GegenStandpunkt 3-16

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3. Gedenken an Hiroshima

Ganz ohne rundes Jubiläum wird in diesem Frühjahr auch der Opfer des Atombombenabwurfs auf Hiroshima gedacht, diesmal mit einer Premiere: Ein amtierender Präsident der Supermacht, die damals mittels Atombombe die Stadt dem Erdboden gleichmachte, Japan zur Kapitulation zwang und dadurch den Zweiten Weltkrieg siegreich beendete, wohnt den Feierlichkeiten am Ort des Geschehens bei. Im Vorfeld ist denn auch spekuliert worden, ob sich Obama stellvertretend für seine ganze Nation zu einer offiziellen Bitte um Entschuldigung durchringt.

Was er dann tatsächlich tut und sagt, ist etwas anderes und eines US-Präsidenten auf jeden Fall würdig. Er dreht den Spieß nämlich einfach um. Statt bei den nationalen Nachfahren der Opfer des amerikanischen Nuklearkriegsschlages zu eruieren, ob sie den nationalen Nachfahren der Täter vergeben und zur Versöhnung mit ihnen bereit sind, bietet umgekehrt er großherzig an, den Überlebenden, Hinterbliebenen und der japanischen Nation in Gänze nicht mehr böse zu sein, sondern sich versöhnen zu wollen. Zum Beweis dafür schreiben ihm seine Drehbuchautoren einen Show-Auftritt ins Programm: Er drückt einen leibhaftigen Überlebenden an seine Präsidentenbrust, was jener ihm mit Tränen der Rührung auch gebührend dankt.

Und ganz dieser netten Geste entsprechend sieht die moralische Lehre aus, die Obama verkündet. Er führt in seiner Rede aus, dass in rückwärtiger Betrachtung das Ereignis mit den Kategorien ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ gar nicht zu fassen ist. Erstens:

„Vor 71 Jahren, eines schönen wolkenlosen Morgens, fiel der Tod vom Himmel und die Welt wurde verändert.“

Von einem politischen Subjekt, das den Tod per Flugzeug in den Himmel befördern ließ, um dann seinen punktgenauen Abwurf zu befehlen, will der amerikanische Oberbefehlshaber nichts wissen. Dafür weiß Obama zweitens, dass der plötzliche Massentod, von dem die Japaner Jahr für Jahr so viel Aufheben machen, Tradition hat, und zwar eine ganz lange. Schließlich zeugen „Artefakte davon, dass gewaltsame Konflikte so alt sind wie die Menschheit“. Und überhaupt:

„Was uns zur Spezies macht – unsere Gedanken, unsere Vorstellungskraft, unsere Sprache, der Werkzeugbau, unsere Fähigkeit, uns selbst von der Natur zu unterscheiden und sie unserem Willen zu unterwerfen –, genau das verleiht uns ebenso die Fähigkeit zu unvergleichlicher Zerstörung.“

In größerem, anthropologisch dimensioniertem Kontext erhellt sich also, dass die 140 000 Japaner zum Opfer der Natur ihrer eigenen Gattung wurden, die fortschreitend effizienteres Kriegsgerät baut, weil sie es kann – und dann selbstverständlich regen Gebrauch davon macht. Letztlich würde sich die Krone der Schöpfung so berechnungslos wie zielstrebig in eine evolutionäre Sackgasse manövrieren – wenn nicht justament der historische Höhepunkt technologisch perfektionierter Massentötung dem US-Präsidenten eine Lektion erteilt hätte, die dieser umgehend an seine Mitmenschen weiterreicht:

„Die Vorstellung des Atompilzes, der in diesen Himmel wuchs, erinnert uns an den Kernwiderspruch der Menschheit... Technologischer Fortschritt ohne äquivalenten Fortschritt menschlicher Institutionen bedeutet unseren Untergang.“

Aus dem Munde des Vorsitzenden der Institution, die es zum technisch fortschrittlichsten Mittel „unvergleichlicher Zerstörung“ gebracht hat, ist es besonders glaubwürdig, wenn er daran erinnert, dass „die gewöhnlichen Menschen“ sich ihre massenhafte Vernichtung nicht bestellt haben. Weshalb ihre Führer sie dennoch für „die Menschen“ ihrer Feinde auf die Tagesordnung setzen, lässt er großzügig offen – Hiroshima immerhin, meint er, sollte sie zögern lassen:

„Die gewöhnlichen Leute wollen keinen Krieg mehr. Sie hätten es lieber, wenn sich die Wunder der Wissenschaft auf eine Verbesserung ihres Lebens und nicht auf seine Zerstörung richteten. Wenn die Entscheidungen, die Nationen und ihre Führer treffen, diese einfache Weisheit reflektieren, dann ist die Lektion von Hiroshima gelernt worden... Heute können die Kinder dieser Stadt in Frieden durch den Tag gehen. Das ist ein wertvolles Gut.“

Offenbar meint er wirklich, dass die Menschheit zu Dankbarkeit verpflichtet ist, weil und solange diejenigen, die es könnten, auf Atom- und sonstige Kriege verzichten und sie wenigstens in Frieden lassen. Und weil seiner Auskunft zufolge die USA nicht erst, aber gerade unter seiner Führung die menschlich so wünschenswerte Zurückhaltung beim Kriegführen als Lehre aus Hiroshima und Nagasaki an den Tag legen, preist er die Nuklearmassaker von 1945 abschließend glatt als den „Beginn unseres eigenen moralischen Erwachens“.

So gesehen, wäre es tatsächlich abwegig, sich dafür auch noch zu entschuldigen.

4. Gedenken an den Beginn des deutschen Russlandfeldzugs

Zum 75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion wird im Rahmen einer Sitzung des Bundestages betont unfeierlich in demonstrativer parlamentarischer Routine das Gedenken als „Tagesordnungspunkt 4“ aufgerufen:

„In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941, heute vor 75 Jahren, brach die Hölle los... Über 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion, Weißrussen, Ukrainer, Russen und andere, sollten in diesem Angriffskrieg ihr Leben verlieren. Das Ausmaß des Leidens ist nicht in Worte zu fassen.“ (Steinmeier) „Ein beispielloser Vernichtungsfeldzug ..., der in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie wurzelte...“ (Bundestagspräsident Norbert Lammert) „Es war der ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg.“ (Bundestagsabgeordneter Alois Karl, CDU/CSU, alle Zitate aus: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/178, 22.6.16)

Mit dem pflichtschuldigen Bekenntnis zu ganz außerordentlichen Täterleistungen stellt der Bundestag zunächst einmal klar, wem hier die führende Rolle in der Erinnerungskultur zukommt – und das, „im Jahr 2 der Ukrainekrise“, mit einem klaren „Um-zu“:

„Wir sind hier, um zu erinnern, und wir sind hier, um uns im Erinnern der Verantwortung zu vergewissern, die wir Deutsche für den Frieden auf diesem Kontinent tragen. Von einem Zeitalter des Friedens sind wir heute weit entfernt, weiter, leider, als wir jemals seit dem Ende des Kalten Krieges waren... Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine hat sich erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki offen gegen eines der leitenden Prinzipien der europäischen Friedensordnung gestellt, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Souveränität eines anderen Staates. Gerade weil wir unsere historische Verantwortung für die europäische Friedensordnung ernst nehmen, war es diese deutsche Bundesregierung, die auf diesen Prinzipienbruch klar und unmissverständlich reagiert hat und die unsere Partner in diese Reaktion eingebunden hat.“ (Steinmeier)

Das Bekenntnis zur Täterrolle in einem „Vernichtungsfeldzug“ ist offenkundig und ohne Verfallsdatum immer wieder produktiv für die Gegenwart. Man erobert sich damit eine raumgreifende „Verantwortung“ – für Frieden gleich auf dem ganzen Kontinent, womit Russland als heutiger Täter vor ein ideelles Tribunal gestellt und sein moralisches Recht, auf den alten Opfern herumzureiten, grundsätzlich infrage gestellt wäre.

In diesem Sinne legt sich auch die Grüne Marieluise Beck ins Zeug, die darauf deutet, dass auch russische Verantwortung für das große Gemetzel in Rechnung zu stellen ist:

„Der Angriff vom Sommer 1941 traf Stalin weitgehend unvorbereitet und kostete damit vielen sowjetischen Soldaten das Leben.“

Das ist einmal ein guter Einfall, ausgerechnet der mangelnden Kriegsbereitschaft Stalins ein Stück Täterschaft anzuhängen. Und außerdem: Darf Putin überhaupt die alle als seine Opfer reklamieren?!

„Der Überfall auf die Sowjetunion war kein Überfall allein auf Russland, sondern eben auf den Vielvölkerstaat Sowjetunion. Die Sowjetunion existiert nicht mehr. Die historische Schuld, die das Deutsche Reich auf sich geladen hat, und die Verantwortung, die uns bis heute daraus erwächst, gelten also allen Menschen der Nachfolgestaaten, denen in Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, in der Ukraine und Usbekistan.“ (Marieluise Beck)

Das kann man Putin nicht durchgehen lassen, mit Opfern auf Rechte zu pochen, die ihm gar nicht gehören. Zumal dank der unermesslichen Schuld der Deutschen die Sorge für die genannten Opfervölker heute in deutsche Verantwortung fällt.

© 2016 GegenStandpunkt Verlag

Chronik (2)
G7-Gipfel in Japan:
Sieben Weltwirtschaftsmächte demonstrieren Einigkeit –
jenseits und wegen ihrer Konkurrenz um die Macht in der Welt

Wie jedes Jahr treffen sich die Chefs von sieben großen Industrieländern, diesmal in Japan. Dort wickeln sie in aller Routine ihr intimes, im Voraus bis ins Detail geklärtes Gesprächsprogramm ab – mitsamt einem ebenso akribisch vorbereiteten Begleitprogramm mit den üblichen ortsspezifischen Varianten: Sie besuchen einen heiligen Shinto-Schrein und pflanzen dort gemeinsam einen Baum, spazieren am Fluss entlang, klopfen sich dabei freundlich auf die Schulter und lächeln händeschüttelnd in jede Kamera, die auf sie gerichtet wird. Ebenso routiniert fallen die Rezensionen des diesjährigen Gipfels überwiegend negativ aus. Zwar bleiben dieses Mal die großen Proteste aus, die zum festen Bestandteil des jährlichen Treffens geworden sind und für kleine Störungen des gewohnten Ablaufs sorgen. Doch die Empörung der Zivilgesellschaft hat nicht nachgelassen: „Die G7-Staaten haben erbärmlich versagt“ (Ian Koski von der Entwicklungsorganisation One): Sie haben es nicht nur versäumt, die Beschlüsse zu fassen, die man von ihnen gerne hätte, sondern sie halten sich nicht einmal an das, was sie selber einmal beschlossen haben, so die Kritik:

 

„Es fehle an einem Plan zur Umsetzung des vor einem Jahr im bayrischen Elmau verkündeten Ziels, 500 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030 von Hunger und Nahrungsmangel zu befreien, bemängelte World Vision.“ (SZ, 14.6.16)

Die professionelle Öffentlichkeit äußert schon im Vorfeld eine ähnlich gestrickte, wenn auch weit weniger aufgeregte Sorte Kritik am Gipfel – „Sehr viel Konkreteres als Bekenntnisse zu westlichen Werten und einer auf Regeln gegründeten Weltordnung wird es in Ise-Shima wohl nicht geben, sagen Beobachter voraus.“ (tagesschau.de, 26.5.) – und sieht ihre vorweggenommene Enttäuschung durch die Ergebnisse des Gipfels nur bestätigt:

„Große Worte, kleine Taten... Es [gibt] meist nur vollmundige Versprechungen.“ (SZ, 27.5.) „Das G7-Treffen in Japan droht, in Routine zu ersticken. Dabei stehen die westlichen Industrieländer vor politischen Herausforderungen wie lange nicht... Wer das Programm des bevorstehenden Gipfels studiert, wird wenig Zukunftsweisendes entdecken. Kein Signal des Aufbruchs ist von Ise-Shima zu erwarten, sondern das routinierte Abarbeiten der üblichen Gipfel-Rituale.“ (Spiegel Online, 26.5.)

Diese Kritiken verraten mehr über die Kritiker als über das Treffen selber. Wenn sie dessen bloßes Stattfinden angesichts dürftiger Ergebnisse für unerheblich finden, bei den feierlichen Demonstrationen von Einigkeit zwischen Wirtschaftsmächten nur abwinken und stattdessen auf taufrischen Lösungen für die diversen „politischen Herausforderungen“ bestehen, die sie und/oder die angesprochenen Mächte selber auf die Tagesordnung gesetzt haben – dann geben sie in der Hauptsache zu Protokoll, was ihnen als Beobachtern solcher Veranstaltungen einfach selbstverständlich ist. Erstens ist es ihnen allenfalls eine Notiz wert, dass die Chefs genau dieser sieben ‚Industrieländer‘ jährlich als „informelle Weltregierung“ (ebd.) zusammenkommen; zweitens ist der Umstand, dass diese Länder stets ihre Einheit beschwören, und zwar als eine Instanz, die die Schutzverantwortung für eine „auf Regeln gegründete Weltordnung“ als Gemeinschaftsaufgabe wahrnimmt, für sie allenfalls ein „Allgemeinplatz“ (TAZ) – eine leere Formel, die erst durch daraus folgende Taten wirklich Bedeutung bekäme.

Dabei ist den in Japan versammelten Mächten selber weder das eine noch das andere in irgendeiner Weise selbstverständlich.

1.

Sie wissen nämlich sehr gut, dass ihre Mitgliedschaft in diesem erlauchten Kreis nicht bloß Ausdruck ihrer volkswirtschaftlichen Größe ist – zumal sich nur noch fünf von ihnen zu den sieben größten Volkswirtschaften zählen können. Das macht umso sinnfälliger, dass die Mitglieder der G7 einen Status beanspruchen, der eben nicht mit ihrer ökonomischen Größe zusammenfällt; sie präsentieren sich der Welt vielmehr als Instanzen, die sich um „Probleme“ und „Herausforderungen“ kümmern, die nicht einfach darin bestehen, in der weltweiten Konkurrenz um Märkte möglichst gut abzuschneiden, damit sie nach wie vor zu den größten Konkurrenten gehören. Sie definieren sich vielmehr als eine eben „informelle Weltregierung“, die überhaupt erst verbindlich definiert, worin die Probleme und Herausforderungen bestehen, vor denen nicht nur sie, sondern auch die ganze Welt steht. Umgekehrt ausgedrückt: Darüber, welchen „Aufgaben“ sich die Staaten der Welt zu widmen haben, entscheidet eben nicht etwa die in der UNO versammelte Staatenwelt, sondern diese sieben Mächte. Das ist eine Sorte Zuständigkeit, die diese Mächte für sich reservieren; sie grenzen die Verantwortung für die Definition der Probleme der Welt mitsamt ihren Lösungen auf sich ein, grenzen insofern andere Mächte, die ähnlich gelagerte, wenn auch kleiner dimensionierte Vorstellungen von ihrer Verantwortung für das Weltgeschehen haben, explizit aus. Da ist zum einen Russland, ehemaliges Mitglied im Club der Größten, das nach seiner Annektierung der Krim vor zwei Jahren ausgeschlossen wurde und dessen Mitgliedschaft mit seiner Wirtschaftskraft ohnehin nie etwas zu tun hatte. Zum anderen ist China inzwischen zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geworden, wird in die „informelle Weltregierung“ allerdings nach wie vor nicht aufgenommen. Und was diese zwei Mächte nicht erst, aber sehr deutlich beim diesjährigen G7-Treffen erfahren können, ist, dass sie nicht bloß draußen aus dem Club der Zuständigen, sondern wie alle anderen Nichtmitglieder Objekte von dessen Aufsicht sind. Sie zählen bei aller Macht und Größe zum großen Kreis derjenigen, die Probleme für die Weltordnung weder definieren noch Lösungen vorgeben. Sie können solche Probleme allerdings verursachen – und laut der offiziellen Gipfelmitteilung tun sie das derzeit auch:

– In der Ukraine kennt der G7-Kreis Russland als gegnerische Partei in einem Streit über die Frage, welchem Staat bzw. Staatenblock die Ukraine zugeordnet werden soll. Doch von dieser Sorte Auseinandersetzung darum, wessen imperialistisches Kommando in der Ukraine inwieweit gilt, ist nichts zu sehen, wenn die G7 sich zu Wort meldet:

„Wir erwarten von Russland, seine Zusagen einzuhalten und seinen Einfluss auf die Separatisten in vollem Umfang geltend zu machen... Wir erinnern daran, dass das Fortbestehen der Sanktionen in direktem Zusammenhang mit der vollständigen Umsetzung der Vereinbarungen von Minsk und der Achtung der Souveränität der Ukraine durch Russland steht. Die Sanktionen können abgebaut werden, sobald Russland diesen Verpflichtungen nachkommt. Dennoch sind wir bereit, auch weitere beschränkende Maßnahmen bezüglich Russland zu ergreifen, um die Kosten für Russland zu erhöhen, sollten seine Handlungen dies erforderlich machen.“ (Dieses und die folgenden Zitate, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus: Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G7 in Ise-Shima, 26. – 27. Mai 2016)

Hier wird Russland vielmehr als eine Art Auftragnehmer angesprochen, dessen „Einfluss“ auf die Parteien vor Ort selbstverständlich so auszuüben ist, dass er nicht den Interessen Russlands, sondern den Ansprüchen der Mächte entspricht, die ihrerseits nicht bloß Interessen verfolgen und dabei Abkommen mit ihren Konkurrenten schließen, sondern sich als Garanten des Vertrags über dieselben stellen: quasi als Gewaltmonopolisten, die bezüglich der involvierten Parteien, zu denen Mitglieder dieses Kreises durchaus selber gehören, gewisse Erwartungen hegen und im Falle der Nichterfüllung Strafen aussprechen und durchsetzen.

Doch das ist nur die eine „Herausforderung“, die derzeit von Russland ausgeht. In Syrien stellt es seine Macht hinter eine Regierung, die die G7 mit eigenen Waffen und durch die Unterstützung lokaler Rebellen bekämpft; insofern kennt sie Russland auch dort als konkurrierende imperialistische Partei, als machtvollen Gegner in einem Kampf um die zukünftige Ordnung im Land und in der Region, um den man nicht herumkommt. Doch als G7 spricht man zum imperialistischen Konkurrenten keineswegs von Partei zu Partei:

„Wir ... begrüßen Russlands Bekenntnis ... mit den syrischen Behörden zusammenzuarbeiten, um Luftoperationen über Gebieten, die vorwiegend von Zivilisten oder Waffenstillstandsparteien bewohnt werden, zu minimieren. Wir erwarten von Russland und Iran, dass sie das Regime mit Nachdruck auffordern, den erneuten Waffenstillstand einzuhalten und seine Angriffe auf Zivilisten zu beenden.“

Hier tritt die G7 vielmehr als eine Instanz auf, die kollektiv den Schutz oder zumindest die Schonung unbeteiligter, also unschuldiger Menschen verantwortet – aber eben nicht als eine Art Rotes Kreuz, sondern als machtvoller Schiedsrichter über den Konflikt mit Russland, in dem sie zugleich als konkurrierende Partei aktiv ist. Von der Warte aus ist für die G7 klar, welche kriegerische Gewalt im Lande ein Problem für die Welt ist – auf jeden Fall die, die von Russland und seinem Schützling ausgeht – und welches Zuschlagen dem Schutz der Menschen dient.

Auch wenn die G7 an beiden Fronten zu Russland kein neues Vorgehen und keinen neuen Schritt in diesem Konflikt, sondern nur die Verlängerung der Sanktionen beschließt, also kein „Signal des Aufbruchs“ setzt, was die interessierte Öffentlichkeit ihr dann wohlwollend als Lösungsvorschlag für ein dringendes „Problem“ der Weltordnung auslegen könnte. Die entscheidende Statuszuordnung wird damit durchaus geleistet, nämlich die eindeutige Antwort auf die Frage, wer hier Subjekt der Ordnung ist und wer daher Objekt von wessen Ordnungsgewalt zu sein hat. Und mit der Klarstellung trifft die G7 dann auch den eigentlichen Kern des Konflikts mit Russland an beiden Fronten und darüber hinaus.

– Im südchinesischen Meer begegnet der G7 China als eine Macht, die nicht nur mit vielen Containerschiffen unterwegs ist, die mit seinen Exportschlagern beladen sind, sondern als eine ansehnliche Militärmacht mit entsprechenden Ansprüchen, die es vom Urteil des einschlägigen UN-Gerichts nicht abhängig macht. Es schüttet Inseln auf, errichtet Häfen und Flugpisten für seine Streitkräfte und stationiert Raketen, um überdeutlich zu machen, dass es keinesfalls das Objekt irgendeiner anderen Macht in der Region ist; dass es vielmehr selbst definiert, wem was gehört und was sich überhaupt gehört; und dass es schließlich über die einschlägige militärische Durchsetzungsmacht verfügt. Dass China auf die – vermuteten – üppigen Öl- und Gasvorkommen in diesem Gebiet spechtet, wie die geologisch bestens informierte Öffentlichkeit gerne betont, ist also bloß die eine, eher untergeordnete Sache; dass es in diesem Fall um einen grundsätzlicheren Streit geht, ist längst vor dem Gipfel kein Geheimnis: Hier handelt es sich um einen „seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt um die Vormachtstellung im Asien-Pazifik-Raum“ (Spiegel Online, 12.7.). Die USA, Haupt- und Führungsmacht der G7, sind der entscheidende Konkurrent in dieser Frage, von der China genauso gut wie die USA weiß, dass sie nicht vor einem Gericht, sondern mit der Gewalt entschieden wird, über die man jeweils verfügt und die man in Stellung bringt. Dazu steht die Mitteilung des Gipfels allerdings in einem interessanten Kontrast:

„Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur Aufrechterhaltung einer regelbasierten maritimen Ordnung in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Völkerrechts, wie sie im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen Ausdruck findet, zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, die von vertrauensbildenden Maßnahmen und auch durch Rechtsmittel unterstützt wird, sowie zur nachhaltigen Nutzung der Meere und zur Achtung der Freiheit der Schifffahrt und des Überflugs. Wir bekräftigen, wie wichtig es ist, dass Staaten ihre Ansprüche auf der Grundlage des Völkerrechts geltend machen und klären, von einseitigen Handlungen, die Spannungen verstärken könnten, absehen und sie weder gewaltsam noch zwangsweise durchzusetzen versuchen, und dass sie sich bemühen, Streitfälle mit friedlichen Mitteln zu regeln, auch mithilfe juristischer Mittel einschließlich Schiedsverfahren. Wir sind besorgt angesichts der Situation im Ost- und Südchinesischen Meer und unterstreichen die grundlegende Bedeutung der friedlichen Regelung und Beilegung von Streitigkeiten.“

Dass das Wort ‚China‘ in der Mitteilung kein einziges Mal fällt, obwohl allen Seiten klar ist, gegen wen sie sich richtet, ist alles andere als ein Fall von diplomatischer Zurückhaltung seitens der G7. Das entspricht vielmehr der Stellung, von der aus die G7-Staaten diesen „Inselstreit“ überhaupt ins Visier nehmen: Sie sprechen als Hüter eines Regelwerks, dessen Gültigkeit sich über alle Ecken des Globus, Land und See, erstreckt. Was sich dort abspielt, spielt sich unter der Aufsicht dieser Mächte ab, hat also stets nach ihren Spielregeln abzulaufen. Ihre ordnungsstiftende und -schützende Gewalt ist also offenbar überhaupt nicht bloß punktuell und fallbezogen; die G7 beziehen Chinas Vorgehen auf ihre Ordnung und deren unbestreitbare Gültigkeit als Ganzes – eine Klarstellung, die insofern gar nicht bloß China betrifft. Die Interessen, die China in dieser Gegend durchzusetzen sucht, sind also keine, zu denen man sich von gleich zu gleich, von Konkurrent zu Konkurrent stellt, sondern ein Fall für Autoritäten, die eine ganze Weltordnung zu verantworten haben. Wenn also China seine Ansprüche nicht relativiert, ist das aus dieser Perspektive nicht bloß ein Verstoß gegen die Ansprüche, die die USA und ihre Kumpane im G7-Kreis an die Weltordnung stellen, sondern überhaupt gegen die Ordnung. Die soll sich wiederum dadurch auszeichnen, dass sie „regelbasiert“ und „friedlich“ ist, auf jeden Fall kein Fall von Gewalt und Aggression, sondern eine Angelegenheit im Interesse aller. Mit dieser Tour verleihen die für diese Ordnung verantwortlichen Mächte ihrer durchgesetzten Ordnungsgewalt die höhere Weihe eines über allen stehenden Rechts, welches Frieden und Gerechtigkeit gegen Gewalt und Streit verbürgt. Also gilt hier ebenfalls: Auch wenn auf dem Gipfel keine neuen Maßnahmen beschlossen werden, wird das Wesentliche an allen Maßnahmen, die daraus folgen mögen, damit schon ausgedrückt: die eigene Zuständigkeit für die Weltordnung, die kein Interesse ist, das die anderen Staaten ins Verhältnis zu ihren eigenen setzen können, sondern das absolut zu achtende Recht, das den Rahmen festlegt, innerhalb dessen staatliche Interessen überhaupt zu fassen und zu verfolgen sind.

 
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