Große Werke der Literatur XIV

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Doch handelt es sich wirklich lediglich um eine „gequälte Seele“, um auf jenen urromantischen Topos zurückzukommen? Bleiben wir bei diesem, bzw. bei einem ihm engstens verwandten, dem Herzen. Es gilt seit dem Altertum als Vergegenständlichung von Verstand, Gefühl, aber auch Mut und Willen, erlebte in der Romantik jedoch eine Blütezeit. Auch hier ist nochmals ein kleiner Rekurs auf den Zyklus von ehedem, die Schöne Müllerin, nötig. Ist hier das Herz des Burschen zunächst eindeutig in seiner Diktion, gleich, ob es um Begeisterung für Braut und Natur oder um Groll dem Nebenbuhler gegenüber geht, so zeigt die Winterreise ein völlig verändertes Bild, korrespondierend mit dem gerade konstatierten Charakter des Unsteten. Das Herz ist aus dem Tritt, es ist heraus aus seiner Selbstverständlichkeit geraten. Ist der Müllerbursche verhaftet in der Irrationalität als, um mit Schopenhauer zu sprechen, „objektivierter Wille“ mit seinem Drang in die Welt und der „Vorstellung“ der Entscheidungsfreiheit des Individuums, so gibt es dessen regelmäßigen Pulsschlag in der Winterreise nicht mehr. Das Herz macht alles Mögliche und Kontrastierende, das es, im Einzelnen, in der Epoche der Romantik auch machen kann; nur ist dies hier in einem einzigen, nicht allzu umfangreichen Zyklus komprimiert. Gelegentlich scheint es sich sogar um zwei verschiedene Herzen zu handeln. Es wird mit einer Vielzahl von Funktionen in Verbindung gebracht, mit unterschiedlichsten Gefühlszuständen konnotiert, was den Eindruck des raschen, unvermittelten Szenenwechsels verstärkt, obwohl die motivischen Kohärenzebenen der Winterreise, trotz ihres vermeintlich Sprunghaften, so dicht wie kaum in einem anderen Zyklus sind. Christiane Wittkop fasst dies in wenigen Sätzen zusammen: Das Herz

ist anfangs passiv, ihm wird übel mitgespielt (Die Wetterfahne). Es ist die Quelle der heißen Tränen („Quelle/Der Brust“: Gefrorne Tränen). Es ist „wie erfroren“ (Erstarrung), es springt hoch auf, drängt wunderlich (Die Post), sieht „sein eignes Bild“ (Der stürmische Morgen), fühlt seinen „Wurm/Mit heißem Stich sich regen“ (Rast), ist wach, schlägt warm (Frühlingstraum), spricht, sagt und klagt (Muth!). Außerdem werden ihm die geistigen Fähigkeiten, fragen (Die Post) und erkennen (Auf dem Flusse) zu können, zugeschreiben“.24

Der Schluss jedoch, dass diese Sprunghaftigkeit der „Natur des Motivs“25 entspreche, führt in die Irre. Es ist nicht das Herz einer „gequälten Seele“, sondern ein solches, das seine Orientierung vollständig verloren hat, sich den Tod herbeisehnt, aber letztlich nicht – noch nicht, doch stetig mehr – weiß, wohin seine Wanderschaft führt. Das hat nichts mehr mit der „Progression hin zum Ideal einer vollkommenen Ganzheit“26 zu tun, und Müllers und Schuberts Wanderer ist damit auch geradezu ein Kontrapunkt zu Klingemanns Kreuzgang, der, bleibt man innerhalb dieser Bildlichkeit, gar kein Herz mehr zu haben scheint, sondern äußerst nüchtern seine nihilistisch-obskuren Lehren erteilt. Er ist abgeklärt, denn Kreuzgang hat schon eine Deutung des Zustands, der den Wanderer noch umhertreibt.

Über all dem jedoch steht die Todessehnsucht des Wanderers, die ihn letztlich zum Leiermann führt; sie sei am Beispiel zweier weiterer Lieder der Winterreise, des „Greisen Kopfes“ und des „Wirtshauses“, näher ins Auge gefasst. Der Wanderer obliegt nicht nur der Täuschung von Irrlichtern, die im Übrigen alles andere als naturmagischen Charakters sind, sondern auch Träume gaukeln ihm Illusionen vor. So bringt ihm, wie gezeigt, der „Frühlingstraum“ noch einmal näher an die Geliebte. Eine ähnliche Funktion wie Irrlichter und Träume haben zwar absonderliche, allerdings leicht erklärbare Sinnestäuschungen wie im Lied „Der greise Kopf“:

Der Reif hatt’ einen weißen Schein mir übers Haar gestreuet.

Da glaubt’ ich schon ein Greis zu sein, und hab mich sehr gefreuet.

Doch bald ist er hinweggetaut, hab wieder schwarze Haare,

daß mir’s vor meiner Jugend graut – wie weit noch bis zur Bahre!

Vom Abendrot zum Morgenlicht ward mancher Kopf zum Greise.

Wer glaubt’s? und meiner wart es nicht auf dieser ganzen Reise! (SW 162f.)

Eine simple Dreiteilung liegt dem Lied zugrunde; es spannt, mit jeweils einer Strophe, einen Bogen von jener Sinnestäuschung, die ein Blick in den Spiegel oder, wie in Büchners Leonce und Lena, einer in eine „hülflose Quelle“, verursachte, über die Erkenntnis der Realität bis hin zur Klage über das eigene Schicksal, seinem eigenen Leiden am Leben und an der Welt. Susan Youens hebt hervor, dass im ganzen Zyklus nur in diesem Lied das Verb „sich freuen“ vorkommt.27 Nicht die Erinnerung an die Geliebte also bereitet dem Wanderer die einzige Freude, sondern der Tod, der im Trugbild überraschend nahe erscheint und mit Freude begrüßt wird. Es ist die Musik Schuberts, die, in der zweiten Strophe des Dacapo-Liedes, mit einer jähen harmonischen Konstruktion die schockartige Enttäuschung des Wanderers, die aus seiner Einsicht resultiert, darstellt.28

Das Schmerz-Motiv ist ihm tief eingegraben […] In keinem zweiten Lied gewinnt die hohe Männerstimme (Tenorbariton), die Schubert für seine Winterreise vorschwebte, derart schauerliche Bedeutung.29

Woran liegt dies? Daran, dass sich in diesem kurzen Lied die Quintessenz des gesamten Zyklus verdichtet. Wenn bis hierhin noch Zweifel möglich gewesen wären, wohin die Reise geht bzw. welches Ziel dem Reisenden vorschwebt, dann herrscht nun, nach diesem vierzehnten Lied, trotz noch ausstehender alternierender Gefühlszustände, Eindeutigkeit. Trotz der vermeintlich „letzten Hoffnung“, so titelt das bald darauf folgende Lied: Der Wanderer will das Ende, das seines Leidens, das nicht eine Änderung seiner Lebenslage, nicht etwa eine neue betuchte Frau und mit Gewissheit nicht eine Revolutionierung der politischen Verhältnisse, sondern nur der Tod, verwirklichen kann. Kein anderes Ende der Winterreise ist nun überhaupt noch denkbar, würde sie nicht der Banalität verfallen wollen. Diesem fiebert das lyrische Ich nun entgegen, schon wähnt es sich, unverhofft, nahe dem Ziel, der Erlösung von Zeit und Raum, sein Leben, seine Existenz in dieser kalten Welt, endlich lassen zu können; deshalb ist sein Entsetzen angesichts der Desillusion so maßlos.

Doch noch geht es nicht ans Sterben, und wieder bricht sich jene Müllersche Ironie der Trostlosigkeit Bahn: Die dritte Strophe spielt mit den Motiven der Zeit und des Glücks, sie ist ein bitter-sarkastischer Kommentar30 zum Leben, das nicht planbar ist, dem einen das gewährt, was sich der andere sehnlichst wünscht, aber ihm vorbehalten bleibt. Dabei stellt Müller das Fortuna-Motiv auf den Kopf: Als Glück erscheint der Schrecken des Todes, das was jeder wie nichts anderes mehr, aber unzählige unfreiwillig erleiden, „vom Abendrot zum Morgenlicht“, Krankheit und Verderben. Nur dem lyrischen Ich, das sich dies wünscht, dem, im Gegensatz zum „Gesell“ aus der Schönen Müllerin, Selbstmord allerdings genauso wie in der Philosophie Schopenhauers keine Möglichkeit zeigt, die Welt zu verlassen, bleibt dies verwehrt: also geht es weiter „auf dieser ganzen Reise“. Sie führt den Wanderer alsbald in ein „Wirtshaus“:

Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht,

allhier will ich einkehren, hab ich bei mir gedacht.

Ihr grünen Totenkränze könnt wohl die Zeichen sein,

die müde Wandrer laden ins kühle Wirtshaus ein.

Sind denn in diesem Hause Die Kammern all besetzt?

Bin matt zum Niedersinken, Bin tödlich schwer verletzt.

O unbarmherz’ge Schenke, Doch weisest du mich ab?

Nun weiter denn, nur weiter, Mein treuer Wanderstab! (SW 182f.)

Abermals erweist sich, dass in der Winterreise die Ironie der Trostlosigkeit ein zykluskonstituierendes Element ist, eine der markantesten Isotopieebenen bildet. Im Lied „Das Wirtshaus“ verhält es sich wie mit dem einführenden „Gute Nacht“: Schon der Titel birgt die Ironie: Weder steht dem Wanderer für sich eine „gute Nacht“ in Aussicht, noch gelangt er zu einem wirklichen Wirtshaus oder Gasthof. Das Wirtshaus, das er nun erreicht, ist ein Friedhof, und hier obliegt, wie sonst so oft, der Wanderer keinem Irrlicht; er wird nicht getäuscht, sondern er erkennt den „Totenacker“, nähert sich ihm und will ihn erst dann metaphorisch als Wirtshaus deuten. Allerdings „wirbt“ dieses in hintersinniger Ironie für sich, denn mit den „grünen Kränzen“ macht sich das Gedicht die doppelte Bedeutung eines Symbols zunutze. Zum einen sind jene Kränze Zeichen der Trauer und der Ehrerbietung einem Toten gegenüber und verbleiben als Zeichen des Respekts nach der Beisetzung auf dem Grab. Auf der anderen waren sie in der Zeit Müllers und Schuberts Lockmittel, ein Instrument der Werbung, weithin sichtbares Zeichen dafür, dass in einem Gasthof neuer Wein, „Heuriger“ eingetroffen ist, der zum Verweilen einlädt.31 Tatsächlich handelt es sich aber eigentlich eher um einen Gasthof als um ein Wirtshaus, denn jene „besetzten Kammern“ weisen darauf hin, dass es nicht nur um Speiß’ und Trank geht, sondern auch um Rast; Reisende wie der Wanderer können ein Zimmer haben, über Nacht bleiben, um auszuruhen, Kräfte für den weiteren Weg zu sammeln. Daher will er „einkehren“ (SW 182), eine spezifische Formulierung für den Besuch eines Wirtshauses oder Gasthofs. So wird ein Zustand von Aufgehobensein, Geborgenheit suggeriert, der dem Wanderer in Aussicht gestellt wird; sogar, dass seine Reise hier, in diesem sehr eigenen „Wirtshaus“, beendet sein könnte.

Doch wieder hat der Wanderer kein Glück, wieder sind ihm andere zuvor gekommen. Jene, die schon im Lied „Der greise Kopf“ seine Kontrahenten sind, die, die Leid und Tod fürchten und alle unfreiwillig dieses „Wirtshaus“ aufsuchten, es aber dennoch nun belegen: Es handelt sich um die bürgerliche „Gegenseite“, um Menschen, zu denen auch Braut und Mutter aus „Gute Nacht“ zu zählen sind; um jene, die normalerweise des Nachts satt „in ihren Betten“ (SW 170) liegen und sich ihren Träumen und Illusionen hingeben. Solche, denen es in ihrer Lebensunmittelbarkeit gut geht, selbst wenn des Tags ihre Träume zu Schall und Rauch werden (SW 170). Oder drücken wir es politisch unverfänglicher, textnäher, nämlich in den Worten des Wanderers, aus: Es sind die „Anderen“, deren „Wege“ er aus seiner Fremdheit heraus „vermeidet“ (SW 178), ohne dass er dafür einen Grund zu nennen wüsste. Wieder erlangen diese, was das lyrische Ich erstrebt, so als wollten sie es verdrängen, fernhalten von dieser Ruhestatt. Diese macht nicht, entgegen traditionellem Verständnis, alle gleich, sondern unfreiwillig wahren jene „anderen“ ihren Besitzstand; dergleichen gesellschaftliche Mechanismen dauern an, über den Tod hinweg. Dies legt in diesem Zusammenhang die Verwendung des Verbs „besetzen“, das eine Aktivität, eine bewusst ergriffene Maßnahme bezeichnet, nahe. Für den Wanderer ist weder unter den Lebenden noch bei den Toten Platz. Die Folge, die Hufschmidt vor dem Hintergrund seiner Politisierung der Winterreise aus dieser Situation des Wanderers zieht, ist allerdings falsch: Im Imperativ „Nur weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab“ (SW 183) will er einen „lebensrettenden Impuls“, eine „Portion Lebenswillen, die manch einen in Stadien großer Schwäche davon abhält, sich selbst aufzugeben“,32 erkennen. Tatsächlich aber will doch der Wanderer gerade sein Selbst aufgeben: Er ist wie Ahasver, der „ewige Jude“ oder später Wagners „fliegender Holländer“: Wieder einmal ist ihm Rast und Ende verwehrt, also muss er sich abermals aufmachen und sich seinem Wanderstabe anvertrauen; weil ihm, so kurz vor Ende des Zyklus, nichts anderes übrig bleibt. Der Imperativ, in der Regel an Menschen gerichtet, erklärt den Wanderstab als deren Surrogat: Das lyrische Ich spricht mit einem Stock, weil es niemanden hat, mit dem es kommunizieren könnte und auch niemanden will.

 

Dass der Stab als „treu“ bezeichnet wird – eine Eigenschaft, die sich der Wanderer zuvor bezeichnenderweise nur von der Krähe, dem Todesboten, erhofft (vgl. SW 166) – ist der Schluss- und Höhepunkt jener resignierenden Ironie, die das Gedicht durchzieht, von seinem Titel über die „grünen Totenkränze“ und den „besetzten Kammern“ bis hin zu diesem Ende: Wieder stellt Müller das Bezugssystem seiner Zeit auf den Kopf: Treue und Verlässlichkeit, gemeinhin höchste Tugenden, erscheinen als Synonyme für eine schicksalhafte Verdammnis zu andauerndem, offensichtlich ausweglosem Getriebensein. Diese Art Treue des anthropomorphisierten Wanderstabs wird zur folternden Permanenz; es ist eine solche, auf die das lyrische Ich gerne verzichten würde. Büchners Danton fürchtet gar, sie nicht einmal mit seinem Tod los zu werden.

„Lustig in die Welt hinein“ (SW 186) geht in Selbstironie die Reise weiter, bis das vorletzte und, so die Forschung, „geheimnisvollste Lied des ganzen Zyklus“,33 „Die Nebensonnen“, auf den „Leiermann“ vorbereitet. Was bedeuten jene beiden „Nebensonnen“, bzw. die „drei Sonnen“, um die es am Beginn des Liedes geht und von denen nur noch eine bleibt, weil die Haloerscheinungen, die „Nebensonnen“ verschwinden? Es ist immer wieder vom paulinischen moralischen Dreigestirn in abgewandelter Reihenfolge „Glaube, Hoffnung, Liebe“ die Rede.34 Auch werden als Deutung die Augen der ehemaligen Geliebten angeboten, die die Tränen des lyrischen Ichs zunächst als Sinnestäuschungen am Himmel erscheinen lassen und die dann vergehen.35 Das ist nicht abwegig, schließlich sah das lyrische Ich am Himmel bereits zuvor auch „sein eig’nes Bild“ gemalt (SW 175), warum also nicht das der Augen seines Liebchens von ehedem? Man muss sich für keine dieser Deutungen entscheiden, auch schließen sie einander nicht unbedingt aus; sicher scheint, dass es im Lied um eine endgültige wie allumfassende Desillusionierung geht, die nun geradezu kosmisches Ausmaß angenommen hat. Wurde das lyrische Ich bis dahin immer wieder von natürlich erklärbaren Täuschungen und Irrlichtern getrieben und gepeinigt, so wird nun im Großen das Fazit gezogen: Alle Werte und Ideale des Lebens sind Trug und Schein, „Vorstellung“. Hinter diesen „Schleier der Maja“ zu blicken, führt zur Konsequenz, sich abermals allumfassende Ruhe im Tod herbeizusehnen. „Nur Täuschung ist für mich Gewinn“ (SW 177) hat nun vollends seine Gültigkeit verloren. Nach dem Verschwinden der Lichterscheinung am Himmel wünscht sich der Wanderer den endgültigen Untergang der wirklichen Sonne, damit der Himmel vollends dunkel und leer ist; dies ist die Stimmung, in der er auf den Leiermann trifft.

Drüben hinter’m Dorfe

steht ein Leiermann,

und mit starren Fingern

dreht er was er kann,

barfuß auf dem Eise

wankt er hin und her,

und sein kleiner Teller

bleibt ihm immer leer.

Keiner mag ihn hören,

keiner sieht ihn an,

und die Hunde knurren

um den alten Mann.

und er läßt es gehen

alles; wie es will,

dreht, und seine Leier

steht ihm nimmer still.

Wunderlicher Alter,

soll ich mit dir gehn?

Willst zu meinen Liedern

deine Leier drehn – ? (SW 189–191)

In diesem Lied vollzieht sich ein Prozess stetiger Annäherung. Der Wanderer erblickt den Leiermann zunächst aus der Ferne; fast scheint es so als seien, wie auf einer Theaterbühne, zwei Figuren zunächst absichtlich weit voneinander entfernt platziert. Das Ich des Wanderers und das Er des Bettlers werden in den ersten beiden Strophen streng auseinandergehalten; Schuberts Musik akzentuiert dies durch einen Wechsel der Satzstruktur.36 Erst in der letzten Strophe entsteht in der Form zweier Fragen eine zaghafte Symbiose aus „ich“ und „dir“ und „meinen“ und „deine“ (SW 191). Die Zusammengehörigkeit beider wird allerdings bereits zuvor, in der Tiersymbolik, antizipiert. Waren die Krähen dem Wanderer gegenüber zunächst feindlich gesinnt (SW 141), so vollzieht sich alsbald eine Wandlung, denn eine löst sich aus ihrem Verband, um ihn aus der Stadt hinaus zu begleiten, ihm ein Weggefährte bis in den Tod zu werden (SW 164–166), ein Versprechen allerdings, das sie nicht hält.

Ganz anders ist es mit den Hunden, sie gehören konsequent zu jenen „anderen“, sie sind sogar deren Bild. In „Gute Nacht“ kommentiert das Heulen der Hunde den Abschied des Wanderers (SW 112), und „Im Dorfe“ wird er von Hunden „fortgebellt“; sie würden sich sogar auf ihn stürzen, wären sie nicht an „rasselnde Ketten“ gelegt (SW 169–173). In eben dieser Gefahr befindet sich nun auch der Leiermann, der dies aber stoisch erträgt wie das Eis, auf dem er unsicher steht und das droht, unter ihm einzubrechen, oder ihn zumindest hinstürzen zu lassen. So kommt den Hunden eine verbindende Funktion zu, sie drängen Wanderer und Leiermann in eine Gemeinschaft und bereiten so ihren Zusammenschluss in der letzten Strophe vor. Ihr Anschlagen, ihre Aggressivität machen deutlich, dass beide nicht zur Gesellschaft gehören, zu jenen, die den Teller leer lassen und den alten Mann nicht einmal ansehen; weil sie ihn, im Gegensatz zum Wanderer, nicht erkennen wollen. Deshalb wird er auch nur außerhalb, „hinterm Dorfe“, geduldet. Möglicherweise wurde auch er „im Dorfe“ hinweggebellt; so wie der Wanderer.

Diese Konstellation provoziert zu politischer Deutung: In Zeiten kapitalistischer Bereicherung, so liest man in der DDR-Forschung, bleibe die Armut als einziger Weggefährte; der Wanderstab werde zum Bettelstab;37 sein Besitzer gehe in die „innere Emigration“.38 Tatsächlich jedoch bietet der Leiermann dem Wanderer in der vorletzten Strophe des Gedichts eine Deutungsfolie der eigenen Existenz. Er spendet Trost, der erst zur Vereinigung in der letzten Strophe führt. Peter Gülke betont, dass die Winterreise keine Frage nach dem wohin habe und dass der einzige Fortschritt, den man konstatieren könne, eine wachsende Erkenntnis des Wanderers sei.39 Rekapitulieren wir vor diesem Hintergrund kurz: Der Wanderer verlässt, entfremdet vom Leben und der Welt, das Haus der Geliebten, in umfassende Orientierungslosigkeit, in geradezu sein Ich zerreißende Episoden, die ihm die Sinnlosigkeit der Existenz in wachsendem Leid vor Augen führen und seine Todessehnsucht immer manifester werden lassen. Nun lernt er, nun wird ihm von einem, der im Leben bereits weiter ist als er selbst, anschaulich vorgeführt, wie diesem Leben zu begegnen ist: mit Gelassenheit, angesichts der Einsicht, dass sich, verdeutlicht durch die sich permanent drehende Leier, der Prozess von Werden und Vergehen ein ewiger ist, der Tod möglicherweise Erlösung, das Wissen um dieses „eherne Gesetz“ jedoch Palliativ sein kann. Schuberts Musik realisiert dies durch ostinate, „unaufhörlich leere“40 Quinten, die Teilnahmslosigkeit gegenüber der Welt, ein sich Drehen im Kreise,41 signalisieren. Der alte Leiermann, der Asket schlechthin, hat sich von den Täuschungen und Illusionen Schopenhauerscher Vorstellung weitgehend befreit. Nach wie vor ist er im principium individuationis objektiver Wille, aber nur noch bedingt dessen Spielball, dank seiner Lebenserfahrung, die zu Lebensweisheit geworden ist. Das macht den Leiermann, obwohl nur in wenigen Versen präsent, zur Hauptfigur des Zyklus. Ein Getriebener findet zu ihm, da sich in ihm Erkenntnis und Weisheit verdichten. So verleiht er der Reise des Wanderers nicht Sinn, doch Deutung; insofern hat sein „irre Gehen“, das er „gewohnt“ war (SW 145), ein Ende. Noerr konkretisiert dies in erstaunlicher Nähe zu Kategorien Schopenhauerscher Philosophie:

Das vollkommene Vergessen des Leides ist der Tod und zu ihm führt unweigerlich die nächtliche Flucht des Wanderers. Aber in diesem Tod wird die notwendig mit Leiden verbundene Individuation in eine überindividuelle, harmonisch-gewaltlose Totalität übergeführt.42

Ist der Leiermann nun Todesbote,43 der den Wanderer mit nimmt in die Verheißung des Nichts, oder nur Imagination, Projektion des lyrischen Ichs,44 das am Ende seiner Reise aus sich heraus zu solchen Schlüssen gelangt und diese nun metaphorisiert, in eine Allegorie kleidet? Schon Schuberts Vertonung des Gedichts Todesmusik von 1822 deutet mit seinen letzten drei Tönen auf den Anfang.45 Viel mehr noch ist es ein Merkmal eines ganzen lyrischen Zyklus, dass er, der Vorstellung einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ analog, am Schluss auf seinen Anfang weist, jedoch nicht wie ein Rundgedicht oder -lied einfach wieder mechanisch von vorn beginnt, sondern sich durch das Abschreiten der einzelnen Gedichte ein „Mehrwert“, ein Erkenntnisgewinn eingestellt hat. So wäre eine neuerliche Reise, sollte es sie in abermaliger Objektivation des Willens in den Kategorien von Zeit und Raum geben, für den Rezipienten erklärbarer, für den Wanderer, der nicht mehr über seine Fremdheit in der Welt staunen müsste, sondern „es gehen“ lassen könnte „wie es will“, erträglicher.

Was bedeutet dies für die Kunst? Dass sich auch diese Frage zwangsläufig stellt, wird im poetologischen letzten Vers des „Leiermanns“ deutlich; und zwar in spektakulärer, die in sich vollkommene Abgeschlossenheit des klassischen Zyklus durchbrechender Weise. Mit seinen letzten Worten tritt das lyrische Ich nämlich aus dem Gesamtgebilde heraus und bezieht ihm gegenüber Stellung. Es wird vom Wanderer zum Dichter, der, angesichts des allumfassenden Pessimismus, den er sich zu eigen gemacht hat, über die eigene Ästhetik reflektiert. Dabei ist es gleichgültig, ob sich der Wanderer nun am Ende in seiner Profession als Dichter zu erkennen gibt, oder ob sich der Autor, Wilhelm Müller, nun zum Wanderer stilisiert. Wie dem auch sein möge: Soll er, nun wider besseres Wissen, Werke verfassen, die sich den Illusionen des Tages, der „Vorstellung“ hingeben, wieder lebensfrohe Gedichte schreiben, wie die ersten der Schönen Müllerin? Soll er sich etwa in die Tradition der Aufklärung oder gar Politisierung von Dichtung stellen, möglicherweise zum Tendenzdichter werden, oder in seinen Werken nicht eher dem Rhythmus des Weltengesetzes entsprechen, wie ihn dieses letzte Gedicht vorgibt? So, wie er es eigentlich mit der Winterreise bereits tat? Vieles spricht dafür, dass diese abschließende Frage nicht rein rhetorischer Natur ist.

So mögen die politischen Verhältnisse des frühen 19. Jahrhunderts eine Deutungsfolie der Winterreise präsentieren, und vielleicht hat Schubert auch in seinem eigenen Leben so viele Entsprechungen zu Wilhelm Müllers lyrischem Ich gesehen, sich möglicherweise in ihm und dessen Winter46 wiedergefunden, dass sie weiterer Ansporn zur Vertonung gewesen sein mögen. Doch dies greift zu kurz, denn hier bildet sich lediglich Exemplarisches ab, der Zyklus ist damit nicht erschöpfend interpretiert. Die gesellschaftliche Lage, wie auch der Lebensweg einer gedichteten Figur, deuten über sich hinaus. Sie sind Fallbeispiele für Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich das menschliche Leben und gesellschaftliche Mechanismen vollziehen, Konkretisierungen einer pessimistischen, von Gott befreiten philosophischen, aber auch künstlerischen Strömung, die als Gegenbewegung zur Aufklärung das frühe 19. Jahrhundert nicht minder stark als die Romantik prägten.

 
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