ verspreche – die klassische Festanstellung mit „Präsenzpflicht“ erscheint in diesem Vergleich einmal geradezu als Gängelung und Unfreiheit –, den damit einhergehenden Gefahren „ungesicherter Abhängigkeit durch digitale Selbständigkeit“, zunehmender örtlicher und zeitlicher „Entgrenzung von Arbeit und Privatleben“ usw. gegenübergestellt. Das gibt, beide „Seiten“ einmal so zusammengefügt wie sie zusammengehören, dann doch sehr deutlich Auskunft darüber, was nach bestem Wissen und Gewissen der politischen Macher „die Digitalisierung“ für die arbeitende Menschheit vorgesehen hat: Der Zugewinn an Selbstbestimmung für die Lohnabhängigen ist eben die Form einer effektivierten Ausbeutung. Das liegt nicht am Internet, sondern am kapitalistischen Zweck, der darin sein Mittel hat. Smarte Unternehmer haben ein Beschäftigungsmodell aus dem vorletzten Jahrhundert für sich wiederentdeckt, das vielen isolierten Dienstkräften die ihnen entbehrliche Zeit zum Verdienen eines Zubrots zu nutzen erlaubt, ohne dass ihnen ihr Arbeitgeber dafür eigens kostspielig Räumlichkeiten zur Verfügung stellen müsste. Die damalige Mühseligkeit, Arbeitsmaterialien von Dorf zu Dorf auszufahren und die Ergebnisse wieder einzusammeln, hat sich damit erledigt, dass das Internet die Welt zum ‚global village‘ gemacht hat, in dem jeder selbstverständlich permanent erreichbar ist, wo immer er sich befindet, und das mehr oder meist weniger komplizierte Arbeitsresultat, um das es geht, in Datenkabeln transportierbar ist. Das Smartphone erlaubt, nicht nur den eigenen Computer, sondern auch das eigene Auto oder den Wohnraum dazu zu nutzen, in den verfügbaren Poren der eigenen Lebenszeit die Dienstleistungen zu erledigen, mit denen Uber, Airbnb oder sonst ein Vermittler aus der „Plattform-Ökonomie“ sein Geschäft macht. Auch traditionelle Unternehmen haben die Möglichkeiten der digitalen Freiheit für sich entdeckt und nutzen die gesellschaftlichen Potenzen geteilter Arbeit, wo es geht, auch ohne dass die benutzte Mannschaft kollektiv am selben Ort präsent sein müsste. Mit der Erledigung von IT-Arbeiten im „Home Office“-Format sparen sich die Unternehmen nicht nur Bürogebäude, sondern erschließen sich das gesamte digitalisierte Weltproletariat als potenzielle freie „Mitarbeiter“, was ganz von selbst überkommene Lohnunter- und Leistungsobergrenzen relativiert. Als Arbeitszeitregelung begnügt man sich in der digitalen Welt zumeist mit einer eng gesetzten Deadline, mit der es in die Selbstverantwortung der Arbeitenden fällt, mit wie viel Arbeit zu welcher Tages- und Nachtzeit sie ihren Auftrag erledigen. Mancherorts geht die Freiheit der Auftragnehmer so weit, dass sie sogar den Preis für ihre Arbeit selbst festlegen dürfen, indem sie durch wechselseitiges Unterbieten ihren Tagelöhner-Arbeitsplatz auf einer Internetplattform ersteigern. Im Extremfall dürfen sich alle Bewerber in freier Konkurrenz an einem Arbeitsauftrag abarbeiten, und wer ihn zuerst zur vollständigen Zufriedenheit des Auftraggebers erledigt hat, gewinnt den Lohn dafür... So und anders halten sich moderne Geschäftemacher ihre Crowd von individualisierten Freelancern, die ihnen frei wie nie gegenüber-, nämlich immer zur Verfügung stehen, aber nur bezahlt werden, wenn sie für einen Auftrag aktiviert werden. Dann arbeiten sie am virtuellen Fließband ihr Element des Gesamtwerks ab, ohne voneinander auch nur zu wissen; eine kollektive Einheit bilden die vollkommen vereinzelten Teilarbeiter in keinerlei Hinsicht ‚an sich‘, sondern nur für ihren Arbeitgeber. Um die von allen Rücksichten befreite Verfügung über ihre weltweiten Human Resources auftragsspezifisch optimal ausnutzen zu können, nehmen moderne Unternehmen differenzierte Bewertungen der Arbeitsleistungen, Zuverlässigkeit, Schnelligkeit usw. ihrer digitalen Scheinselbständigen vor, machen ihre Buchführung für diese transparent als Mittel für deren Leistungssteigerung – als Lohn winkt die erneute Inanspruchnahme bei der nächsten Auftragsvergabe – und gegen Bezahlung auch für andere Unternehmer, die sich damit Umstände für die Auswahl einer preiswerten und geeigneten Mannschaft ersparen. Der Unternehmergeist versteht es eben, mit dem Zugewinn an Autonomie für die lohnabhängigen Anhängsel etwas Vorteilhaftes anzufangen: Für den Betrieb erweist sie sich als Produktivkraft.

 

Auf dieser Basis entwickeln große Unternehmen der „digitalen Wirtschaft“ für gewisse Bereiche das Interesse an der Haltung einer festen Kernbelegschaft. Die Funktionen der Koordination und Kontrolle, d.h. der Definition, Vergabe, Bewertung und des Zusammenführens der isolierten Unteraufträge, erfordern zum Teil gewisse Fertigkeiten, sind aber vor allem selbst die „Qualifikation“ für einen unbefristeten und überdurchschnittlich bezahlten Arbeitsplatz – und die Aussicht auf einen derart privilegierten Platz ist die wichtigste Lohnform für all die, die mit eng befristeten Zeitverträgen in dauerhafter Bewährungsprobe gehalten werden. Besonders in den Bereichen, wo die Innovationen projektiert werden (gerade in den Vorreiterkonzernen Google, Amazon, Intel usw.) und die Kenntnis um die Betriebsabläufe das Unternehmen nicht verlassen soll, bewährt sich die Beschäftigungsform der klassischen Belegschaft, um das Know-How in den besten Köpfen gleich mit einer Festanstellung „ans Unternehmen zu binden“, d.h. der Konkurrenz vorzuenthalten. Wo die Autonomie der digitalen Arbeiter nicht Mittel, sondern Hindernis ist, wird sie den Letzteren mit einem etwas zuverlässigeren, ggf. besser dotierten Einkommen so weit wie möglich abgekauft.

In einer Hinsicht, und zwar in der einzig wesentlichen, ist der pragmatische Unternehmergeist dem Zeitgeist also ein ganzes Stück voraus. Während die Öffentlichkeit mit ihrem sachfremden Schema ‚Pro und Contra alte und neue Arbeitswelten‘ den ganzen Witz an der Sache verpasst und statt deren ökonomischen Zweck mit Vorliebe thematisiert, inwiefern es modernen Dienstkräften gelingt, im Unterschied zum langsam aussterbenden Mainstream der Angepassten ein selbstbestimmtes Leben zu führen – für dieses falsche Selbstbild ist ja wirklich nicht mehr erfordert, als dass sie für selbstverständlich halten, woran sie sich anpassen und abarbeiten, ihr Selbst so definieren, dass ihre Weise des Gelderwerbs zum integralen Bestandteil ihrer Identität wird, und gnadenlos davon abstrahieren, was sie davon haben, wenn sie die „verwirklichen“ –, kombinieren die Unternehmer vorurteilslos das Beste der beiden angeblich so verschiedenen Welten. Längst fordern die Arbeitgeberverbände unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot auch für die analogen Arbeitsplätze die Befreiung von formell noch bestehenden Pflichten der Rücksichtnahme auf ihre Arbeitnehmerschaft, die in der digitalen Arbeitswelt längst „unrealistisch“ geworden sind: Arbeitszeitregulierung, gesetzliche und sittliche Vorschriften bei der Lohngestaltung usw. gehören ins vergangene Jahrtausend; sogar die konstruktive Mitbestimmung von Betriebsräten wird als „Verzögerungspotenzial“ bemerkt. So stellen sie abschließend klar, dass alle Freiheiten der „modernen“ Arbeitswelten voll und ganz der klassischen Logik der Rentabilitätssteigerung folgen und das Schlagwort „Digitalisierung“ nur dafür steht, dass die gesteigerten Anforderungen an die Arbeiter und ihre schlechtere Bezahlung als unwidersprechlicher subjektloser Sachzwang verstanden werden sollen.

Die Logik wird ja auch längst ganz ohne digitale Technik verwirklicht.

Das Jobwunder

Auch im Bereich der Tätigkeiten, die nichts mit Computer und Internet zu tun haben, wird für Arbeitsplätze aller Art so reichlich gesorgt, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt für ein „Jobwunder“ gelobt wird. Denn dass das ganze Volk fürs Kapital in Dienst genommen wird, also das Kapital es umfassend für seinen Erfolg benutzt, ist einfach in jeder Hinsicht wunderbar.

Schließlich können auch die Lohnabhängigen der Republik von „Jobs“ gar nicht genug kriegen; das Wachstum von Arbeitsplätzen in einem inzwischen ein knappes Viertel der Arbeitsverhältnisse umfassenden Niedriglohnsektor bietet und sorgt zugleich für die Nachfrage auch nach Zweit- und Drittjobs. Ein gutes Jahrzehnt entkrusteter Arbeitsmarkt hat schon im Bereich der Produktion vielen weniger technisierten Bereichen wie dem ehrbaren Fleischerhandwerk, der Bau- und Landwirtschaft usw. dringend benötigte „Konkurrenzfähigkeit“ auf dem Wege der direkten Lohnsenkung verschafft, macht sich aber auch darüber hinaus segensreich bemerkbar. Im Bereich der Logistik lassen z.B. gleich mehrere Konkurrenten der Post ihre superbilligen Laufburschen nacheinander durch dieselben Treppenhäuser hetzen – ein grandioses Dokument dafür, dass die famose „Effektivität“ der marktwirtschaftlichen Kostenrechnung die größte Verschwendung menschlicher Arbeits- und Lebenskraft bedeutet. Die ‚pickers‘ und ‚packers‘ im Versandhandel, mit denen die Jobs im Einzelhandel rationalisiert werden, können über Unterforderung auch nicht klagen; und schließlich „entsteht“ eine ganze Menge Arbeitsplätze in Bereichen, die zuvor für kapitalistischen Einsatz von Arbeit uninteressant waren und die jetzt allein deshalb dafür interessant werden, weil für die Sache, die an ihnen zu erledigen ist, so erbärmlich wenig gezahlt werden muss.

Dabei reicht die Strahlkraft des deutschen Jobwunders weit über die Landesgrenzen hinaus. Bedeutende Volksteile der Länder, in denen das deutsche Kapital erfolgreich die Gelegenheiten für den Lebensunterhalt der Menschen kaputtkonkurriert hat, suchen und finden auch zu einem beachtlichen Teil ihre Lebensperspektive in der untersten Abteilung des deutschen Proletariats: als Bewerber um Beschäftigung in Deutschland. Die Errungenschaft der Freizügigkeit nicht nur für Güter und Dienstleistungen, sondern für „die Menschen“ in Europa bewährt sich als Mittel des deutschen Kapitals, die von ihren Reproduktionsbedingungen freigesetzten Bevölkerungen halb Süd- und Osteuropas als seine Reservearmee, deren Armut als seine Produktivkraft zu benutzen.

Indes profitieren nicht nur die Geschäftemacher davon, dass ihnen ein Niedriglohnsektor für ihren Profit zur Verfügung steht: Das Wachstum des Gewerbes von Putzfrauen, Kleinkindbetreuern, Pflegekräften und sonstigen DomestikInnen, aber auch Pizza- und Einkaufslieferdiensten verdankt sich schließlich maßgeblich dem Bedarf auch all der Alleinerzieher-, Doppelverdiener- und sonstigen Haushalte, die es sich leisten können, die „Kommerzialisierung aller Lebensbereiche“ dafür zu benutzen, die Wiederherstellung der Bedingungen ihrer umfassenden Inanspruchnahme am Arbeitsplatz hinzukriegen. Pfiffige Start-Up-Unternehmer tragen ein wenig digitale Disruption auch in diesen Bereich, wenn sie mit Internet-Plattformen Handwerkern und Dienstleistern aller Art die wunderbare Gelegenheit eröffnen, sich mit ihren Angeboten der Allgemeinheit zu präsentieren und sich gegenseitig niederzukonkurrieren, sodass die Dienstleistungen der einen Hälfte des Proletariats für die andere erschwinglich werden und sich dank der erhobenen Vermittlungsgebühren wenigstens für einen lohnen.