Große Werke der Literatur XV

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In dem dône: Ich wirbe umb allez daz ein man 36

Das bedeutet, Walther von der Vogelweide verwendet die Melodie des Minneliedes Ich wirbe umb allez daz ein man. Letzteres ist aber ein Lied Reinmars des Alten.37 Konkret dichtet Walther auf die Melodie Reinmars einen neuen Text. Hier offenbart also Codex Manesse die Aufführungsmodalitäten des Minnesangs. Die Dichter zitieren und persiflieren sich gegenseitig. Der Fall Dietmar versus Reinmar ist also keineswegs ungewöhnlich. Es bedurfte allerdings der letzten dreißig Jahre, bis sich solche Vorstellungen des Minnesangbetriebes etablieren konnten. Überhaupt gehört Dietmar von Aist zu den Hauptopfern einer antiquierten Minnesangphilologie. Von den 16 Tönen oder Minneliedern werden ihm von der traditionellen Forschung 13 als unecht abgesprochen. Die immer noch maßgebliche Edition ‚Des Minnesangs Frühling‘ verzeichnet ab Lied IV alles als unecht. Wörtlich heißt es in der Ausgabe: „Dietmar zugeschriebene Lieder“.38 Diese Lieder seien zwar unter dem Namen Dietmars überliefert, aber erst nach seinem Tod von anonymen Verehrern oder Schreibern verfasst worden. Darunter fällt auch das Tagelied Slafest du, friedel ziere. Authentisch seien im Sinne der älteren Forschung nur Langzeilenstrophen, die man im Ton I findet. Der erste Minnesangphilologe, der an diesen Wertungen massiv Kritik übte, war Günther Schweikle, der ironisch von einer „Geisterschar“ der Pseudo-Dichter und vermeintlich kreativen Abschreiber sprach.39 Das Problem der postulierten Pseudo-Dichter betrifft übrigens auch Reinmar, dem ebenfalls eine Heerschar von Pseudo-Reinmaren lange zugemutet wurde.40 Tatsächlich haben wir erst in jüngster Zeit einige Editionen, welche den Autorzuschreibungen der Handschriften mehr vertrauen als dem allmächtigen Philologenurteil in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Es war und ist ein schmerzlicher Prozess, das Minnesangbild der philologischen Titanen Karl Lachmann und Carl von Kraus abzuschütteln. Am mutigsten und am frühesten wirkte für den Donauländischen Minnesang der hier schon mehrfach erwähnte Günther Schweikle. Letztlich geht es um nichts weniger als das Dichterbild für den hochmittelalterlichen Minnesang. Die alte Forschung verband mit einem Dichternamen nur eine bestimmte Stilrichtung. In diesem Sinne hätte der Burggraf von Regensburg altertümliche Langzeilen gedichtet und der Burggraf von Rietenburg moderne kurzversige Kanzonen.

Für Regensburg wohl auch als Aufführungsort zu sichern sind zahlreiche Strophen des Burggrafen von Regensburg, der aus dem Geschlecht der Rietenburger oder Riedenburger (bei Regensburg) stammte.41 Denn seit der Auffindung jenes der Regensburger Buchmalerschule angehörenden sogenannten Budapester Fragments ist auch die personale Identität der früher als Autoren auseinandergehaltenen Burggrafen von Regensburg beziehungsweise Rietenburg evident. Tatsächlich finden sich in diesem Fragment die Strophen des Rietenburgers unter dem Namen Regensburg.42 Dies spricht für die faktisch übereinstimmende personale Identität der Träger beider Personen- oder Herkunftsnamen.

Wenn dann ein Teil des Korpus mit Langzeilenstrophen archaischer ist als andere Strophen unter demselben (Regensburg-Rietenburger) Autornamen, kann man dies unschwer mit einer Weiterentwicklung des Dichters erklären. Ohnehin ist historisch nachgewiesen, dass die Riedenburger häufiger das Burggrafenamt in Regensburg innehatten. Dieser Sachverhalt eines formal breiteren Korpus von der Langzeilenstrophe zur Kanzone gilt ähnlich für Dietmar von Aist, der gleichfalls eine Entwicklung von der archaischen, am donauländischen Nibelungenlied geschulten Langzeilenstrophe zur Minnekanzone aufweist. Diese Weiterentwicklungen im Œuvre bei Dietmar von Aist wie beim Regensburg-Rietenburger Burggrafen erweisen aber den Donauländischen Minnesang als offen für Neuentwicklungen wohl (wie man häufig annimmt) aus dem Westen Europas. Demnach hätte der Donauraum die Anfänge des Minnesangs und seine Weiterbildung zur Minnekanzone des Hohen Minnesangs beheimatet, wobei aber die westliche Herkunft der Kanzone ohnehin bis heute umstritten ist. Die Dichter Dietmar beziehungsweise der Regensburger Burggraf hätten sich dann eben stilistisch weiterentwickelt, ähnlich wie Johann Wolfgang von Goethe etwa mit dem Sturm und Drang und mit der Weimarer Klassik Protagonist mehrerer literaturgeschichtlicher Epochen war. Die ältere Minnesangforschung suchte dieses eigentlich naheliegende literaturgeschichtliche Modell eines sich weiterentwickelnden Dichters durch sterile Separierungen in mehrere Dichterpersönlichkeiten mit je einheitlichem Minnesangkonzept gar nicht erst aufkommen zu lassen. So wurde etwa zwischen einem archaischen Burggrafen von Regensburg und einem innovativen Burggrafen von Rietenburg unterschieden, was erst falsifiziert war, als mit dem auch wegen seiner diphthongierten, bairischen Formen ursprünglich in Regensburg beheimateten, wenn nicht gar entstandenen und 1985 wieder aufgetauchten Budapester Fragment Werke des Burggrafen von Rietenburg unter dem Autornamen Burggraf von Regensburg firmierten. Ähnlich absurd ist die Aufspaltung der unter Dietmar von Aist überlieferten Strophen in einen authentischen Dietmar mit Langzeilenstrophen und viele Pseudo-Dietmare („Dietmar zugeschriebene Lieder“43) mit neuen Formexperimenten, wie es die Dietmar-Forscher lange taten. Darunter fällt auch das erste deutschsprachige Tagelied als vermeintlicher Pseudo-Dietmar.

So erscheint es mir auch im Kontext der gesamten deutschen Literaturgeschichte am naheliegendsten, Dietmar von Aist als eine vielseitige Dichterpersönlichkeit zu würdigen. Er begann mit traditionellen Langzeilenstrophen, die teilweise noch Halbreim aufwiesen. Später machte er daraus reine Reime. Im Übrigen zeigten meine sprachhistorischen Untersuchungen, dass viele der vermeintlich unreinen Reime in der bairischen Mundart Dietmars in Wirklichkeit rein klangen.44 Dies geht leider aus den meisten Dietmar-Editionen, welche in Unkenntnis der Reimgrammatik mechanisch und unreflektiert Zirkumflexe setzen, nicht hervor. Dietmar griff nicht zuletzt die moderne Form der Kanzone auf. Er erfand den Natureingang, jedenfalls macht keiner der älteren Dichter so systematisch Gebrauch davon. Und es ist aus derselben (ostoberdeutschen) Sprachlandschaft der ungemein produktive und noch weit im Spätmittelalter rezipierte Minnesänger Neidhart, welcher später in seinen Sommer- und Winterliedern den Natureingang gar zum gattungskonstituierenden Markenzeichen adelt. Und schließlich sind es auch die mittelalterlichen Zeitgenossen, welche wie Reinmar in seiner Adaptation Dietmar die Ehre erweisen. Es lohnt sich also, den Minnesänger Dietmar von Aist in seiner authentischen gattungsmäßigen Vielfalt und Komplexität zu betrachten, einen innovativen Dichter, der lebenslang nach dem perfekten Gedicht strebte.

Literaturverzeichnis
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Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus. Bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 38. erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988.

Früheste deutsche Lieddichtung. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Horst Brunner. Stuttgart 2005.

Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Herausgegeben von Karl Stackmann. Tübingen 2000.

Reinmar. Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1986.

Schweikle, Günther: Die Mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Die Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen. Einführung und Kommentar. Darmstadt 1977.

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Wolf, Klaus:Dietmar von Aist. Kommentierte Ausgabe nach Codex Manesse mit den Fassungsvarianten der Parallelüberlieferung“. Leuvense Bijdragen 96 (2007–2010): 79–119.

Sekundärliteratur:

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Dittrich, Sigrid und Lothar: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts. Petersberg 2005.

Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. München 2004.

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Hartmann, Sieglinde: Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein oder die Erfindung der Liebe im Mittelalter. Wiesbaden 2012.

 

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Ostritz, Sven und Maria Stürzebecher [u.a.]: Der Schatzfund: Archäologie – Kunstgeschichte – Siedlungsgeschichte. Bd 1. Erfurt 2010.

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Tervooren, Helmut: „Dietmar von Aist“. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Bd. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u.a.]. Berlin/New York 1980: Sp. 95–98.

Voetz, Lothar: Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015.

Walther, Ingo F. und Gisela Siebert: Codex Manesse. Die Miniaturen der großen Heidelberger Liederhandschrift. 4. Auflage. Frankfurt/M. 1988.

Rezeption des Orlando furioso von Ariosto

Laura Terracina: Discorsi sopra le prime stanze de’ canti d’Orlando furioso

Rotraud von Kulessa und Daria Perocco

1516 erscheint in Ferrara die erste Fassung des Orlando furioso (Der rasende Roland), des Ludovico Ariosto (1447–1533), gefolgt von einer zweiten Edition publiziert 1521 in Mailand und schließlich der endgültigen Version in 46 Gesängen, die 1532 wiederum in Ferrara erscheint. Das Ritterepos, das als Fortsetzung des unvollendeten Orlando innamorato (1483) des Matteo Maria Boiardo (1441?–1494) konzipiert war, wurde lange Zeit ausschließlich als Unterhaltungsliteratur im Kontext des Hofes der Familie d’Este in Ferrara rezipiert. Erst Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) öffnet in seinen Vorlesungen über die Ethik (1818–1829) den Blick auf eine kritische Auseinandersetzung Ariostos mit der Tradition des mittelalterlichen Ritterromans.1

Ursprünglich verfasst für den mündlichen Vortrag am Hofe der d’Este in Ferrara, erinnern die komplex ineinander verschachtelten zahlreichen Handlungsstränge an einen Fortsetzungsroman. Das Ende der einzelnen Gesänge bleibt in der Regel offen und lässt den Leser in spannender Erwartung auf den Fortgang der jeweiligen Handlung. Dabei spannen sich die diversen Nebenhandlungen um drei Hauptstränge, die wiederum eng miteinander verflochten sind: die Handlung, die sich um die Kriege Karls des Großen gegen die Sarazenen entspannt; der Liebesplot um Angelica, in die quasi alle männlichen Helden verliebt sind, die jedoch vor ihren Verehrern flieht, unter denen sich auch Orlando selbst befindet, eponymer Held des Epos, der aus Liebe zu Angelica dem Wahnsinn verfällt. Schließlich haben wir die Handlung um die Beziehung zwischen Ruggiero und Bradamante, d.h. das enkomiastische Motiv der Entstehung des Hauses der Familie d’Este, in deren Dienst Ariosto steht.

Erscheinen dem heutigen Leser die in Oktaven verfassten (insgesamt 38736 Verse) 46 Gesänge zuweilen als schwere Kost, so war das Versepos des Ariosto tatsächlich das meist gelesene Werk der italienischen Renaissance. Zahlreich sind deshalb die Relektüren und Kommentare des Werkes, zu denen auch die Verse der neapolitanischen Dichterin Laura Terracina gehören. Mit ihren Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando furioso (1549)2 tritt sie in einen kritischen Dialog mit dem berühmten Zeitgenossen, indem sie insbesondere die gesellschaftskritische Komponente der dritten Fassung des Ritterepos akzentuiert und in die Tradition des europäischen Geschlechterstreites einschreibt und mit 29 Neuauflagen bis in das Jahr 1698 selbst zu einem Besteller wird.

Laura Terracina (1519–1577?)

Trotz der beträchtlichen literarischen Produktivität der Laura Terracina,1 verfügen wir nur über wenige verlässliche Informationen zu ihrer Biographie.2 Im Jahre 1519 erblickte Laura Bacio Terracina in Neapel das Licht der Welt. Die ursprünglich aus Brescia stammende Familie hatte sich bereits im 13. Jahrhundert vor den Repressalien der katholischen Kirche nach Neapel geflüchtet, wo sie sich der Herrschaft der Familie der Anjou gegenüber treu erwies. Wenig ist über die Jugend bzw. die Ausbildung der Dichterin bekannt. Sicher ist allerdings, dass L. Terracina von 1545–1547, unter dem Akademienamen Febea, Mitglied der Accademia degli Incogniti war, welche unter der Protektion Maria d’Aragonas stand und wie die anderen beiden neapolitanischen Akademien, die Accademia die Sereni sowie die Accademia degli Ardenti, 1547 durch den Viceré di Toledo aufgelöst wurde. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Neapel von 1501–1647 unter spanischer Herrschaft stand, wobei Karl der V. in Neapel durch den Viceré von Toledo vertreten wurde. Im Ambiente der Accademia degli Incogniti, zu deren Mitgliedern u.a. Baldassare Maracco, Giovan Francesco Brancaleone, Angelo Di Costanzo, Marco Antonio Epicuro, Antonio Minturno, Luigi Tansillo zählten und die durch Mäzenaten wie Isabella Villamarina, Prinzessin von Salerno oder den Marchese Ferrante Carafa Unterstützung erfuhren, entstand das erste Werk der Terracina, die Prime Rime, welche mit Hilfe des Buchhändlers und Verlegers Marcantonio Passero und Ludovico Domenichi 1548 bei dem namhaften venezianischen Verleger Giolito veröffentlicht wurden. 1549 erschienen die Seconde Rime, die einem deutschen Akademiemitglied, Leonardo Khurz gewidmet sind. Hinter den Terze Rime verbergen sich, wie bereits erwähnt, die Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando, das Erfolgswerk der Autorin. 1550, 1552, 1558 erschienen sukzessive der vierte, fünfte und sechste Band der Reime. Die 1561 veröffentlichten siebten Reime sind den Witwen Neapels gewidmet, während die achten Reime von 1562 den ersten sowie den zweiten Teil der Discorsi über den Orlando furioso beinhalten, den Laura Terracina auf Betreiben ihres Ehemannes und Verlegers Valvassori verfasste.3 Die 9. Reime schließlich, die vornehmlich spirituellen und enkomiastischen Charakters sind, bleiben unveröffentlicht.4

Was das Privatleben der Autorin betrifft, so haben einige Literaturwissenschaftler versucht, etwaige Liebschaften aus ihren Versen zu rekonstruieren. So geht Mutini von Beziehungen zu Giovan Alfonso Mantegna di Maida und und Diomede Carafa5 aus, während Montella den Adressaten des ersten Teils der Discorsi, Giovanni Vincenzo Belprato, für einen ihrer Liebhaber hält.6 Wahrscheinlich heiratet die Dichterin zwischen 1560 und 1561,7 im Alter von ca. 40 Jahren, Polidoro Terracina. Ihr Ehemann wird auch im Widmungsbrief der Secondo parte del Discorso von 1567 erwähnt, wenn die Autorin angibt, von ihrem Ehemann und dem Verleger Luigi Valvassori zu dieser Fortsetzung gedrängt worden zu sein.8

1577 signierte Laura Terracina den Widmungsbrief ihres letzten Werkes an den Kardinal Ferrante de‘ Medici. Ihr Todesdatum ist ungewiss und wird im Hinblick auf dieses ‚letzte Lebenszeichen‘ auf eben dieses Jahr 1577 festgesetzt.

Discorso sopra il Principio di tutti i canti d’Orlando Furioso: Laura Terracina im Dialog mit Ariosto

1549 erscheint in Venedig der Discorso sopra il Principio di tutti li primi canti d’Orlando Furioso fatti per la signora Laura Terracina im namhaften Verlag des Gabriel Giolito de Ferrari.1 Bereits im Folgejahr erfolgt eine zweite Ausgabe mit bedeutenden Änderungen. Zwischen 1551 und 1554 werden zwei weiter Editionen veröffentlicht – immer bei Giolito – deren Änderungen und Korrekturen allerdings nur noch punktuell sind. Die Ausgabe von 1554 wird dann auch mehrheitlich als Grundlage für die 25 folgenden Editionen gelten. In der zweiten Ausgabe von 1550 werden von der Autorin so ganze Oktaven ausgetauscht und die Adressaten der Widmungsoktaven geändert, so verschwindet im Gesang 18 Anton Fugger, welcher 1550 durch Donna Clarice Drusina Principessa d’Ostiliano ersetzt wird. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren.2

Mit ihren Discorsi schreibt Laura Terracina sich in der Tat in die Mode der Orlando-Kommentare ein, denn das Werk Ariostos hatte es, wie bereits erwähnt, zum Bestseller der Renaissance gebracht.3 Schon in ihren Prime Rime hatte sie das Prinzip der Transmutazione des Orlando zur Anwendung gebracht.4 Wie die dritten Fassung des Orlando furioso selbst, besteht der Discorso aus 46 Gesängen, die jeweils sieben Oktaven enthalten, denen eine Widmungsoktave vorangestellt wird. Im ersten Teil des Discorso ist der letzte Vers die sukzessive Aufnahme eines Verses der ersten Oktave des entsprechende Gesanges im Orlando, mit Ausnahme der jeweils siebten Oktave, die die beiden letzten Verse der ersten Oktave des jeweiligen Gesangs des kommentierten Textes reproduziert. Laura Terracina bringt somit die Techniken des Centone5 und der spanischen Glosa6 zusammen, wobei sie bei diesem literarischen ‚Spiel‘ nicht immer große Sorgfalt walten lässt, denn häufig erscheinen die von Ariosto entlehnten Abschlussverse der Oktaven nahezu als Fremdkörper.

In der Tat ist es nicht der ästhetische Wert, der das Werk der Terracina auch heute noch lesenswert macht, sondern vielmehr seine kulturhistorische Bedeutung als Kritik an der damaligen, insbesondere neapoletanischen Gesellschaft, sowie seine Bedeutung für die europäische Querelle des femmes.7

Unter den Adressaten der Widmungsgesänge erscheinen wichtige politische Persönlichkeiten der Renaissance, die sich insbesondere im Kontext Neapels finden lassen. So ist der erste Gesang Karl dem Fünften gewidmet, Herrscher über Spanien, und damit in diesen Jahren auch über Neapel. Als dessen Stellvertreter vor Ort erscheint der Viceré von Toledo (Gesang XVIII). Aber auch Henri II de Valois (XL), der Sultan Solimanni (XLII), Philipp Markgraf von Hessen (XLV) sowie Philipp von Österreich, Prinz von Spanien (XLVI) gehören zu den Adressaten der Widmungsoktaven. Erscheint das Netz der Adressaten auf den ersten Blick einer prospanischen Haltung der Autorin zu entsprechen, so finden sich jedoch auch eine gewisse Anzahl von Widmungsgesängen, die an Persönlichkeiten gerichtet sind, die klar dem proreformatorischen Kontext, in der Form des Valdesianismus, zuzurechnen sind, wie Bernardino Bonifacio Marchese d’Oria, dem die Autorin 1549 das gesamte Werke widmete, aber auch Costanza d’Avalos (X), sowie Maria d’Aragona (XXXVIII). 13 der 46 Gesänge sind generischen Adressaten gewidmet, wie den „verräterischen Freunden“ („amici traditori“) im Gesang IV oder „den Feinden der Frauen“ („nemici delle donne“) im Gesang V oder aber den „unsteten und wankelmütigen Männern“ („instabili e infermi uomini“) im Gesang XXIX. In diesen Gesängen kommt in der Regel auch eine starke moralisierende Komponente zum Ausdruck, wohingegen der Bezug zu den realen Adressaten in den Gesängen häufig nicht nachzuvollziehen ist, und sie tatsächlich mehrheitlich enkomiastischen und rhetorischen Charakters sind. Allerdings lässt eine Lektüre ‚zwischen den Zeilen‘ eine Art Handlungsstrang der neapolitanischen Gegebenheiten erahnen, der den historischen Handlungsstrang der Religionskriege des Orlando ersetzt. Auch verstärkt Terracina die gesellschaftskritische und moralisierende Komponente der dritten Fassung des Orlando, wohingegen die diversen Liebesbeziehungen des Versepos im Discorso praktisch keine Rolle spielen. Ausnahmen bilden die ‚Liebesgeschichten‘ des Orlando, die als Exemplum für die Treue der Frauen dienen können, wie zum Beispiel die der Isabella und der Olympia. Die Transmutation des Textes des Ariostos zielt so auf eine ‚neapoletanische und personalisierte‘ Relektüre, die insgesamt eine sehr pessimistische Weltsicht der Autorin aufscheinen lässt. Im Gegensatz zu Ariosto, der sich im Orlando ironisch und kritisch mit der Ritterkultur der Vergangenheit auseinandersetzt, äußert sich Laura Terracina vielmehr nostalgisch über den Verfall der Sitten. In dem Don Ferrante Gonzaga Principe di Molfatta gewidmeten Gesang XIII lobt Terracina die ritterliche Kultur vergangener Zeiten und dekonstruiert damit die ironische Distanzierung des Ariosto zu eben diesem Ideal. Auch kritisiert die Dichterin wiederholt den Hang der Menschen zu Verrat und Falschheit (Gesang XIX, „A li reverendissimi cardinali“; Gesang XXI, „Ai mancator di fede“, Gesang XXIX „A li instabili e infermi uomini“ und Gesang XLIV („A li malvagi cortigiani“)), indem sie insbesondere den Verfall der Sitten an den Höfen anprangert. Weiterhin zielt ihre Kritik auf die viel verbreitete Praxis des Wuchers (Gesang XXXIV), den Geiz (Gesang XLIII) und den Neid (Gesang XXXI). In einigen Gesängen finden sich darüber hinaus Anspielungen auf die politische Aktualität ihrer Zeit, wie im Gesang VI, der Gianluigi Fieschi, gewidmet ist, der genuesische Herzog, der bei seinem Revolteversuch gegen Andrea Doria 1547 ums Leben kam. Wie auch Ariosto im Orlando denunziert Terracina die Gräuel der Kriege ihrer Zeit (Gesang XV „Ai cardinali e sanguinosi capitani“), zu deren Opfern meist Frauen, Kinder, kurz die Schwachen und Unschuldigen, zählen (XV,2).8 Auch scheint zuweilen in den vermeintlich enkomiastisch geprägten Gesängen eine subversive Kritik des politischen Regimes aufzuscheinen, wie im Gesang XVII, der der Stadt Neapel gewidmet ist. Allerdings wird diese Kritik mit dem Hinweis auf die göttliche Vorhersehung sogleich relativiert. Der universelle Diskurs der göttlichen Bestrafung der menschlichen Sünden, der eben auch die Möglichkeit der Tyrannenherrschaft impliziert, in dem die Tyrannen als Strafe zum sündigen Volk entsendet werden, legitimiert so die Unterdrückung der neapolitanischen Bevölkerung durch die spanischen Herrschaft, die hier durchaus kritisch dargestellt wird.9

 

Zu der Gesellschaftskritik in den Discorsi gehört auch der subversive Blick auf die Geschlechterverhältnisse, mit dem Terracina sich in die Tradition der europäischen Querelle des femmes einschreibt. Dieser Diskurs manifestiert sich im Discorso auf drei Ebenen: auf der Ebene der Metareflexion über weibliches Schreiben, auf der Ebene der expliziten Polemik sowie auf der Handlungsebene bzw. der Adressatinnen der Widmungsoktaven. Es sei vorangeschickt, dass auch im Orlando des Ariosto die Querelle des femmes allgegenwärtig ist.10 Während Ariosto die Frage nach der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Geschlechter am Ende seines Werkes eher unentschieden lässt, schreibt Terracina ihren Bezugstext klar im Hinblick auf die Überlegenheit des weiblichen Geschlechtes um.

Auf der Metaebene stellt die Dichterin so ein geschärftes Bewusstsein ob ihrer Position und Rolle als Dichterin unter Beweis. So rekurriert sie zum einen auf die gesellschaftlich akzeptierte literarische Strömung des „weiblichen Petrarkismus“11 und seiner besonderen Ausformung des Ehepetrarkismus in der Tradition Vittoria Colonnas, wie im Gesang II, der Eleonora Sanseverina gewidmet ist, die ihren Ehemann verloren hat. Die Rime der Vittoria Colonna, die wie die Discorsi im neapolitanischen Kontext entstanden sind, werden erstmals 1538 veröffentlicht und gehören ebenfalls zu den verlegerischen Erfolgsgeschichten des 16. Jahrhunderts.12 In ihren Rime amorose besingt Vittoria Colonna den verstorbenen Ehegatten, Francesco Ferrante d’Avalos, Marchese di Pescara, der als Kriegsheld in der Schlacht von Pavia verstarb. Die Dichterin wird bereits von Ariosto im XXXVII. Gesang des Orlando beispielhaft erwähnt, und auch Laura Terracina widmet ihr ein Sonett, das im Anhang des ersten Teils ihres Discorso erscheint.13

Terracina zeigt sich der Problematik ihrer Position als Dichterin wohl bewusst; wie viele ihrer Zeitgenossinnen rekurriert sie auf die üblichen Bescheidenheitstopoi, insbesondere in den enkomiastisch geprägten Gesängen, in denen sie wiederholt ihre „niederen Gedanken“ („basso pensier“ (I, 3,1)), ihre „rohe Sprache“ („aspra lingua“ (III, dedic.,4)), ihren „so niederen Stil“ („stil sì basso“ (XVIII, 4,1)), etc. unterstreicht. Allerdings subvertiert sie in einigen Gesängen diesen traditionellen Diskurs der schreibenden Frauen explizit (Gesänge XIV, XX XXXVII). In Gesang XIV unterstreicht die Dichterin so den transgressiven Charakter ihres Schreibens, das sich nicht auf den Frauen durchaus zugestandenen Liebesdiskurs („amoroso stile“ (XIV, 2,1)) festschreiben lasse, sondern einer „männlichen Feder“ („una penna virile“ (XIV, 2,5) gleichkomme, wenn sie über Themen wie zum Beispiel den Krieg schreibe.

Der 20. Gesang des Discorso kann als eigentliche Antwort Terracinas auf den 37. Gesang des Orlando gelesen werden, in dem Ariosto die Frauen aufruft, selbst zur Feder zu greifen, um sich gegen misogyne Anfeindungen zur Wehr zu setzen. Terracina widmet den 20. Gesang ihres Discorso der Isabella Colonna Principessa di Sulmona, die gemeinsam mit der Dichterin selbst analog zu den kriegerischen Frauengestalten des Orlando, wie Bradamante und Marfisa, als beispielhafte Frau zitiert wird. Terracina rekurriert hier auf die Tradition der Frauenkataloge nach dem Modell des De mulieribus claris des Giovanni Boccaccio, auf den auch Ariosto in seinem 20. Gesang zurückgreift. Wie im Orlando selbst bildet der XXXVII. Gesang des Discorso den Höhepunkt des Geschlechterstreits. Laura Terracina nimmt den Aufruf des 37. Gesangs des Orlando wieder auf und wie Ariosto übt Terracina vehement Kritik an den misogynen Schriften ihrer Dichterkollegen. Anders als ihr Vorgänger allerdings stellt sie fest, dass nur Frauen selbst in der Lage seien, Frauenlob zu üben. So kritisiert sie die Tatsache, dass zu wenige Frauen sich gegen die Grausamkeiten der Frauenfeinde wehren würden (XXXVII, 3, 4) und fordert ihre Geschlechtsgenossinnen auf, sich mehr zu bilden.14

Tatsächlich wird die Geschlechterfrage von Laura Terracina vertieft und die ambigue Darstellung Ariostos zugunsten der Frauen entschieden.

Das Frauenlob wird von Terracina unter anderem auch durch die zahlreichen weiblichen Adressatinnen untermauert, deren Tugendhaftigkeit und Vorbildhaftigkeit jeweils in den enkomiastischen Gesängen gelobt werden (1. Teil: Gesänge II, X, XII, XVI, XX, XXVI, XXVII, XXXII, XXXV, XXXVIII, XLIII). Auch trifft die moralische Kritik, die in zahlreichen Gesängen des ersten Teils geübt wird, vor allem die Männer, denn menschliche Laster werden von Terracina generell zu männlichen Lastern umgedeutet (VII, VIII, XI, XV, XXIII, XXIV, XXIX). So wird der Discorso zu einer Streitschrift gegen die männlichen Laster und Unzulänglichkeiten. Während in den misogynen Schriften des Geschlechterstreits die vermeintliche Falschheit und Untreue der Frauen zur Debatte stehen, sind es bei Terracina die Männer, die ihre Frauen betrügen und verlassen (VII, XXI, XXIII). Der Gesang XXII, der den „Magnifiche donne“ gewidmet ist und auf den ersten Blick eine Kritik der wollüstigen und untreuen Frauen zu sein scheint, negiert die Ironie Ariostos im korrespondierenden Gesang des Orlando vollständig. So heißt es bei Terracina:

Welche Frau sei denn mit einem einzigen Liebhaber

Froh, glücklich und zufrieden?

Wer will, wer verachtet, wer wankelmütig sei,

befriedigt alsbald jedes noch so kleine Bedürfnis.

Von den Haarspitzen bis zu den Füßen, ist alles unzuverlässig

Und würde am Tage 30 Liebhaber wechseln,

Obwohl ich heute davon ausgehe,

dass ihr sehr wenige von dieser Art seid.15

Während Ariosto schreibt:

Ihr Frauen, die ihr wohl erzogen und eurem Liebhaber dankbar seid,

die ihr euch mit einer einzigen Liebe zufrieden gebt,

so ist es doch sicher, dass ihr unter so vielen,

nur sehr wenige dieses Geistes seid.16

Auch wenn von Hochmut, Ehrgeiz und Neid die Rede ist, handelt es sich im Discorso um rein männliche Fehler, unter denen allein die Frauen zu leiden haben. Auf der diskursiven Ebene wird Terracina spätestens in den Gesängen V und XXVIII, die jeweils den Männern als „Feinde der Frauen“ („uomini nemici delle donne“) gewidmet sind, explizit. Im V. Gesang des ersten Teils des Discorso nimmt sie die Einleitungsoktave des korrespondierenden Gesangs des Orlando auf, die ebenfalls von der Grausamkeit handelt, mit der die Männer Frauen behandeln. In ihrer Widmungsoktave gibt Terracina so vor, ihre Geschlechtsgenossinnen rächen zu wollen. Im Bewusstsein der gesellschaftlichen Grenzen, die ihrem Geschlecht auferlegt sind, hofft sie dabei auf die göttliche Gerechtigkeit. Der Gesang scheint einen Anklagemonolog zu inszenieren, der ganz in der Tradition der Geschlechterpolemik steht, indem die Dichterin, analog zu Ariosto, auf den Vergleich mit dem Tierreich rekurriert. Dort schützen die Männchen ihre Weibchen und bekämpfen sie nicht, wohingegen Männer häufig Gewalt gegen Frauen walten ließen (Gesang V, 3, 4). Im Gesang XXVIII vertieft L. Terracina die Klage gegen die Verleumder der Frauen, indem sie die Geschichte des Gastwirtes aus dem korrespondierenden Gesang des Orlando anzitiert. Es handelt sich um die Episode über die wollüstige Fiammetta. Die Geschichte wird von Terracina nicht nacherzählt, da sie davon ausgeht, dass diese bei den zeitgenössischen Lesern bekannt war. Als Antwort auf diese Episode wird im folgenden Gesang, der sich an die „wankelmütigen Männer“ („Alli instabili, e infermi uomini“), richtet und praktisch keinen Bezug zum korrespondierenden Gesang des Orlando aufweist, der Topos der wankelmütigen und wollüstigen Frau nun vollkommen dekonstruiert, indem das Bild der untreuen und wankelmütigen Männer entworfen wird.