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Chronik (2)
Ein Blick in den Frühsommer des Superwahljahres:
Völker tun das Richtige – geht doch!

Entgegen dem schlechten Ruf, unter dem Völker noch zu Beginn des Jahres angesichts von Trump, Brexit und eines durch Europa ziehenden rechten Ungeistes standen, weswegen es als mindestens prekär galt, ihnen die Schicksalsfrage ihrer Herrschaft zu überlassen, wird ihnen im Frühsommer überwiegend bescheinigt, das ‚Richtige‘ zu tun.

1. People

In England, heißt es, lag das Volk goldrichtig damit, in den Parlamentswahlen seiner Chefin May eine dicke Enttäuschung zu bereiten. Die hatte ganz darauf gesetzt, sich aus einer Position der Stärke heraus mit dem Vorziehen der Wahlen „mehr Luft“ innerhalb ihrer eigenen wie gegenüber den anderen Parteien zu verschaffen; zur Orientierung des Wählers hatte sie ohne jede Scham und Schönfärberei kundgetan, was sie von ihm verlangt: eine Bestätigung bzw. Ausweitung ihrer Macht, ein Bekenntnis, sich bedingungslos unter ihr Diktat zu stellen, um im Vorfeld jedweden inner- und außerparlamentarischen Einwand gegen ihren harten Brexit-Kurs und die in diesem Zuge geplanten sozialen Einschnitte mundtot zu machen und damit entschlossener und härter durchregieren zu können. Ein „Manöver“, das für sich genommen einer politisch gebildeten Öffentlichkeit als Kunststück demokratischen Machtgebrauchs sehr vertraut ist – ein „geschickter Schachzug“ eben, um die „Gunst der Stunde“ zu nutzen. Mays Kalkulation geht jedoch nicht auf; sie scheitert am Wählerwillen, der sich anders entscheidet. Was in diesem Fall nicht im Namen des ehrenwerten Anliegens gegen den Wähler, sondern gerade für ihn spricht. Jedenfalls vom Standpunkt weltpolitischer Vernunft aus, als deren Anwalt die deutsche Öffentlichkeit die Wahl begutachtet. Die sieht sich nämlich umgekehrt umso mehr bedient: Anstelle der beanspruchten Stärkung bereitet der britische Wähler unserer innereuropäischen Kontrahentin, die der eigentlich unkündbaren Union mit ihrem harten Brexit so schwer zusetzen will, eine Schwächung. Mays Wahlschlappe wird mit einem Machtverlust des britischen Widersachers gegenüber Deutschland und der EU gleichgesetzt. Das ist der ganze Erfolg, um den sich der englische Wähler verdient gemacht hat.

Aus demselben Grund gehört dann aber auch gleich noch ein deutsches ‚Aber‘ mit dazu. Bei aller Schwächung, die man ihr gönnt: So „strong“ und „stable“ soll May dann allemal noch bleiben, dass das, was man mit ihr und gegen sie aushandelt, auch Verbindlichkeit hat und in England verbindlich gemacht wird.

2. Peuple

Auch in Frankreich finden Parlamentswahlen statt, und die Franzosen machen es mindestens ebenso „richtig“; allerdings indem sie genau das Umgekehrte leisten. Sie stärken den Mann in Paris auf voller Linie. Das französische Volk verleiht ihm eine breite Machtbasis. Genau das war verlangt, ist er doch ‚unser‘ Mann. Die deutsche Öffentlichkeit weiß nämlich, was ansteht: Der französische Staatsapparat muss mit seiner ganzen hoheitlichen Gewalt dafür in Anspruch genommen werden, dass sich in dem Land einiges ändert. Die Parlamentswahlen waren ein „Votum für Reformen“, d.h. das Land gehört nach innen endlich ordentlich umgewälzt. Und wenn eine französische Wählerin meint: „Hauptsache er macht jetzt was, egal was“, so trifft sie damit nur, wer etwas zu machen hat und wem dabei die passive Rolle zukommt; das ‚Was‘ und ‚Wofür‘ allerdings ist alles andere als ‚egal‘. Das ‚Wofür‘ steht an erster Stelle: Damit aus dem maroden Frankreich wieder der von Deutschland geforderte zweite Stützpfeiler für eine starke europäische Union wird! Das ‚Was‘ schließt sich nahtlos an: Mit dem französischen Lebensstandard muss es ein Ende haben, und Macron ist ganz auf dem richtigen Dampfer, wenn er eine Umwälzung des Arbeitsrechts nach deutschem Vorbild an die erste Stelle seiner Agenda setzt, um durch ein Stück Volksverarmung der Grande Nation wieder zu neuer Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Eine Jungmannschaft steht dafür voller Tatendrang bereit. Der alte Parteienklüngel hingegen muss ihr Platz machen. Dass ein ganzes System umgeworfen wird, hat in diesem Fall also sein Gutes: Erstens offenbart die Wahlniederlage des alten Establishments, dass es längst überholt ist, im Herrschaftsgefüge also auch nichts mehr verloren hat, hat es doch die nötigen Reformen nicht angepackt. Deswegen braucht es als Allererstes neue ‚unverbrauchte Kräfte‘ an der Staatsspitze, die die gebotene Rücksichtslosigkeit gegenüber Volk und Parteienklüngel walten lassen.

Ganz im Sinne der Glückwünsche zur erlangten Macht bleiben drei Bedenken:

– Erstens stellt sich bei aller bekundeten Entschlossenheit die Frage, ob die Zöglinge der neuen Elite auch können, was sie versprechen. Reife und Kompetenz in Sachen Handwerk der Machtausübung müssen sie erst noch unter Beweis stellen: In ihre neue Profession, die ganz darin aufgeht, sich als der effektive Sachwalter der Umsetzung von Macrons Reformen zu bewähren, müssen sie erst noch hineinwachsen.

– Ein zweiter Makel macht die Wahl zu einer unrunden Sache: Es sind einfach zu wenig hingegangen. Das ist schlecht, weil der demokratische Ermächtigungsakt gleichzeitig ein Unterwerfungsakt sein sollte: In der Wahl galt es mit der Wahlstimme auch das Versprechen mit abzugeben, alles mitzumachen und hinzunehmen, was an sozialen Härten für Frankreichs Aufstieg zur europäischen Stütze nottut. Das Verlangen richtet sich ans ganze französische Volk und nicht nur an 43 Prozent. Ein solches Bekenntnis zum Gehorsam hätte man hierzulande daher gerne von mehr Franzosen gesehen; schließlich weiß man, wie stur die sind, wenn es an ihr ‚savoir vivre‘ geht.

– Da die Glückwünsche zur „Allmacht“ ein klares ‚Um-zu‘ haben – Merkel hält große Stücke auf Macron –, gibt es das dritte Bedenken, ob dem neuen „President jupitérien“ seine Macht nicht allzu sehr zu Kopfe steigen könnte. Seine Schwärmerei von einer „französischen, europäischen Renaissance“ und einem „Europe qui protège“ lassen rechts des Rheins prompt Zweifel aufkommen, ob der Mann eigentlich so recht weiß, wie weit die ihm zugedachten Kompetenzen reichen und wem letztlich seine Reformen zu dienen haben. Ein großes Missverständnis wäre es, wenn er Europa für ein starkes Frankreich, statt ein starkes Frankreich für Europa einzuspannen suchte. Am Ende bildet sich der Franzose noch ein, er könne mit seinen Ideen eines europäischen Budgets einen auf gemeinsame Kasse machen und so an ‚unser‘ Geld rankommen.

3. Народ

Derweil finden am russischen Nationalfeiertag Demonstrationen in Russland statt. Mit den Parolen „Russland ohne Putin!“, „Putin ist ein Dieb!“ liegen die Demonstranten bereits vollständig richtig, schließlich richten sie sich damit entschieden gegen den Mann, den man auch hierzulande nur schwer leiden kann. Wer dort auf die Straße gegangen ist, ist der hiesigen Begutachtung sonnenklar: Demonstriert wurde in „mehreren“ Städten zu „tausend“, also ‚landesweit massenhaft‘, also war es das russische Volk, das sich zu Wort gemeldet hat; in manchen Städten allerdings nur zu „zehnt“, also das unterdrückte russische Volk. ‚Unser Mann vor Ort‘ ist in diesem Fall der Oppositionspolitiker Nawalny, gerne auch mal als „Chauvinist“ gebrandmarkt. Aber wenn es darum geht, die deutsche Putin-Feindschaft im Namen des russischen Volkes zu pflegen, darf man eben nicht wählerisch sein und mit Maßstäben der ‚Political Correctness‘ hausieren gehen: Der Mann hat – mit welchen Parolen auch immer – „Mobiliserungspotenzial“, um das Volk gegen den Störenfried der Deutschen an der Staatsspitze aufzuhetzen; und darauf kommt es an. Dass den Demonstranten Hundertschaften an Polizisten gegenüberstehen, die nicht lange zögern, hart durchzugreifen – wofür „Ordnungskräften“ hierzulande in einschlägigen Fällen viel Respekt gezollt wird, weil sie sich um die Wahrung der Sicherheit „friedlichen“ Demonstrierens verdient machen –, ist in Russland ein einziger Beleg dafür, dass die Demokratie mit Füßen getreten wird. Putin hört seinem Volk, also uns, einfach nicht zu. Dass der Mann sich so renitent an der Macht hält, liegt in den Augen deutscher Beobachter wahrscheinlich einzig daran, dass sein Unterdrückungsregime derart erfolgreich ist, dass sich das Volk nicht mal traut, seinem Unterdrücker in der Wahl die Stimme zu verweigern.

4. Bloß ‚il popolo‘ tanzt mal wieder aus der Reihe

Die deutsche Brille guckt sogar in italienische Städte hinein, in denen Bürgermeister gewählt werden. Selbst hier kann nämlich ein Volk nach deutschen Vernunftmaßstäben manches richtig oder falsch machen. In der ersten Runde der Kommunalwahlen der 5-Sterne-Bewegung eine Niederlage zu bescheren, bleibt jedenfalls von deutscher Seite nicht ungewürdigt: Immerhin bekommt ihr vorsitzender Clown für seinen gegen Europa und gegen das deutsche Sparregime gerichteten Kurs seine verdiente „kalte Dusche“. Die Enttäuschung folgt jedoch prompt in der zweiten Wahlrunde: Was nutzt es Deutschland, wenn die „ehemaligen linken Hochburgen“ von Genua bis zum ehemaligen „Stalingrado“ Sesto San Giovanni von einem Mitte-Rechts-Bündnis „gestürmt“ werden, das sich selbst nicht einig und mit seinen „Hahnenkämpfen“ zum Regieren kaum geeignet ist, und der nächste Clown, Berlusconi, wieder die Bühne betritt? Die Kommunalwahlen sind somit ein schlechtes Omen für die anstehende große Wahl: Es steht zu befürchten, dass die Italiener wieder nicht liefern, worauf es bei einer ordentlichen Wahl doch mindestens ankäme: eine Regierung, mit der Deutschland kalkulieren kann. Wer ‚unser Mann in Italien‘ ist, bleibt bis auf Weiteres eine große Leerstelle.

© 2017 GegenStandpunkt Verlag

Chronik (3)
Das Betriebsrentenstärkungsgesetz:
Ein Etappensieg im Kampf des Sozialstaats für ein Leben im Alter

Das mit dem Wortungetüm ‚Betriebsrentenstärkungsgesetz‘ bezeichnete Werk ist ein weiterer Etappensieg in dem jahrzehntelang geführten ‚Kampf‘ des Sozialstaats gegen die ‚Altersarmut‘, die nach Auskunft der Politik längst nicht mehr bloß diversen ‚Einzelschicksalen‘, sondern der Klasse der Lohnabhängigen überhaupt droht. Dass die erste Front in diesem ‚Kampf‘ auf dem Feld der gesetzlichen Rente liegt, ist allen Beteiligten klar – schlicht deswegen, weil ihnen ebenso klar ist, dass ohne staatliche Intervention in die privaten Einteilungskünste der Bürger ein Leben im Alter einfach nicht zu haben ist. Auch darüber herrscht Konsens: Dass dieser Umstand einen Einspruch gegen das nationale Lohnniveau begründen würde, ist als üble Nachrede der Linkspartei zu verbuchen, die sich damit außerhalb der Debatte stellt; dass die Höhe dieses Lohnniveaus in Ordnung geht, hat man ja schwarz auf weiß in den einschlägigen Statistiken zu Wachstum und Beschäftigung. Und schließlich gilt unter den marktwirtschaftlich verantwortlicheren Parteien jenseits aller Differenzen in der Frage, wie die Modalitäten der gesetzlichen Rente denn umzugestalten sind, seit Jahren als ausgemacht, dass auch die schönste Reform der gesetzlichen Rente nicht ausreichen wird, um sicherzustellen, dass es auch nach einem Leben in Lohnarbeit möglich ist, von ihr zu leben. Zusätzliche ‚Säulen‘ bei der Altersvorsorge müssen also her; und die müssen die Leute, die sie brauchen, selbst auf dem Fundament aufbauen, auch wenn – dies der Ausgangspunkt der ganzen Angelegenheit – der Lohn der Einzelnen ein Leben im Alter niemals hergibt.

 

Das alles muss man aber nicht gleich so negativ sehen:

„Wer ein Leben lang gearbeitet hat, der muss im Alter abgesichert sein. Das ist für mich eine der Kernaufgaben des Sozialstaates in unserem Land. Meine persönliche Überzeugung ist: Jede und jeder muss die Möglichkeit haben, den gewohnten Lebensstandard im Alter zu erhalten. Das Fundament dafür ist mit Sicherheit die gesetzliche Rentenversicherung.“ (Arbeitsministerin Nahles vor dem Bundestag, 10.3.17)

Man kann den Mangel ja auch als Beitrag fassen, egal wie hoch die gesetzliche Rente ausfallen mag. Die Errichtung und der Ausbau aller zusätzlichen ‚Säulen‘ gelten aus dieser konstruktiven Sicht eben nicht als das Stopfen einer Lücke, die die gesetzliche Rente hinterlässt, sondern als ein Bonus – und sei er noch so notwendig: „Die zusätzliche Altersvorsorge muss dann – das ist meine Überzeugung – als Plus oben draufkommen.“ Und an der Stelle kommen die schwarz-roten Sozialpolitiker auf einen alten Freund zurück:

„Vor allem für Geringverdienende schlagen Kollege Schäuble und ich mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz deutliche Verbesserungen vor. Dabei sind Betriebsrenten – das will ich deutlich hervorheben – die älteste, die wichtigste und die kostengünstigste Zusatzversorgung im Alter.“ (Ebd.) Das Gesetz schafft „neue attraktive Möglichkeiten für zusätzliche Altersvorsorge für Arbeitnehmer mit kleinen und mittleren Einkommen und für kleine und mittlere Betriebe“ (www.bundesregierung.de, 7.7.).

Die Betriebsrente ist zwar bei großen Unternehmen längst etabliert, doch ansonsten erscheint diese bislang viel zu wenigen so „attraktiv“ wie der Ministerin.1) Dafür muss zuerst alles beseitigt werden, was die Unternehmen, vor allem die kleinen und mittleren, bisher abgeschreckt hat. Der erste große „wesentliche Hemmschuh“ besteht bislang darin, dass den Unternehmen als Folge etwaiger Zusagen bei der Organisation einer Betriebsrente ein „Haftungsrisiko“ erwächst, das wiederum darin besteht, dass sie ihren Beschäftigten die vereinbarte Rente allen Ernstes zahlen müssen, auch wenn es sich für den Betrieb nicht rechnet – ein einziger Verstoß gegen die marktwirtschaftliche Vernunft. Mit einem ‚Garantieverbot‘ bannt das neue Gesetz dieses Risiko und stiftet Rechtssicherheit. Die Unternehmen vereinbaren mit dem gewerkschaftlichen Tarifpartner stattdessen eine ‚Zielrente‘, die den Arbeitnehmern keinen festen Rentenbetrag zusichert; vereinbart werden vielmehr „sogenannte reine Beitragszusagen“, die die Unternehmen an „Versorgungseinrichtungen, etwa an den Pensionsfonds, eine Pensionskasse oder eine Direktversicherung“ zahlen – und damit hat sich die Sache für sie erledigt. Das Prinzip heißt ‚pay and forget‘ und entbindet die Unternehmen von einem Stück Verantwortung; von der haben sie beim Geschäftemachen ohnehin genug zu tragen. Umso mehr Verantwortung haben die Gewerkschaften zu tragen, die zusammen mit ihren unternehmerischen Sozialpartnern dazu befähigt werden, „sachgerechte und angemessene Betriebsrenten zu erreichen“ – eben solche, die der Sache der Unternehmer besser gerecht werden, damit es die Betriebsrenten überhaupt gibt. „Angemessen“ ist das durchaus, jedenfalls aus Sicht der Gewerkschaften, die die Stärkung der Betriebsrente längst zum wesentlichen Bestandteil ihres Forderungskatalogs gemacht haben. Sie sind sich an der Stelle – als Experten in Sachen Solidarität – mit Frau Nahles einig:

„Wie bei der gesetzlichen Rente gilt auch hier: Niemand kann alleine für ein sicheres und gutes Auskommen im Alter sorgen. Nur alle zusammen bekommen das hin.“ (Nahles vor dem Bundestag, 10.3.)

Daher muss die Betriebsrente im Sinne der Solidarität auch für die sogenannten ‚Versorgungseinrichtungen‘ attraktiver werden, an die die Unternehmer die einschlägigen Beiträge zahlen und gegenüber denen die Arbeiter Rentenansprüche haben. Für diese Finanzkapitalisten ist die Innovation aus dem Haus Nahles ein wahrer Befreiungsschlag, weil ein Versicherungsgeschäftsangebot der besonderen Art. Denn laut der Ministerin bietet das Gesetz „eine Antwort auf die lange Niedrigzinsphase“, die diesen finanzkapitalistischen Risikoexperten derzeit kaum Gelegenheit bietet, aus ‚Pensionsfonds‘ oder dergleichen ein ‚Renditeobjekt‘ zu machen, solange der Gesetzgeber sie verpflichtet, das Geld der Beschäftigten ‚mündelsicher‘ anzulegen. Auch diesen „Hemmschuh“ beseitigt das Gesetz, indem es die engagierten Versicherungsunternehmen von „Garantien und Mindestleistungen“ entbindet, also auch sie von einem „Haftungsrisiko“ befreit – umso freier sind sie dann, mit dem eingesammelten Geld die Risiken einzugehen, die sie für lohnend erachten. Die „Zusatzversorgung“ namens Betriebsrente muss also den Unternehmen zusätzlichen Schutz gegen Kosten und den Versicherungsunternehmen zusätzliche finanzkapitalistische Freiheiten bieten, damit sie überhaupt zu einer angebotenen Option wird – für die Geringverdiener, die das Geld für die zusätzliche Altersvorsorge aufzubringen haben, und für die das Geld jetzt schon nicht reicht. Letztere profitieren aber als Betriebsrentenanwärter in jedem Fall, denn falls die Anlage scheitert, ist zwar ihre Rechnung mit dieser zusätzlichen Altersversorgung hin, aber der Totalverlust der eingezahlten Gelder ist gesetzlich verboten – eine echt attraktive Säule!

Dabei setzt die Ministerin darauf, dass das sichere Risiko, im Alter garantiert noch viel schlechter über die Runden zu kommen als jetzt, für den nötigen Anreiz zum zusätzlichen Sparen sorgt. Andererseits ist auch der Ministerin bekannt, dass die Alternative, für den möglichen Vorteil – ein wenig mehr Geld im Alter – den sicheren Nachteil – noch weniger Geld jetzt – in Kauf zu nehmen, der Grund dafür ist, dass „längst nicht alle im Land“ eine private Alterszusatzvorsorge betreiben. Deswegen schlägt sie zusammen „mit Kollege Schäuble“ zahlreiche „deutliche Verbesserungen“ für solche Geringverdiener vor; die lassen sich allerdings angesichts aller möglichen Rechtsfolgen, die sich aus der Einführung der Betriebsrente für Steuern und sonstige Beiträge zu und Ansprüche an andere Sozialversicherungen ergeben, gar nicht so leicht herbeiregieren. Für den Gesetzgeber stellen sich nämlich lauter Fragen: Sind die Einzahlungen in die Betriebsrente steuerpflichtig und/oder die Auszahlungen? Wie ist es mit Sozialabgaben darauf? Wie sind die lohnabhängigen Beiträge in die Krankenkasse zu berücksichtigen? Inwieweit bewirkt ein Eingriff an einer Stelle möglicherweise missliebige Folgen an anderer Stelle?

Es ist offenbar gar nicht so leicht, zusätzliche Summen aus einem Lohn herauszuwirtschaften, der erstens nicht steigen darf und zweitens schon dermaßen verstaatlicht ist, also längst für den Erhalt der ganzen Klasse der Lohnabhängigen gestreckt wird. Das weckt allerdings das Verantwortungsbewusstsein von Sozialpolitikern umso mehr; es beflügelt sie zu immer neuen Reformkunststücken, auf deren Wirkungen sie wiederum ein Auge behalten müssen. Die Kollegen für Soziales in der Großen Koalition sind sich jedenfalls sicher, die richtigen Antworten auf diese rechtlichen und finanziellen Fragen gefunden zu haben, so dass sich für die Arbeitnehmer lauter kleine Mini-Hebel ergeben, die sich an der trostlosen Entscheidung über Haben und Nichthaben von Cent-Beträgen ansetzen lassen: Der Lohnanteil, den der Arbeitnehmer in die Betriebsrente steckt, wird von Steuern befreit; der Beschäftigte kann also ausrechnen, um wie viel größer der jetzt eingesparte Steuerbetrag im Vergleich zum Betrag ist, der später fällig wird, falls die Betriebsrente zu einem höheren Einkommen führt. Die Abgabefreiheit wird von vier auf acht Prozent der Beitragsbemessungsgrenze erhöht, also kann man statt bisher ca. 3000 Euro nun ca. 6000 Euro steuerfrei einzahlen – ein echter Vorteil für den Geringverdiener, sofern er so viel Geld übrig hat. Immerhin wird der Lohnanteil, der in die Betriebsrente eingezahlt wird, von Sozialabgaben befreit; das verringert allerdings den Bruttolohn – auch um den Anteil des Arbeitgebers –, sodass weniger Sozialabgaben einbehalten werden; das verringert aber wiederum die Ansprüche auf Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Für den verantwortlichen Geringverdiener steht also die Frage an: Ist die Einsparung größer als der Verlust? Wird der Verlust durch die Betriebsrente kompensiert? Gleiches gilt für die Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung; bei seinem Kampf um einstellige Eurobeträge darf der Beschäftigte mit seinem niedrigeren Bruttolohn daher nicht vergessen, dass auch sein Anspruch auf Arbeitslosengeld kleiner wird. Und laut dem Gesetzgeber müssen natürlich auf jeden Fall auch noch Krankenkassenbeiträge von der Betriebsrente erhoben werden, schon allein wegen der Generationengerechtigkeit.2) Dafür beseitigt das Gesetz eine bis dato existierende ‚Gerechtigkeitslücke‘, indem es den Unternehmern etwas nimmt, ohne sie ungebührlich zu schädigen: Was diese durch die Verringerung des Bruttolohns an Sozialabgaben einsparen, dürfen sie zukünftig nicht mehr, wie bislang vielfach praktiziert, einfach einbehalten, sondern müssen sie in die betriebliche Alterssicherung abführen. Diesen Betrag kann der zukünftige Rentner schon mal als den Grundstock einer Altersrente verbuchen.

Und noch ein ganz besonderes Zuckerl hält das neue Gesetz für die ‚Geringverdiener‘ bereit:

„Dieser Schritt ist wirklich ein historischer Schritt. Das hat es noch nie gegeben. Es bestand gerade für Geringverdiener ein großes Hemmnis. Viele haben ja gesagt: Ich weiß gar nicht, ob ich im Leben so viel verdiene, dass ich am Ende über die Grundsicherung komme. Warum soll ich jetzt in die private Rente oder in die Betriebsrente einzahlen? An dieser Stelle sagen wir jetzt: Ihr könnt, egal wie eure Erwerbsbiografie am Ende verlaufen ist, rund 200 Euro behalten.“ (Nahles vor dem Bundestag, 10.3.)

Mit diesem „historischen Schritt“ springt die Ministerin über ihren Schatten: In den Fällen, in denen die gesetzliche Rente unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums liegt, verzichtet sie glatt darauf, die privat angesparte Rente komplett einzubehalten. Großzügiger geht es kaum. Kaum zu glauben, dass sie sich immer noch nicht darauf verlassen will, dass die dermaßen verwöhnten Geringverdiener dieses Rentengeschenk von sich aus annehmen – jedenfalls hilft sie der Entscheidung des Arbeitnehmers für oder gegen Altersvorsorge noch einmal kräftig nach: Durch das Tarifvertragsmodell ist der mit einem Zusatzrentenangebot Beglückte automatisch an der Betriebsrentenabmachung beteiligt und muss der tarifvertraglichen Regelung selbst aktiv widersprechen, wenn er sich ihr entziehen will. Dazu ist er aber glatt immer noch berechtigt! Eine durchaus gelungene Kombination aus Zwang zur Solidarität und Schutz der Freiheit – in der deutschen sozialen Marktwirtschaft 2017 kann man einfach alles haben.

1) Viele besonders kapitalkräftige Großkonzerne bieten ihren Beschäftigten eine betriebliche Rente als Bonus, um sie langfristig an die Firma zu binden. Diese freiwillige Aufstockung des Lohns, die nie die Qualität einer allgemein verbreiteten Altersvorsorge erreicht hat, wird von dem neuen Gesetz nicht tangiert. In diesem geht es vielmehr darum, das bereits seit Jahren vorwiegend praktizierte Modell der ‚Entgeltumwandlung‘ vor allem in ‚kleinen und mittleren Betrieben‘ zu etablieren.

 

2) „Die Verbeitragung von Versorgungsbezügen aus Betriebsrenten ist ein unverzichtbarer Bestandteil für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und für einen ausgewogenen Ausgleich zwischen der Förderung der bAV [der betrieblichen Altersvorsorge] und der Generationengerechtigkeit der GKV.“ (24.2.17, Stellungnahme der Bundesregierung zu Anfragen des Bundesrats)

© 2017 GegenStandpunkt Verlag

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