GegenStandpunkt 3-16

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Hilfen des deutschen Sozialstaats

Die Politiker in Merkels Land sind die letzten, die ihrem Volk die Verleugnung seiner Armut abnehmen. Anlässlich einer weitverbreiteten nationalistischen Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik der Regierung fallen dem obersten Sozialdemokraten, der in seinem Ressort die Reichtumsproduktion im Land so betreut, wie es zum Wohle der Menschen im Land am besten ist, lauter missliche Lebensumstände ein, die sich allzu leicht so verstehen lassen, als vernachlässige die Regierung ihr Volk. Konkret fallen ihm Wohnungssuchende, Familien mit kleinen Kindern und Rentner als Beispiele für Bevölkerungsgruppen ein, deren Lage ohne zusätzliche Zuwendung unerträglich ist.

Die Kanzlerin hält den Eindruck irgendwelcher Volksteile, „dass ihre Bedürfnisse ... unter die Räder geraten“ (Gabriel), für eine vollkommene Fehlwahrnehmung und rät, ihr sozialdemokratischer Vize solle sich mal nicht so „klein machen“ und „sein Licht nicht so unter den Scheffel stellen“. Schließlich kümmere sich ihre gemeinsame Regierung seit Jahr und Tag um alles, was man von einem fürsorglichen Sozialstaat verlangen kann. In allen sozialen Notlagen, die dieses Land für seine Insassen bereithält, steht ihnen der Staat mit einer bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahme bei. Was soll es da für einen Grund zur Unzufriedenheit geben?!

– Der Tatsache zum Beispiel, dass mit dem Wachstum von Ballungsräumen irgendwie automatisch für normale Menschen dort eine Behausung zunehmend unerschwinglich wird, hat die Politik sich schon längst angenommen. Ihr Kunstgriff einer Mietpreisbremse kann ihr gar nicht genug gedankt werden, ist es doch für die Inhaber der legislativen und exekutiven Gewalt gar nicht so leicht, Leuten dort marktwirtschaftskonform ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen. Dabei ist schließlich in Rechnung zu stellen, dass Wohnraum nur zur Verfügung gestellt wird von Eigentümern, die aus den Mieten eine lohnende Verwertung ihres in Immobilien investierten Kapitals herauswirtschaften. Die gesetzliche Fixierung der Möglichkeit zur Einführung einer Obergrenze des Anstiegsgrads der Mietpreise in gewissen Wohngebieten schafft da einen gerechten Interessensausgleich: Die einen müssen bei der Ausnutzung der Wohnungsnot für ihr Bereicherungsinteresse eventuell ein gesetzlich definiertes Maß einhalten, die anderen können von den in Deutschland üblichen Löhnen zwar immer noch zunehmend weniger Wohnraum bezahlen, ihre Überforderung wächst aber mancherorts in einem weniger hohen Grad. So werden „die Städte attraktiv für alle gehalten“: „ein deutliches Zeichen dafür, dass die Probleme der Mieterinnen und Mieter ernst genommen werden“ (SPD-Bewertung der Mietpreisbremse in der Bundestagsdebatte, BT-Drs 18/4220, S.5).

– Auch um die Probleme von Familien hat sich die Regierung ausgiebig gekümmert. Moderne Eltern gehen zur Aufbesserung des Einkommens – aus den patriarchalen Zuständen, in denen ein „Ernährer“ von seinem Lohn eine ganze Familie unterhalten zu müssen meinte, hat sich die Gesellschaft glücklich emanzipiert – gerne beide, Alleinerziehende sowieso, einer Beschäftigung nach, deren Erfordernisse in Sachen Flexibilität ihnen für die Aufzucht der Kinder kaum ausreichend Zeit lassen. Kinderliebe MinisterInnen kümmern sich daher nach Kräften um die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, haben mit einem Recht auf „Elternzeit“ – Kündigungsverbot und Weiterbeschäftigungsanspruch – die Arbeitgeber darauf verpflichtet, wenn sie schon beide Partner rund um die Uhr benutzen, sie wenigstens zur Aufzucht ihres Exemplars der „nachfolgenden Generation“ freizugeben, bis es in staatlichen Aufbewahrungsstätten abgegeben werden kann, worauf es sogar einen Rechtsanspruch gibt. Damit der Wegfall des Einkommens verkraftbar ist, übernimmt der Staat im ersten Teil dieser Zeit für dieses wichtige nationale Anliegen die Anschubfinanzierung. Letztes Jahr erst hat er die – außer für Hartz-IV-Empfänger – gar um stattliche vier Euro erhöht!

– Die Rentner werden auch nicht vernachlässigt, so arm sie auch sein und werden mögen. Den Geringverdienern, denen nach 40 Jahren im Dienst des Kapitals noch keine Rente oberhalb des Niveaus der Grundsicherung zusteht – die Leistungsgerechtigkeit gebietet, dass sich die Knausrigkeit ihrer Arbeitgeber bis ans Lebensende rächt –, soll demnächst die Schande erspart werden, beim Sozialamt Almosen beantragen zu müssen; ihre „Lebensleistungsrente“ ist zwar kaum höher, wird aber aus einem völlig anderen Topf bezahlt. So findet, nachdem mit einer „abschlagsfreien Rente“ für diejenigen, die mit 63 schon auf 45 Jahre ununterbrochene Schufterei zurückblicken können, und einer angemessenen Honorierung von Mutterpflichten schon alle „Gerechtigkeitslücken“ gestopft worden sind, auch die Gnade noch Einzug ins Rentensystem. Das ist die jüngste soziale Errungenschaft beim immerwährenden parlamentarischen Ringen um „Generationengerechtigkeit“, die ja stets auch die Ansprüche „der Jugend“ in Rechnung zu stellen hat, was grundsätzlich dadurch geschieht, dass alle lohnabhängigen Menschen länger arbeiten müssen, je entwickelter der „technische Fortschritt“ ist, weil es damit schließlich immer länger dauert, bis sie sterben.

– Viele Menschen, die allein nicht zurechtkommen, haben zu ihrem Glück oft einen Familienangehörigen, der sein Einkommen mit ihnen teilt, wozu er notfalls auch verpflichtet wird; auch ihre freie Zeit opfern viele Menschen gerne für die Betreuung eines hilfsbedürftigen Familienmitglieds auf, weil sie es ungerne verkommen lassen, was sonst der Fall wäre. Auch hier hilft der Staat großzügig aus: Er gestattet den Arbeitnehmern eine Ausnahme von dem ehernen Prinzip, dass sich ihre Notwendigkeiten selbstverständlich nach denen der Arbeitgeber zu richten haben, indem er diesen vorschreibt, ein fürsorgendes Familienmitglied auch ohne vorher eingereichten Urlaubsantrag freizustellen, damit es sich im akuten Pflege-Notfall und der anschließenden, „Pflege-Urlaub“ genannten Zehn-Tages-Frist darum kümmern kann, die Verwahranstalt auszusuchen, in die der liebste Angehörige am besten gesteckt werden sollte, oder ein entsprechendes häusliches Arrangement zu finden; es muss sogar bis zu 6 Monate kündigungsfreie „Pflegezeit“ eingeräumt bekommen oder eine maximal 24-monatige „Familienpflegezeit“ mit reduziertem Beschäftigungsumfang, und kann beim Staat für den Spaß ein zinsloses Darlehen beantragen, damit es deswegen nicht gleich in der Zeit selbst vor die Hunde geht. Dass z.B. demente Personen ganz ohne Pflege auskommen müssen, wenn kein Angehöriger daran sein Freizeitvergnügen findet, hält die Politik neuerdings auch nicht mehr aus und hat den „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ überarbeitet; von 2017 an sorgen fünf detailgenau definierte Pflegegrade dafür, dass kein Siecher im Land weniger kriegt als ihm entspricht, aber auch keiner zu viel, damit die knappen Mittel für alle reichen. Weil den verantwortlichen Machern der Verhältnisse klar ist, wie groß die Last ist, die ein pflegebedürftiger Angehöriger seinen Liebsten bereitet, verabschieden sie nach einer emotional bewegenden Parlamentsdebatte ein Gesetzespaket, das strenge Auflagen definiert, unter denen Sterbewilligen beim Suizid geholfen werden darf, und das parallel dazu die Hospiz- und Palliativversorgung mit einem beherzten Griff in die staatliche Haushaltskasse aufwertet, denn selbst die, die ein Leben voller Entbehrungen hinter sich haben, sollen „die Gewissheit haben, am Lebensende gut betreut und versorgt zu werden“ (Bundesgesundheitsminister Gröhe), also wenn sie garantiert nichts mehr davon haben.

– Kranke Menschen haben hierzulande auch eindeutig Glück im Unglück. Erst kürzlich wurde ihnen eine Krankenhausreform spendiert, durch die die lebensbedrohlichen Konsequenzen der irgendwie unvermeidlichen Arbeitshetze des Personals begrenzt werden sollen – den Gesetzgebern sind als wirkungsvollste Gegenmaßnahmen Geldzuwendungen, Hygiene-Überwacher und ein bisschen mehr Druck durch einen sanktionsbewehrten Qualitätswettbewerb unter den Krankenhäusern eingefallen. Auch für den Abbau überflüssiger Versorgungskapazitäten soll die Reform sorgen. Zur Finanzierung tragen die zuständigen Kassen bei, die die zwangsverstaatlichten Lohnteile verwalten; wobei die Krankenversicherungen sich in bewährter Manier erforderlichenfalls auch am verbleibenden Nettolohn bedienen dürfen.

– In diesem reichen Land braucht es aber gar nicht erst einen besonderen Schicksalsschlag, um in den Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu geraten. Das nachhaltigste Denkmal für ihre soziale Ader hat sich die Regierung bekanntlich mit ihrem Beistand für all die vielen Menschen verschafft, die unter ihrer Regentschaft „von ihrer Arbeit nicht leben können“. Nach zähem Ringen der Politik mit den Arbeitgebern und vor allem mit sich selbst wurde jüngst ein gutes Jahrzehnt erfolgreicher Niedriglohnsektor mit einem Mindestlohn gekrönt, der endlich das Unding aufhebt, dass der Sozialstaat für den Lebensunterhalt von vollzeitarbeitenden Bevölkerungsteilen seine Kassen strapazieren muss. Er verlangt den Profiteuren seines Niedriglohnangebots glatt einen kostendeckenden Preis für dessen Bereitstellung ab und behält sich vor, dessen ordnungsgemäße Zahlung sogar gelegentlich zu kontrollieren.

– Das wahre Ausmaß der staatlichen Fürsorge lässt sich indes erst dann angemessen würdigen, wenn man sich die denkwürdige christsoziale Sentenz vergegenwärtigt, der zufolge sozial alles ist, was Arbeit schafft. Eine Regierung, die über eine Wirtschaft kommandiert, die so durchschlagend erfolgreich ist, dass sie zu welchen Konditionen auch immer so viel Volk wie nie für ihren Welterfolg in Beschlag nimmt, also ein „Jobwunder“ schafft, um das der niederkonkurrierte Rest der Welt „uns“ beneidet; die sogar Lohnsteigerungen zulässt, obwohl gar keine Inflation sie wieder auffrisst, und sich auch so weit an den Mindestlohn hält, dass die Gehälter im Schnitt um traumhafte drei Prozent anwachsen (sodass auch die Altersrenten von der Konjunkturentwicklung profitieren und steigen wie seit 20 Jahren nicht) – kann diese Regierung überhaupt unsozial sein?!

 

– Dass sie ihr Volk vernachlässigen würde, lässt sich dieser Regierung wahrlich nicht vorwerfen; sie hat jüngst sogar dafür gesorgt, dass die Bürger mehr Geld in der Tasche haben, weil sie ihnen dank einer großzügigen Anhebung des steuerfreien Existenzminimums um 298 Euro in den letzten zwei Jahren ein bisschen weniger davon aus der Tasche zieht – sodass jetzt auch alle wissen, womit sie die jüngste Erhöhung der Krankenkassenbeiträge bezahlen können. Der größte Dienst der Regierung am Steuerzahler – jener vornehmsten Eigenschaft des Bürgers: als Finanzier des Staats – ist aber bekanntlich, dass sie sich beim Ausgeben des Abkassierten strengste haushalterische Disziplin auferlegt hat und keinen „Begehrlichkeiten“ nachgibt, bloß weil der Staat derzeit mehr Geld abschöpft, als er braucht. Indem die Hüter der schwarzen Null darauf achten, dass nicht zu viel Geld für soziale Wohltaten verplempert wird, vollbringen sie die wichtigste soziale Wohltat überhaupt!

In sozialer Hinsicht steht also alles zum Besten: Die Bürger werden mit ihren mannigfaltigen Sorgen und Nöten nicht allein gelassen, der Wirtschaft geht es den Umständen entsprechend bestens, und der Staat schafft es, sich zu seiner vollsten Zufriedenheit mit den Mitteln auszustatten, die er für seine Anliegen braucht. Was will man mehr?! In diesem schönen Land gibt es keine offenen ‚sozialen Fragen‘.

© 2016 GegenStandpunkt Verlag

Chronik (1)
Gedenken an Armenien, Verdun, Hiroshima, Russlandfeldzug –
das Abschlachten ausschlachten

Staaten kommen seit jeher in ihren Auseinandersetzungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit nicht umhin, ihre Völker gegeneinander in den Krieg zu schicken. Gelegentlich werden diese Großtaten staatlicher Gewalt zum Gegenstand des Erinnerns und Gedenkens. In diesem Frühsommer gibt es binnen weniger Wochen gleich vier solcher Jubiläen: Armenier-Massaker und -Vertreibungen, die Schlacht von Verdun, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, der Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht. Die entsprechenden offiziellen Feierlichkeiten und publizistischen Würdigungen folgen bis zu einem gewissen Punkt einem stets gleichen Schema, das – bezogen auf die historischen Ereignisse – seltsam unsachlich anmutet.

Die Subjekte der jeweiligen Gemetzel waren eindeutig und ausschließlich die politischen Hoheiten über die aufeinander gehetzten Völker bzw. Volksteile; im Mittelpunkt der historischen Gedenktage stehen freilich ganz die menschlichen Opfer. Schwarzweißfotografien von hungernden Armeniern, Feldpostbriefe von der Westfront und Bilder sterblicher Überreste dort gefallener Soldaten, persönliche Erinnerungen von Überlebenden des Atombombenabwurfs an den Überlebenskampf ab dem „day after“, eine Gedenkstunde des Bundestags für die Leichenberge, die der Nazi-Angriff auf die Sowjetunion produzierte – das sind die zielstrebig eingesetzten Mittel dafür, das Publikum auf sein (mit-)menschliches Gefühl anzusprechen und damit auf die Perspektive der menschlichen Betroffenheit zu verpflichten. So werden die politisch kalkulierten und gewollten Gewaltorgien staatlicher Souveräne zu ganz und gar menschlichen Schreckensereignissen. Dabei bleibt es aber nicht.

Denn mit der Verpflichtung auf die Perspektive der menschlichen Opfer werden diese nicht nur betrauert, sondern zum Gegenstand höchster Ehrung. Wo sie im Krieg, als wirkliche Menschen, nur die Betroffenen ihrer elenden Rolle als Befehlsempfänger des Kriegswillens der eigenen Obrigkeit und Zielscheibe des entgegengesetzten Willens der gegnerischen Führung waren, wird ihnen im Zuge des ‚ehrenden Angedenkens‘ das Privileg zuteil, dass man sich ‚vor ihnen verneigt‘ und ‚von ihnen mahnen‘ lässt. Die geschundenen Kreaturen von damals werden posthum in den moralischen Adelsstand ideeller Ratgeber für ‚uns Heutige‘ bzw. ‚unsere Zukunft‘ erhoben, deren ‚Lektionen zu folgen wir ihnen schulden‘, womit ihr übles Schicksal nachträglich einen höheren Sinn erhält.

Und darin liegt der praktische Sinn dieser Übung, die nur einerseits unsachlich, andererseits aber sehr zielführend ist – für die politischen Subjekte nämlich, die nicht nur dann und wann Kriege führen, sondern es sich eben auch angelegen sein lassen, den von ihren Amtsvorgängern produzierten Opfern zu beliebigen späteren Zeitpunkten immer genau das abzulauschen, was sie als den tieferen Sinn ihrer aktuell praktizierten Politik betrachtet haben wollen. Wie frei die politischen Herren über Krieg und Kriegsgedenken dabei sind – das beweisen die jüngsten Jubiläen ganz folgerichtig schon allein dadurch, wie unterschiedlich die ‚Lehren‘ sind, die alle jeweils aus dem Angedenken an die folgen sollen, die doch ziemlich gleichförmig immer nur das eine waren – eben Opfer der gewalttätigen Machenschaften ihrer und fremder Staaten.

1. Gedenken an die Massakrierung und Vertreibung der Armenier

Am 2. Juni – über 100 Jahre nach den Massakern und Massenvertreibungen, die im Zuge der Staatsgründung der modernen Türkei durch das damals noch osmanische Militär an den Armeniern verübt wurden – „verneigt sich“ der Deutsche Bundestag „vor den Opfern der Massaker“ (Resolution), was in diesem Fall heißt, diesen Exzess staatsgründerischer Gewalt „endlich als das zu benennen, was es war: ein Völkermord“ (Gysi). Mit der Inkriminierung der Gewaltaktionen als Verbrechen – die höchste Kategorie von Schuldspruch, die das Völkerrecht kennt – wird der Blick von den Opfern zurück auf die Täter gelenkt, was für alle ganz selbstverständlich damit einhergeht, dass der Blick von den wirklichen Tätern – dem osmanischen Militär – weiterwandert auf die heutige Türkei, die moralisch in die Verantwortung für das Verbrechen gestellt wird.

Die Spezialität der deutschen Tour, der Türkei den Völkermord an den Armeniern zur Last zu legen, besteht darin, dies wie einen guten Rat unter befreundeten Tätervölkern zu präsentieren:

„Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass es die Türkei nicht schwächt, sondern stärker macht, wenn sie sich zu diesem dunklen Kapitel der osmanischen Geschichte bekennt. Das eröffnet viele Chancen.“ (Özdemir)

So redet einer, der es wissen muss. Tatsächlich hat ja Deutschland eine einzigartige Meisterschaft darin erreicht, sich mit dem offensiven Bekenntnis zu seinen „dunklen Kapiteln“ (Resolution) in die Rolle des Richters über die eigenen Schandtaten zu begeben. Fremde Richtsprüche braucht sich Deutschland damit schon einmal nicht bieten zu lassen; und zugleich beansprucht es mit der Richterrolle in eigener Sache die unbezweifelbare Kompetenz zur moralischen Begutachtung aller anderen Mitglieder der ziemlich gewaltbereiten und gewalttätigen Staatenfamilie. So legt Özdemir mit seiner Beteuerung, dass es nicht darum gehe, dass „wir uns in fremde Angelegenheiten einmischen wollen, sondern ... eben auch um ein Stück deutscher Geschichte“, Wert darauf, dass den Deutschen niemand die Rolle als zumindest Mit-Täter streitig macht, der Reue zeigt und darum zur Begutachtung der Haupttäter berechtigt und verpflichtet ist:

„Dass wir in der Vergangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechens geworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Komplizen der Leugner werden.“

„Leugner“ – das ist das entscheidende Stichwort. Auf diesen Vorwurf zielt das ganze Gedenken; und der steht nicht für vergangene Schandtaten, sondern für – welche auch immer – politmoralische Defizite der heute in der Türkei Regierenden. Womit auch feststeht, dass die Pose des gutwilligen Ratgebers eine einzige Heuchelei ist. Wenn die deutschen Experten für historisch-moralische Selbstgerechtigkeit die Türkei dazu auffordern, sich zu ihren schlimmen Taten zu bekennen, dann nur deshalb, weil sie wissen, dass die Türkei genau dies nicht tun wird. Und diese verweigerte Bußfertigkeit lässt sich immer dann gegen die Türkei wenden, wenn es warum auch immer tagespolitisch in den Kram passt.

2. Gedenken an Verdun

Im Rahmen desselben Weltkrieges, zirka zeitgleich mit der antiarmenischen Gewaltorgie im westlichen Asien, fand im Westen Europas „eine der fürchterlichsten Schlachten“ statt, „die die Menschheit erlebt hat“ (Merkel) . Die 300 000 bei Verdun ums Leben Gekommenen sind jedoch der in diversen Veranstaltungen öffentlich zelebrierten Geschichtsauffassung heutiger europäischer Führer zufolge nicht einem Verbrechen, sondern einem gigantischen Missverständnis zum Opfer gefallen. Von Verbrechen kann nach dieser Auffassung schon darum keine Rede sein, weil nirgends ein Verbrecher auszumachen sein soll, waren doch alle „gleichermaßen Opfer“. Zur Untermauerung dieser Sichtweise besuchen französische und deutsche Politiker gemeinsam ein Beinhaus, in dem die Skelette von französischen und deutschen Soldaten liegen, die ja nun offensichtlich alle gleichermaßen tot sind.

Das ist der passende Hintergrund für die historischen Lehren, die Merkel dann auszubreiten hat. Die bestehen darin, die Toten des Jahres 1916 vom Stand und Standpunkt der europäischen Politik des Jahres 2016 aus zu betrachten, die die kriegerische Feindschaft der Nationalstaaten überwunden und durch die zivile Konkurrenz innerhalb der Europäischen Union abgelöst hat. Folgerichtig entdeckt die Kanzlerin nicht nur keine Täter, sondern vor allem keinen Sinn und Zweck des Tötens und Sterbens von Verdun. Den ein Jahrhundert zurückliegenden Krieg um die imperialistische Vorherrschaft in Europa präsentiert sie als negatives Abziehbild von heute: als Bruderkrieg zwischen Völkern, die damals von ihrer Verwandtschaft freilich noch nichts ahnten, die in „Engstirnigkeit und Nationalismus, Verblendung und politischem Versagen“ sich als Erbfeinde gründlich missverstanden. Und umgekehrt: Verglichen mit der verheerenden Todfeindschaft der Nationen von 1916 ist das Europa des Jahres 2016 nichts als das positive Abziehbild von damals: die vollbrachte Erfüllung aller Ideale abendländischer Völkerfreundschaft bzw. vor allem des einen Ideals – es ist ja unzweifelhaft Frieden in Europa und nicht Krieg.

Für diese Verherrlichung des heutigen Europa mittels Verdun-Gedenken muss die deutsche Staatschefin den wirklichen Zustand der Europäischen Union noch nicht einmal verschweigen, im Gegenteil:

„Das gilt für die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise oder den Umgang mit den vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen... Unser gemeinsames Bekenntnis zu den grundlegenden Werten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss täglich unter Beweis gestellt werden.“

Sie zitiert die aktuellen Hauptkrisenlagen und Gegenstände erbitterter innereuropäischer Staatenkonkurrenz, um zu betonen, dass das alles letztlich eine hervorragende Sache mit glanzvoller Perspektive ist und bleibt, wenn man dabei nur immer schön an das Massentöten denkt, das die Rechtsvorgänger der heutigen europäischen Konkurrenten neulich einmal für passend hielten.