Große Werke der Literatur XIV

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III.

Die am Ende der ersten Strophe durch das Andenken evozierte Szenerie ist offenbar mit dem scharfen Ufer und dem tief herabfallenden Bach unwegsam und nicht ungefährlich, deswegen der menschengemachte Steg. Er gibt Sicherheit und schafft eine Verbindung. Das Baumpaar schaut darüber hin, als würde es darüber wachen. Die Eiche, die Silberpappel und, in der folgenden Strophe, der Ulmwald werden wohl nicht nur aus geographischen Gründen erwähnt. Hölderlin kannte natürlich die Freiheitssymbolik der Eiche, wie ihre Verwendung im Gedicht Die Eichbäume belegt. Wie der knorrige Wuchs der Eiche Unbeugsamkeit, Widerstandsfähigkeit und Freiheit symbolisiert, so konnte auch der aufrechte Wuchs der Silberpappel und der Ulme Freiheit symbolisieren. Daher wurden während der Revolutionszeit in Frankreich überall Eichen, Pappeln oder Ulmen als Freiheitsbäume gepflanzt. Auch ‚republikanische‘ Haine, Wälder und öffentliche Gärten wurden angelegt.1 Diese politische Bedeutung von Pappeln, Ulmen, Wäldern und Gärten kannte Hölderlin gewiss. Insofern soll wohl mit der Erwähnung der Gärten, des Paars aus einer Eiche und einer Silberpappel und des Ulmwaldes eine politische Bedeutung assoziiert werden. Da die Eiche traditionell eher mit Deutschland verbunden wird, die Silberpappel eher mit Frankreich, vereinigt dieses Baumpaar synekdochisch Deutsches und Französisches.2

Überblickt man das ganze Gedicht, fällt auf, dass es neben dem Baumpaar zu weiteren Paarbildungen kommt: Strom und Bach, Ulmwald und Mühle, Hof und Feigenbaum, Nacht und Tag, Bellarmin und der Gefährte, implizit die Dordogne und Garonne, die sich zur Gironde vereinigen. Ganz sacht wird in dieser Szenerie das Natürliche und das Menschengemachte personifiziert und einander angenähert: Der Steg geht hin, das Baumpaar schaut darüber hin, in der Folge ist von ‚langsamen‘ Stegen, eine metonymische Bildung, die Rede, dann von einwiegenden Lüften.

Noch denket das mir wohl und wie

Die breiten Gipfel neiget

Der Ulmwald, über der Mühl,

Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum.

Die zweite Strophe beginnt mit einem Innehalten: „Noch denket das mir wohl“. Eine Formulierung, die in Mundarten, auch in der schwäbischen, verbreitet ist. Sie bedeutet soviel wie ‚Noch erinnere ich mich wohl/gut daran‘. Aber so heißt es nicht, vielmehr: „Noch denket das mir wohl“. Ausgedrückt wird das Geschehen eines Andenkens, das nicht vom Subjekt, sondern von diesen erinnerten Orten seinen Ursprung nimmt, ausgedrückt wird ein An-das-Subjekt-heran-Denken. Eine Alltagswendung wird hier wegen ihrer immanenten Einsicht verwendet. Wir reden ja auch davon, dass eine Erinnerung kommt oder nicht kommt. So erhält Andenken im Gedicht eine doppelte Bedeutung, etwas, was das Subjekt tut, und etwas, was ihm ‚noch‘, wie es heißt, geschieht. In der ersten Strophe geht es um eine Bewegung vom Subjekt weg und hinaus in einen Aufbruch, hier nun umgekehrt um eine Bewegung auf das Subjekt zu. Diese beiden Bewegungen werden aufgenommen im ‚Sagen‘ und ‚Hören‘ in der dritten Strophe und im ‚Nehmen‘ und ‚Geben‘ des Gedächtnisses in der letzten Strophe. Das „Noch“ impliziert das Wissen, dass Erinnern, dass Andenken vergehen kann.

Dem Subjekt „denket“ nun eine weitere Szene, in ihr eine fast zärtliche Verbindung von Natur, Kultur und Arbeit. Der Ulmwald neigt sich über die Mühle. Wie beiläufig kommt es dabei zu einer Verbindung von Abendländischem und Morgenländischem. Die Ulme ist ein abendländischer Baum, der Feigenbaum, der im Hof „aber“ – jetzt wohl mehr adversativ zu verstehen – wächst, ein morgenländischer. Er kam aus Indien nach Europa und wurde in der Antike seiner Fruchtbarkeit wegen den Göttern Ceres und Dionysos zugeordnet.3 Er ist in den Hof integriert. Seine Frucht, die Feige, hat schon in der Antike eine erotische Bedeutung. Dieser Feigenbaum leitet, auch lautlich alliterativ, zu den Feiertagen über, an denen die braunen Frauen auf einen Tanzboden gehen, der wie aus Seide glänzt. Von Feiertagen und Tanz ist auch in der übernächsten Strophe die Rede.

An Feiertagen gehen

Die braunen Frauen daselbst

Auf seidnen Boden,

Zur Märzenzeit,

Wenn gleich ist Nacht und Tag,

Und über langsamen Stegen,

Von goldenen Träumen schwer,

Einwiegende Lüfte ziehen.

Der Ausdruck „braune Frauen“ konnotiert etwas Südliches, Vitales, Erotisches, Faszinierendes, das ‚Braune‘ auch Arbeit, ein Leben in der Sonne, nicht ‚unter Schatten‘, eine Selbstbehauptung also. Daselbst, wie es zur Bekräftigung der Ortsangabe heißt, ist der seidne Boden; ‚daselbst‘ kann sich aber auch auf die erinnerte Bordelaiser Örtlichkeit insgesamt beziehen.4 Diese Feiertage finden zur „Märzenzeit“ statt, zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche, also am 20. bzw. 21. März, dem Frühlingsanfang. Hölderlin stellt um und schreibt „Nacht und Tag“. Die Nacht und die Erinnerung an die „langsamen Stege“, über die, schwer von „goldenen Träumen“, einwiegende Lüfte ziehen, bereiten das Verlangen zu ruhen vor, von dem in der folgenden Strophe die Rede ist. Einwiegende Lüfte: ‚eingewiegt‘ wird in den Schlaf, ‚eingewiegt‘ wird ein Kind. Das Subjekt überlässt sich seinen Erinnerungen bis zum Schwinden der Distanz zum Erinnerten, bis zum Versinken in einer ‚goldenen‘ kindlichen Traumwelt. Diese Passage hat eine Parallele in der Hymne Mnemosyne. Auch dort findet sich, formuliert in einer sermocinatio,5 das regressive Verlangen in einen kindlichen, geschichtslosen Zustand. Der Vergleich mit dem ‚schwanken Kahne‘ offenbart aber schon das Illusorische dieses Verlangens:

Vorwärts aber und rückwärts wollen wir

Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie

Auf schwankem Kahne der See (V. 15–17).

Von was träumt das Subjekt in „Andenken“, wenn es sich solchen „goldenen Träumen“ überlässt?

Es reiche aber,

Des dunkeln Lichtes voll,

Mir einer den duftenden Becher,

damit ich ruhen möge; denn süß

wär’ unter Schatten der Schlummer.

Mit großer Gebärde6 verlangt das lyrische Subjekt, das sich hier in eine Trinkgesellschaft imaginiert, einen „duftenden Becher“, voll „dunkeln Lichtes“, damit es ruhen möge. Natürlich liegt es nahe, beim wunderbaren Oxymoron ‚dunkles Licht‘ an den Rotwein zu denken, für den die Gegend von Bordeaux berühmt ist. Von „Traubenbergen“ ist ja auch die Rede. Hält man ein Glas Rotwein ins Licht, ist er dunkeln Lichtes voll. Die große Gebärde ist schon eine wie in der Trunkenheit.

Nun sind der Wein, der Rausch, wie der Feigenbaum, die Nacht, das Feiern und der Tanz mit dem Gott Dionysos verbunden7 Diesem Gott kommt in Hölderlins geschichtspoetischer Welt eine zentrale Bedeutung zu.8 In diesem Kontext des Dionysischen wird das Oxymoron ,dunkles Licht‘ auch als ein Bild verständlich, mit dem die Erfahrung einer göttlichen Macht zu fassen versucht wird. In mittelalterlicher und neuzeitlicher Theologie, von Dionysos Areopagita über Nikolaus von Kues, Giordano Bruno bis zu Grimmelshausen wird das Oxymoron ,dunkles Licht‘ oder ,lichte Finsternis‘ gewählt, um die übermächtige Wirkung Gottes zu treffen.9 Die Überfülle des göttlichen Lichts blendet den Menschen, so dass er sie als Dunkelheit wahrnimmt. Das Oxymoron geht wohl zurück auf die biblische Apostelgeschichte, auf die Erzählung von der Bekehrung des Paulus. Paulus wird von einem großen Licht umleuchtet und hört die Aufforderung von Jesus, nach Damaskus zu gehen. Dann heißt es: „Als ich aber vor Klarheit dieses Lichtes nicht sehen konnte, ward ich an der Hand geleitet von denen, die mit mir waren, und kam nach Damaskus.“ (Apg. 22, 11) Hier, in Hölderlins Gedicht, im Kontext des Dionysischen, geht es um die Erfahrung einer Macht, in der „Nacht und Tag“, Schwinden des Bewusstseins und Bewahren des Bewusstseins auf dem Spiele stehen.

Der Genuss des Weines, der Rausch, soll in die Ruhe, in den Schlummer unter Schatten – Schatten von Bäumen, wie man hinzudenken kann – übergehen. Das wäre „süß“ – ein Adjektiv aus der Welt der Idylle,10 aber auch aus der Welt des Kindlichen. Der süße Schlummer unter Schatten: Ein harmloses, weinseliges, idyllisches Bild, würde die Formulierung „unter Schatten“ für die Zeitgenossen nicht auch die Vorstellung aus der antiken Mythologie und Literatur aufrufen, wonach die Verstorbenen als umbrae oder simulacra, als „Schatten“11 in der Unterwelt leben. Es heißt auch „unter Schatten“, nicht ‚im Schatten‘ oder ‚unter dem Schatten‘. Das „Reich der Schatten“ war im 18. Jahrhundert ein gängiger Ausdruck für die antike Unterwelt. In Hölderlins Gedicht An die Parzen wird die Unterwelt, der „Orkus“, als „Schattenwelt“ (V. 9) imaginiert.12 Daher verbirgt sich im Wunsch, unter Schatten zu schlummern, ein Todeswunsch. Dafür spricht auch die Wendung vom „duftenden Becher“, die auf den Becher des Sokrates anspielt, aus dem er das tödliche Gift zu trinken hatte.13 Schließlich ist Dionysos als Vegetationsgott nicht nur der Gott des Weines, der Feier, des Rausches, der Befreiung, der Wanderung über Kontinente hin, sondern auch der Gott des Todes. So geht aus der dionysischen Landschaft von Bordeaux, den goldenen Träumen, den einwiegenden Lüften, dem duftenden Becher, den Schatten die Welt der Griechen hervor, die Welt des dionysisch dunklen Lichts. Es ist eine Welt des Todes, in die sich das Subjekt zu verlieren droht.

Der „Wunderwelt“14 der Griechen galt die lebenslange Liebe Hölderlins. Griechenland war ihm das Land der Demokratie, der Menschlichkeit und der Kunst. Wie wohl keiner sonst der europäischen Griechenlandverehrer hat er das solcherart verklärte antike Griechenland geliebt. Gleichzeitig hat Hölderlin in dieser Liebe zum antiken Griechenland etwas Pathologisches wahrgenommen, eine Liebe zu Toten. Eine „Todeslust“ hat er auch den Griechen selbst zugeschrieben.15 Die frühe Hymne Griechenland endet mit der Strophe

 

Mich verlangt ins ferne Land hinüber

Nach Alcäus und Anakreon,

Und ich schlief’ im engen Hause lieber,

Bei den Heiligen in Marathon;

Ach! Es sei die letzte meiner Tränen,

Die dem lieben Griechenlande rann,

Lasst, o Parzen, lasst die Schere tönen,

Denn mein Herz gehört den Toten an.16

In ihrer Tiefenanalyse eine, soweit ich sehe, im europäischen Klassizismus singuläre Position!17

Der Konjunktiv II von „süß/Wär‘ unter Schatten der Schlummer“ drückt eine Sehnsucht, eine Versuchung, sich aufzugeben, aus, aber auch schon eine Distanzierung. Von dieser Versuchung löst sich das lyrische Subjekt dann abrupt:

Nicht ist es gut

Seellos von sterblichen Gedanken zu sein. Doch gut

Ist ein Gespräch und zu sagen

Des Herzens Meinung, zu hören viel

Von Tagen der Lieb,

Und Taten, welche geschehen.

Die Negationspartikel steht, wie abwehrend, in der syntaktischen Spitzenstellung: Nicht! Dieser Vers steht in der Mitte des Gedichts. „Sterbliche Gedanken“ sind Gedanken an Sterbliches, Gedanken an den Tod und an Tote. Das Attribut in Linksstellung hat die Funktion eines präpositionalen Attributs in Rechtsstellung.18 In rhetorischer Terminologie liegt wieder eine Metonymie vor, analog zu „langsamen Stegen“. Diese „sterblichen Gedanken“ bewirken eine ,Seellosigkeit‘. Was könnte „seellos“ bedeuten? Implizit geht diese Bedeutung aus dem Kontext hervor. Gut wird der Austausch im Gespräch genannt, das Sagen des „Herzens Meinung“, das Hören von „Tagen der Lieb‘“ und „Taten, welche geschehen“. „Meinung“ bedeutet auch noch ‚Glaube‘ und ‚Liebe‘. „Freiheit, die ich meine, / Die mein Herz erfüllt“, dichtete 1812 Max von Schenkendorf. Sacht werden die Liebe und die Taten auch als Vorgänge der Natur und der Geschichte vorgestellt, „Tage“ der Liebe, Taten, „welche geschehen“.19 „Seellos“ bedeutet dann die Verlorenheit in den Gedanken an den Tod, das Nur-auf-sich-Bezogene, das Sich-Abschließen vom Gespräch, vom Austausch mit anderen und von den Geschehnissen der Gegenwart – Eine Art lebendiger Tod. In der Ode Ermunterung verwendet Hölderlin den Ausdruck „seelenvolle“, einen Gegenausdruck zu „seellos“. Der „Otem“ der Natur wird der „Alleserheiternde, seelenvolle“ genannt (V. 11–12). Er ist seelenvoll, da er empathisch alles ‚erheitert‘, d.h. klärt und freudig stimmt, auch das „du“, das zuvor mit einem „kahl Gefild“ (V. 10) verglichen wird.

Nun hat man schon länger darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck „sterblichen Gedanken“ dieselben Anfangsbuchstaben enthält wie ‚Susette Gontard‘.20 Ist diese Übereinstimmung intendiert, dann läge hier der geheime Impuls für die auffallenden Paarbildungen im Gedicht, dann läge darin auch eine Mahnung Hölderlins an sich selbst, sich nicht in den Gedanken an den Tod Susettes zu verlieren.

Die Reflexion des lyrischen Subjekts darüber, was nicht gut ist und was gut ist, führt zur Wendung auf die eigene Situation:

Wo aber sind die Freunde? Bellarmin

Mit dem Gefährten? Mancher

Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen;

Es beginnet nämlich der Reichtum

Im Meere. Sie,

Wie Maler, bringen zusammen

Das Schöne der Erd’ und verschmähn

Den geflügelten Krieg nicht, und

Zu wohnen einsam, jahrlang, unter

Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen

Die Feiertage der Stadt,

Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.

Gefragt wird nach einem besonderen Paar von Freunden: Bellarmin und sein Gefährte. Hölderlin hat seinen Freund Isaak von Sinclair als Bellarmin angedichtet, wie aus den Entwürfen zum Gedicht An Eduard hervorgeht.21 Dann wäre der Gefährte, da wir einen anderen Freund Sinclairs nicht kennen, Hölderlin selbst. Dies ergibt keinen Sinn. Der Leser von Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland wird an das Paar Hyperion und Bellarmin denken. Der Roman besteht hauptsächlich aus Briefen dieses Hyperion, dessen Name Griechisches konnotiert, an Bellarmin, dessen Name Französisches (bel, von beau: schön), Kriegerisches (lat. bellum: Krieg) und Germanisches (Arminius/Hermann der Cherusker) konnotiert. Was bedeutete es aber, wenn literarische Figuren als Freunde apostrophiert werden? Das lyrische Subjekt wäre dann ein einsames Subjekt, ohne reale Freunde. Aber vielleicht kommt es nicht auf diese Verbindung zum Roman an, sondern einfach darauf, dass das lyrische Subjekt von Freunden redet, und den durch die erläuterungslose Einführung von „Bellarmin/mit dem Gefährten“22 erzeugten Effekt einer authentischen, unmittelbaren Redesituation.

Die Freunde und, unbestimmt, „mancher“ sind offenbar aufgebrochen zu einer Meerfahrt. Es sind Schiffer, die mit ihren Waren, vergleichbar den Ausstellungen von Malern, das „Schöne der Erd“ zusammenbringen. – eine Handlung wie das Gespräch, das ja auch zusammenbringt. Im 18. Jahrhundert wurde nicht nur die ökonomische, sondern auch die kulturelle Leistung des Handels hervorgehoben. In Hölderlins Elegie Der Archipelagus (V. 72–75) wird der Kaufmann sogar mit dem Dichter verglichen:

Siehe! Da löste sein Schiff der fernhinsinnende Kaufmann,

Froh, denn es wehet’ auch ihm die beflügelnde Luft und die Götter

Liebten so, wie den Dichter, auch ihn, dieweil er die guten

Gaben der Erd ausglich und Nahes und Fernes vereinte.

Diese Freunde „verschmähn“ auch den Seekrieg nicht. Zu dieser Zeile konnte angemerkt werden: „Die emphatische Auszeichnung der Händler als Welt-Künstler genügt offenbar nicht. Handelgeist ohne Heroismus käme in den Verdacht der schlauen Geschäftstüchtigkeit.“23 Immerhin, das Leben dieser Kaufleute war nicht ungefährlich. Ihre Lebensform, „zu wohnen einsam, jahrlang, unter dem entlaubten Mast“ ist in ihrer Einsamkeit, Kahlheit und Askese die Gegenform zu der dionysischen Lebensform der Feiertage, die die Nacht durchglänzen, des Saitenspiels und des Tanzes. Das Laub, dessen Fehlen pleonastisch genannt wird, ist eines der Attribute des Dionysos. An diesen Schiffern und Kaufleuten vergewissert sich das lyrische Subjekt, dass auch die antidionysische Einsamkeit eine Lebensform ist, die produktiv gelebt werden kann. Der theologisch versierte Hölderlin mag auch das Bild des entlaubten Mastes gewählt haben, da der Mast zusammen mit der Rahe in christlicher Tradition das Kreuz bedeuten kann.24 Die asketische, einsame Situation auf dem Schiff könnte daher als ein zartes Symbol für die nachantike, christliche Welt verstanden werden.

Erläuterungsbedürftig sind noch die Zeilen

[…] Mancher

Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen;

Es beginnet nämlich der Reichtum

Im Meere. […]

Die Bedeutung der Passage ist vertrackt, da das „Beginnen“ nicht auf die Quelle, sondern auf das Meer bezogen wird. Wir könnten uns, vom ‚beginnen‘ ausgehend, das Meer, in dem der Reichtum beginnt, als die Quelle dieses Reichtums denken. Hölderlin konnte in Bordeaux erleben, wie der Handel über das Meer Reichtum hervorbringt. Die Konjunktion „nämlich“ hätte dann eine erläuternde Funktion. Warum „trägt“ mancher „Scheue“, an die Quelle zu gehen, wie es geradezu gravitätisch heißt? Scheue kann Angst, Furcht, Schüchternheit, Befangenheit, Unwillen, auch Ehrfurcht bedeuten. Ist die Zeile, das Meer mit der Quelle identifizierend, so zu verstehen, dass mancher schüchtern ist gegenüber dem Reichtum des Meeres oder sich vor den Gefahren des Meeres fürchtet? Eine ziemlich bemühte Interpretation. Andererseits drängt sich ein Verständnis auf, wonach die – noch ‚arme‘ – Quelle dem Reichtum, der im Meer beginnt, entgegengesetzt ist. Danach wäre „nämlich“ der Reichtum, der im Meer beginnt, der Grund dafür, den Gang zur Quelle zu scheuen. Die Konjunktion hätte dann eine begründende Funktion. Zu simpel wäre allerdings die Interpretation, dass materielle Gier die Scheu verursacht. Sie entspräche nicht der Bedeutung von „Scheue tragen“, ebensowenig dem Singular „die Quelle“ und der Gegenüberstellung von Quelle und Reichtum des Meeres. Was wäre diese Quelle? Sie könnte auch selbst der Grund dafür sein, dass mancher „Scheue“ trägt, zu ihr zu gehen. Geben die folgenden Zeilen einen Aufschluss?

Nun aber sind zu Indiern

Die Männer gegangen,

Mit dem Adverb „nun“ und dem Verbum ‚gehen‘ nehmen diese Zeilen die Aufforderung an den Wind zu Anfang auf, wie überhaupt dieses Verbum im Gedicht auffallend häufig gebraucht wird. Im Unterschied zur möglichen Alternative ‚gefahren‘, ‚gesegelt‘ oder ‚aufgebrochen‘ enthält ‚gegangen‘ ein Moment des Endgültigen.25 Das „Geh aber nun“ zu Anfang markiert den ersten Aufbruch, das entschiedene „Nun aber“ einen zweiten. Die Männer, das sind die Schiffer, die Kaufleute. Der Ausdruck „Männer“ stattet sie mit Heroismus aus. Mit „Indiern“ wird das Ziel dieses Aufbruchs angegeben.

Es ist fast unmöglich, bei diesen Zeilen nicht auch an Kolumbus zu denken, der den Seeweg nach Indien entdecken wollte, Amerika entdeckte und glaubte, er habe Indien entdeckt. Daher der Name ‚Westindische Inseln‘ für die Inselgruppe vor Mittelamerika, die Ausdrücke ‚Indios‘ und ‚Indianer‘. Könnte dann der Satz „Mancher/Trägt Scheue an die Quelle zu gehen“ etwa ironisch gemeint sein? Wie schon erwähnt unterhielt Bordeaux mit diesen Westindischen Inseln intensive Handelsbeziehungen. Mit den „Indiern“ wären dann die Bewohner der Neuen Welt gemeint, die ‚Indier‘ genannt wurden, weil Kolumbus sie für ‚Indier‘ hielt.26

In Indien, in Asien, also im Osten, sah nun Hölderlin, wie z.B. auch Herder und Hegel, den Ursprung der Weltgeschichte. Ihr Gang führt über Griechenland in das Abendland nach Deutschland, wie aus den Gedichten Germanien, Am Quell der Donau, Der Ister und Der Adler hervorgeht. Den Gang weiter in den Westen, in die Neue Welt, bedenkt das Hymnenfragment Kolomb. Nahe liegt daher die erwägende Frage – die Quelle dem im Meer beginnenden Reichtum entgegensetzend –, ob mit der Quelle metaphorisch dieser Ursprung der Geschichte im Osten gemeint ist, zu dem zu gehen „mancher Scheue trägt“. Denkt man bei den „Männern“ an Kolumbus und seine Männer, dann hatten diese Männer offenbar – „nun aber“ – keine Scheu zu „Indiern“ zu gehen. Ihr Weg führte aber nicht in den Osten, sondern in den Westen, in die ‚Neue Welt‘. Der artikellose und nicht weiter spezifizierte Ausdruck ‚Indier‘ bedeutet wohl die westlichen Indier, schließt aber die östlichen nicht aus. Ein leichter Verweis auf Indien, auf den Osten liegt wohl auch in den „Traubenbergen“, zusammen mit der „luftigen Spitz’“ der Ort, wo die Männer aufgebrochen sind. Von Dionysos, dem Gott des Weins, werden Fahrten bis zum Indus berichtet. So verstanden führte der Ausdruck ‚Indier‘ das Ende des Geschichtsgangs mit seinem Ursprung zusammen.27 Und so verstanden gehörte zum „Reichtum“, der im Meer „beginnet“, zum „Schönen der Erd’“, das zusammengebracht wird, auch der Gang und der Zusammenhang der Geschichte der Welt.

Der Ausdruck „die Männer“ kann zusätzlich von den Männern des Generals de Lafayette inspiriert sein, der 1777 von Bordeaux aus aufgebrochen war, den amerikanischen Unabhängigkeitskampf zu unterstützen. Um 1800 konnte man bei einem Aufbruch der „Männer“ zu „Indiern“ auch an Napoleon und seinen Feldzug nach Ägypten (1798/1799) denken. In den europäischen Zeitungen wurde anfänglich gemutmaßt, das Ziel der Flotte Napoleons sei Indien. Napoleon selbst wurde als Gott Dionysos, dessen Fahrten nach Westen und nach Indien führten, und als ein größerer Alexander mythisiert.28

Dort an der luftigen Spitz

An Traubenbergen, wo herab

Die Dordogne kommt,

Und zusammen mit der prächt’gen

Garonnee meerbreit

Ausgehet der Strom.[…]

Die luftige Spitze, von wo aus die Männer gegangen sind, bezieht sich auf den Bec d’Ambès am Zusammenfluss von Garonne und Dordogne zur „meerbreit“ ausgehenden Gironde. Das Luftige dieser Spitze konnotiert Freiheit und Verwegenheit. Dort befinden sich am östlichen Ufer auch heute Traubenberge. Der Ausdruck „Traubenberge“ kann zugleich Berge voll Trauben und Berge aus Trauben bedeuten. Eine dreifache Bedeutung erhält im Kontext der Ausdruck „ausgehet“: der Strom geht hinaus, die beiden Flüsse gehen zusammen aus wie ein Liebespaar und schließlich wird der Strom im Meer enden.

 

[…] es nehmet aber

Und gibt Gedächtnis die See,

Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen,

Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Die letzten vier Zeilen mit dem berühmten Schluss, oft parodiert wegen seines Anspruchs, bedenken Formen des Vergehens und Dauerns und die Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Dass Erinnerung vergehen kann, besagt vorher schon das „Noch denket das mir wohl“. Die See, metonymisch die Sphäre des heroischen Handelns, nimmt und gibt Gedächtnis. In ihrer jahrelangen Abwesenheit verliert sich das Gedächtnis der Seefahrer und ihrer Taten. In ihren Erzählungen und Berichten können jedoch wieder Taten und Personen erinnert, ‚gegeben‘ werden. So oder so ähnlich kann man sich die metonymische Wendung erklären. Was in der Sphäre der See dauert, ist der Wechsel, aber auch ein Ausgleich im Nehmen und Geben. Dieses Nehmen und Geben evoziert unwillkürlich die Bewegung der Gezeiten und Wellen. Dauer, Beständigkeit will auch die Liebe. Der liebende Blick will heften, er will ein Verbinden und Befestigen der Liebe. Doch bedeutet „fleißig“ auch, dass die Liebe sich um diese Dauer bemühen muss, dass sie sich ihrer Dauer nicht sicher sein kann.

In der Dauer übertroffen werden „aber“, adversativ, die Sphären der Taten und der Liebe von dem, was die Dichter stiften. Waren vorher die See und die Liebe die Subjekte des Handelns, also ‚überpersönliche‘ Mächte, so sind es nun Personen, die Dichter, welche handeln. Nach den Sphären der Taten und der Liebe ist mit ihnen die Sphäre des Andenkens, des Geistes verbunden. Hölderlin variiert hier den alten, schon antiken Topos, wonach erst die Dichter mit ihrem Werk den Taten der Menschen Dauer verleihen. Nahe liegt der Verweis auf Ovids Verse in seiner Klage über den Tod des Tibull,29 wonach das Werk der Dichter dauert und noch heute vom Ringen um Troja kündet: „Durat opus vatum Troiani fama laboris.“ Es gibt freilich in der Neuzeit von Petrarca (Africa) über Schiller (Nänie) bis zu Daniel Kehlmann (Ich und Kaminski) auch das Bewusstsein einer Vergänglichkeit der Künste und des Schönen.

Diese Überzeugung von der Dauer der Dichtung wird in Hölderlins Epoche weithin geteilt. Schiller redet in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen von den „unsterblichen Mustern“ der schönen Kunst (9. Brief) und Goethe lässt in Wilhelm Meisters Lehrjahre Wilhelm das ganze Arsenal der Dichterverherrlichung überschwänglich vorführen, einschließlich des Satzes, dass der „Überwinder der Welt“ (gemeint ist Augustus) dem Dichter (gemeint ist Vergil) huldigt, da ohne diesen „sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde“.30

In Hölderlins Gedicht heißt es „die Dichter“, nicht die Künstler. Wie auch Kant, Hegel, Schelling oder August Wilhelm Schlegel war Hölderlin davon überzeugt, dass Dichtung als sprachliche Kunst auch die geistigste und geistvollste Kunst unter den Künsten ist.31 Natürlich ist nicht jeder Dichter gemeint; Hölderlin denkt an die Großen: Pindar, Homer, Sophokles, Shakespeare, Klopstock, Schiller, Goethe, auch an sich selbst. Dass Dichtung Bleibendes, Unvergängliches hervorbringen kann, dafür stand für Hölderlin und seine Zeitgenossen die – durchaus nicht selbstverständliche – Geltung der antiken Dichtung ein. Wir mögen heute solche Ansprüche nicht mehr teilen und sie vermessen finden, aber immerhin, die Dramen des Sophokles faszinieren über Jahrtausende hinweg noch immer.

Nun variiert Hölderlin diesen Topos von der Dauer der Dichtung in „was bleibt“. In der Handschrift stand zuerst „Ein Bleibendes aber“. Im Unterschied zum Dauern akzentuiert das Bleiben stärker ein Überdauern, ein Bestehen und Sich-Behaupten gegenüber dem Unbeständigen.32 Dieser semantische Akzent findet sich auch sonst bei Hölderlin in der Verwendung von ‚bleiben‘. Im Gedicht Mein Eigentum wünscht sich das lyrische Subjekt z.B. „eine bleibende Stätte“ (V. 38), in Der Frieden wird der Frieden aufgefordert: „komm und gib ein/Bleiben im Leben, ein Herz uns wieder.“ (V. 43f.) Beklagt wird in der dritten Strophe von Rückkehr in die Heimat, dass „Kindes Ruh“, „Jugend und Lieb und Lust“ vergangen sind. „Doch du, mein Vaterland! du heilig – / Duldendes! Siehe, du bist geblieben.“

Das, was „aber“ bleibt, ist Ergebnis eines Stiftens. Stiften, d.h.: hervorbringen, ins Werk setzen, errichten, gründen, ursprünglich eine kirchliche Institution, z.B. eine dann so genannte Stiftskirche. Man kann Frieden, Ordnung, aber auch Unheil stiften. Religionen werden gestiftet.33 Im Hymnenfragment Luther („meinest du/Es solle gehen[…]“) wird der Untergang der griechischen Kultur dadurch erklärt, dass die Griechen ein Reich der Kunst „stiften“ (V. 3) wollten und darüber das „Vaterländische“ (V. 5) versäumten. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird im Lemma Gedächtnis sowohl die Wendung ‚ein Gedächtnis geben‘ als auch ‚das Gedächtnis stiften‘ vermerkt, ebenso ‚ein Gedächtnis stiften‘ durch eine Stiftung. Eine Institution wie das Tübinger Stift oder die Fugger-Stiftung in Augsburg wird auch gestiftet zum Andenken oder Gedächtnis des Stifters. Mit diesem Gedicht, heißt das auch, hat Hölderlin auch ein Andenken an sich selbst gestiftet. Im Kontext des Gedichts evoziert, vorbereitet durch den „entlaubten Mast“, der Ausdruck ‚stiften‘ auch den Stift zum Schreiben und Zeichnen.

Was macht das dichterische Werk aus, wenn von ihm gesagt werden kann, dass es bleibt? Wenn es, entnehmen wir die Antwort diesem Gedicht, individuelle Erinnerungen in ein Andenken überführt, wenn dieses Andenken das, worauf es gerichtet ist, auf menschliche Grundsituationen wie Liebe, heroische Taten, Aufbruch, wie die Vermittlung des subjektiven Handelns mit der Natur und der Geschichte, die Vermittlung von Fernem und Nahem, Einsamkeit und Gespräch, wie die Feier, wie die Gefahr des Selbstverlusts und die Selbstbehauptung hin öffnet. Wenn das Gedicht das Andenken selbst als die Kraft des Bewahrens und geistigen Durchdringens vorführt, wenn es eine künstlerische Form findet, die dem Gang des Andenkens eine ästhetische Evidenz verleiht. In einem Brief spricht Hölderlin vom „Kunstverstand“, der den „Genius vor der Vergänglichkeit bewahrt“ (389). Als solches, mit Kunstverstand formuliertes Andenken kommt Dichtung immer nach den Taten und Tagen, welche geschehen. Dichtung ist für Hölderlin wesentlich in solches Andenken überführte Erinnerung.

Damit das dichterische Werk bleiben kann, ist noch die Erfüllung einer weiteren Bedingung nötig. Gestiftet wird einem Adressaten für einen bestimmten Zweck. Die Fuggerstiftung soll z.B. Kranke und Bedürftige unter den Katholiken Augsburgs unterstützen. Auf das Gedicht bezogen heißt dies, gestiftet wird das Gedicht dem Leser oder Hörer zu seinem Nachdenken und zu seiner Freude. Mit der Stiftung soll etwas ins Werk gesetzt werden, sollen die Leser und Hörer angestiftet werden, im Sinne des Stifters etwas zu tun. Dies ist dann die Sache von uns Lesern und Hörern. Wir tragen dazu bei, ob das, was Dichter stiften, bleibt.