Große Werke der Literatur XV

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Literaturverzeichnnis
Primärliteratur:

Emerson, Ralph Waldo: „Hymn: Sung at the Completion of the Concord Monument“. Collected Poems and Translations. Hgg. Harold Bloom und Paul Kane. New York 1994, S. 125.

Thoreau, Henry David: Walden. Hg. J. Lyndon Shanley. Princeton 1971.

— : Journal. Bisher 8 Bände. Hgg. Elizabeth Hall Witherell (u.a.). Princeton 1981.

Deutsche Übersetzungen:

Walden, oder Leben in den Wäldern. Übers. Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Zürich 2004.

Walden: Ein Leben mit der Natur. Übers. Erika Ziha. München 1999.

Walden, oder Leben in den Wäldern. Übers. Anneliese Dangel. Köln 2009.

Sekundärliteratur:

Coetzee, J.M.: „What is a Classic? A Lecture“ (1991). Stranger Shores: Essays 1986–1999. London 2002, 1–19.

Donath, Anne: Wer wandert, braucht nur, was er tragen kann: Bericht über ein einfaches Leben. München 2006.

Eliot, T.S.: „From Poe to Valéry“ (1948). The Recognition of Edgar Allan Poe. Hg. Eric W. Carlson. Ann Arbor 1970, 205–219.

— : „What is a Classic?“ (1944). Selected Prose of T.S. Eliot. Hg. Frank Kermode. London 1975, 115–131.

Engler, Balz: „What is a Classic?“ Poetry and Community. Tübingen 1990, 42–57.

James, Henry: The American Scene (1907). Collected Travel Writings: Great Britain and America. Hg. Richard Howard. New York 1993, 351–736.

Kermode, Frank: The Classic. London 1975.

Löffler, Philipp (Hg): Reading the Canon: Literary History in the 21st Century. Heidelberg: 2017.

Lowell, James Russell: „Thoreau“ (1865). The Writings of James Russell Lowell. Riverside Edition. Boston 1890, 1: 361–381.

Mukherjee, Ankhi: What is a Classic? Postcolonial Rewriting and Invention of the Canon. Stanford. Redwood City CA 2014.

Pavese, Cesare: „The Literary Whaler“ (1960). The Recognition of Herman Melville. Hg. Hershel Parker. Ann Arbor 1970, 194–203.

Sainte-Beuve, Charles Augustin: „Qu’est-ce qu’un classique?“ Causeries du lundi, 21.10.1850, 38–54. (http://www.tierslivre.net/litt/lundi/classique).

Schulz, Dieter: Henry David Thoreau: Wege eines amerikanischen Schriftstellers. Heidelberg 2017.

Schulz, Kathryn: „Pond Scum: Henry David Thoreau’s Moral Myopia“. The New Yorker (19.10.2015). (http://www.newyorker.com/magazine/2015/10/19/pond-scum).

Twain, Mark: A Tramp Abroad, Following the Equator, Other Travels. Hg. Roy Blount, Jr. New York 2010.

Walden 2015ff. Gruner+Jahr Verlagsgruppe. (http://www.waldenmagazin.de/download/Walden_Factsheet_2015.pdf).

Walden 2017. (http://www.gujmedia.de/print/portfolio/walden/leserschaft/).

Walden, a Game. (https://www.waldengame.com/).

Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002.

— : Literature as Cultural Ecology: Sustainable Texts. London 2016.

‚Effi Briests arme Schwestern‘

Theodor Fontane: Cécile, Irrungen, Wirrungen, Stine

Hans Vilmar Geppert

für Gunther Gottlieb

Ein Text, ein ‚textum‘, das ist, wie der lateinische Name sagt, zunächst einmal ein ‚Gewebe‘, ein Gewebe wie Tweed beispielsweise, ein Gewebe aus vielen feinen, verschiedenfarbigen Fäden. Ein solcher ‚Text‘ käme der Erzählkunst Theodor Fontanes in der Tat recht nahe. Wenn man ein unifarbenes Kleidungsstück, einen dunkelblauen Pullover beispielsweise oder eine rostrote Krawatte gegen eine Tweed-Jacke hält – alles natürlich aus Schottland, das Fontane bekanntlich sehr liebte –, dann werden in dem vielfarbigen Gewebe blaue oder rote Muster sichtbar, die man ohne diesen Kontext vielleicht übersehen hätte. Lässt sich so vielleicht auch Literatur neu lesen?

Denn wenn Fontane in vielen Farben angelegte ‚Gewebe‘ aus feinen Fäden erzählt, dann hat der so gut wie zeitgleich um ihn her dominierende europäische Naturalismus eines Zola, Ibsen, Arno Holz, Hardy, Gissing oder Giovanni Verga oft etwas farbig Kräftiges, Drastisches und bewusst Provozierendes, ja Plakatives. Man setzte auf „Totalanschauungen“.1 Das war Fontanes Sache nicht. Aber hält man solche kräftigeren, eindeutiger geprägten und farbig expliziten ’Kon-Texte‘ gegen ein Textkorpus wie das Fontanes, so wie eben einen blauen Pullover gegen eine grau-beige-blaue Tweedjacke, es können Spuren und Fäden feiner Muster sichtbar werden, die gleichwohl klar konturiert hervortreten. Hier setzt mein Vortrag an. Denn so schließen sich vielleicht solche feinen, oft jedoch sehr deutlichen und kontrastreichen Spuren zu einem kohärenten Muster zusammen,2 das vielleicht, wenn ich so sagen darf, ‚Effi Briests arme Schwestern‘ wie ein Suchbild in den drei Erzählungen Cécile, Irrungen, Wirrungen und Stine sichtbar machen könnte. Denn was diese drei, ihrer Entstehung nach ineinander verschachtelten Texte verbindet, das ist, so meine heutige These, Fontanes ganz spezifische Auseinandersetzung mit dem Europäischen Naturalismus.

Fontane begann 1881 damit, die Erzählung Stine zu konzipieren und nieder zu schreiben. Doch ein Jahr später 1882 brach er diese Arbeit ab und begann die an Irrungen, Wirrungen. Auch hier machte er zwei Jahre später halt, um zwischen 1884 und 1887 Cécile kontinuierlich auszuarbeiten und abzuschließen. Wieder ein Jahr später schloss er 1888 Irrungen, Wirrungen ab, und noch einmal zwei Jahre danach lag schließlich 1890 Stine vor.3 Die drei nacheinander erschienenen Erzählungen rahmen einander also ihrer Entstehung nach ein. Die letzte ist zugleich die erste, die zweite die vorletzte, und so fort. Aber das macht die mittlere keinesfalls zum Zentrum. Cécile ist, was Konflikt und Milieu betrifft, gegenüber den anderen beiden Erzählungen, die sie einrahmen, eher ein exzentrischer, wenn man will, peripherer Teil dieser Trilogie. Wo das ‚Zentrum‘ dieses Textkorpus liegt und was die drei Erzählungen wesentlich verbindet, ist überhaupt gar nicht so leicht zu sagen. Hier setzt meine heutige These an. Denn so wie verschiedene Dessins und Schnitte gleichwohl bestimmte Muster gemeinsam haben können, die eigentlich erst ein mehr unifarbener fremder Text deutlicher sichtbar macht, könnte es dann so sein, dass die drei Erzähl-‚Texte‘, Erzähl-Gewebe: Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine um so etwas wie eine ‚externe Mitte‘ kreisen: um Motive und Strukturen des europäischen Naturalismus?4

Erzähl-Fäden und -Muster

Ich beginne meine Beobachtungen und Überlegungen mit einer kleinen, aber wichtigen Szene aus Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888). Der ursprüngliche Untertitel: Eine Berliner Alltagsgeschichte, passt zur Alltäglichkeit der Szene. In ihr – man merkt gleich das Kräftige im Feinen – geht es um kleine alltägliche Tragik, um die Erfahrung, alltäglich ein wenig zu sterben. Die beiden Hauptpersonen, indem sie sich dem Alltag gesellschaftlicher Konventionen unterworfen haben, erleiden einen leisen, allmählichen, kalten Tod: Sie sterben erst in ihren Gefühlen, dann in ihrem humanen Selbstbewusstsein, in ihrem ‚Herzen‘, wie man zu Fontanes Zeit gesagt hätte, bis sie immer mehr nur noch wie Automaten weiterleben. Denn „ohne rechte Liebe“,1 wie es später Effi Briest (1894) formulieren wird, eine Liebe, die Freiheit und Aufrichtigkeit voraussetzt, können manche Menschen, können vor allem viele Frauen bei Fontane, nicht überleben.2

Problem-, Dreh- und Angelpunkt der Handlung in Irrungen, Wirrungen ist die unmögliche Liebe zwischen einem Baron, Gardeoffizier, von Schulden bedrängt – was sonst? –, und einer jungen, hübschen, kleinbürgerlich lebenden Textilarbeiterin. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sich beide getrennt und Botho von Rienäcker hat eine reiche Erbin geheiratet. Eines Tages, auf dem Heimweg von der Arbeit, geht Lene die Lützowstraße in der Nähe des Tiergartens hinunter:

Aber mit einem Male hielt sie und wußte nicht wohin, denn auf ganz kurze Entfernung erkannte sie Botho, der, mit einer jungen, schönen Dame am Arm, grad auf sie zukam. Die junge Dame sprach lebhaft und anscheinend lauter heitre Dinge, denn Botho lachte beständig, während er zu ihr niederblickte. Diesem Umstand verdankte sie’s auch, dass sie nicht schon lange bemerkt worden war, und rasch entschlossen, eine Begegnung mit ihm um jeden Preis zu vermeiden, wandte sie sich, vom Trottoir her, nach rechts hin und trat an das zunächst befindliche große Schaufenster heran, vor dem, mutmaßlich als Deckel für eine hier befindliche Kelleröffnung, eine viereckige geriffelte Eisenplatte lag. Das Schaufenster selbst war das eines gewöhnlichen Materialwarenladens, mit dem üblichen Aufbau von Stearinlichtern und Mixed-Pickles-Flaschen, nichts Besonderes, aber Lene starrte darauf hin, als ob sie dergleichen noch nie gesehen habe. Und wahrlich, Zeit war es, denn in ebendiesem Augenblicke streifte das junge Paar hart an ihr vorüber, und kein Wort entging ihr von dem Gespräche, das zwischen beiden geführt wurde. […]

 

Lene fühlte das Zittern der dünnen Eisenplatte, darauf sie stand. Ein waagerecht liegender Messingstab zog sich zum Schutze der großen Glasscheibe vor dem Schaufenster hin, und einen Augenblick war es ihr, als ob sie, wie zu Beistand und Hilfe, nach dem Messingstab greifen müsse, sie hielt sich aber aufrecht, und erst als sie sicher sein durfte, dass beide weit genug fort waren, wandte sie sich wieder, um ihren Weg fortzusetzen. Sie tappte sich vorsichtig an den Häusern hin, und eine kurze Strecke ging es. Aber bald war ihr doch, als ob ihr die Sinne schwänden, und kaum, dass sie die nächste nach dem Kanal hin abzweigende Querstraße erreicht hatte, so bog sie hier ein und trat in einen Vorgarten, dessen Gittertür offen stand. Nur mit Mühe noch schleppte sie sich bis an eine kleine zu Veranda und Hochparterre hinaufführende Freitreppe, wenige Stufen, und setzte sich, einer Ohnmacht nah, auf eine derselben.

Als sie wieder erwachte, sah sie, dass ein halbwachsenes Mädchen, ein Grabscheit in der Hand, mit dem sie kleine Beete gegraben hatte, neben ihr stand und sie teilnahmvoll anblickte […]. (415/416)

Und als Lene wieder etwas zu Kräften kommt und weggeht, sieht ihr das Kind „traurig verwundert nach, und es war fast, wie wenn in dem Kinderherzen eine erste Vorstellung von dem Leid des Lebens gedämmert hätte“ (ebd.).3

Dies könnte eine naturalistisch genaue Theater- oder Filmszene sein. Aber die feinen Fäden der Erzählkunst Fontanes zeigen viel mehr als nur Szene und Handlung. Hier ist alles voll Bedeutung, die weit voraus- und zurückführt.4 Zunächst ist es die Kunst der Perspektiven, die die ‚Fäden‘ sozusagen ‚auseinander zieht‘, also die Aussagen differenziert. Wir, die Leser, sehen genau und fühlen geradezu körperlich mit Lene mit, sehen aber auch hinter ihrem Rücken wie Botho und Käthe vorbeigehen. Botho bewegt sich, was eine weitere Perspektive eröffnet, auf Lene zu, aber ohne sie zu bemerken. So macht die Konstellation der Figuren auch sie für ihn zu einem Ding unter so vielen anderen Dingen. Und wir Leser sollen alles registrieren: die vielen Leute und die Einzelnen, die Intensität von Lenes Betroffenheit und die Tatsache, dass ihr Geliebter sie übersieht, die Welt der Gefühle und die Oberfläche der Dinge, die Detailgenauigkeit der „geriffelten Eisenplatte“ beispielsweise, oder die der „Stearinlichter“ oder die des „waagerecht liegenden Messingstabes“, den wir in der Vorstellung beim Lesen geradezu anfassen können. So wird Lene ganz wörtlich und vor unseren Augen ‚verdinglicht‘. Und was bedeutet das Schaufenster?

Es wäre von hier nur ein kleiner Schritt gewesen zu einer Film-Inszenierung, etwa im Stile Rainer Werner Fassbinders:5 Wirkt die Schaufensterscheibe nicht bereits jetzt in der Vorstellung beim Lesen wie ein Spiegel, in die wir Leser, ganz wie es im Film die Kamera täte, über Lenes Schulter hinweg hineinschauen und in dem wir die junge Frau erblicken, überblendet von Dingen, Straße, Passanten, ’gleich-gültig‘ im Blick des sie nicht bemerkenden, selbst aber ebenfalls im Spiegel sichtbaren Geliebten, eine unter vielen und Ding unter Dingen? Doch diese Spiegelung sagt noch mehr: ‚Ding unter Dingen‘ ist jetzt nicht nur Lene, das ist hier auch Botho. Und das hat, wenn man richtig hinschaut, weit reichende Bedeutungen.

Denn was so verfremdet wird, das wird bedeutsam herausgehoben. Es verweist auf andere Details und Szenerien außerhalb des engeren Kontextes. Man sieht, wie mehrere Erzählfäden sich treffen. Bothos Lachen und Nichtbemerken erinnert etwa retrospektiv daran, wie er Lene früher einmal, als sie noch meinten, zusammen glücklich zu sein, „mit leichter Handbewegung“ als „Mademoiselle Agnes Sorel“ vor seinen befreundeten Offiziers-Kameraden, beiläufig, aber unüberhörbar, beleidigt hatte (390).6 Und dem entspricht dann auch ein nach vorn weisender Bruch in Lenes Leben, der genau jetzt beginnt. Sie wird wegen dieser Begegnung in der Lützowstraße von der nahe gelegenen Gärtnerei, ihrem früheren kleinen Refugium und „Liebesgärtlein“, wegziehen. Diese Fremde, auch der immer noch offenkundige Gegensatz von Natur und Stadt, sind jetzt schon spürbar als plötzliche Kälte und Anonymität um sie her, durch das Motiv des kleinen Vorgartens, wo sie zusammenbricht, noch unterstrichen. Noch genauer und feiner: Von der jetzigen Erschütterung wird die junge Frau „eine weiße Strähne“ in ihrem Haar behalten (423), ein feiner, aber erkennbarer Verweis zurück auf ihr Haar, mit dem sie einmal ein paar Blumen für Botho gebunden hatte, und zugleich ein Blick voraus, eben ein Zeichen für Alter und Tod, so dass das Zerbrechen dieses Verbundenseins – „Haar bindet“, hatte sie damals ahnungsvoll gesagt (379) – nach und nach den inneren, den emotionalen und im weiteren Sinn auch den humanen Tod bedeuten wird, auch wenn es nur ein leiser Tod ist.

Botho hat dem „Herkommen gehorcht“ und weiß, dass er daran innerlich „zugrunde gehen“ wird, aber auf komfortable Weise, oder, wie er sich ausdrückt: „Er geht besser zugrunde, als der, der […] widerspricht“ (405). In einer viel späteren, dieser hier aber immer noch korrespondierenden Szene auf dem großstädtischen Friedhof – ein kultivierter Natur-Raum innerhalb der Großstadt, wie der Tiergarten-Park und natürlich die Gärtnerei und jetzt der kleine Vorgarten – wird er von Zeichen des Todes umgeben sein, die zugleich eine Welt gefühlskalter Oberflächlichkeit und universaler Käuflichkeit vorstellen, so wie jetzt schon die Dinge im Schaufenster. Ich meine jene Episode, in der er einen Kranz auf das Grab von Lenes Mutter legen will: Gerade im Versuch, an eine für ihn eigentlich lebenswichtige Kontinuität zumindest in einer Geste anzuknüpfen, erlebt er deren endgültiges Zerreißen, auch dies wieder in einer alltäglichen und doch zugleich viel tiefer bedeutsamen Weise. Er fährt, von einem dürren, fast verhungerten Klepper gezogen, endlos durch öde Vorstadtstraßen und an Wänden voll wirrer Reklameplakate hin, bekommt nur einen billigen, massenhaft hergestellten Kranz, und braucht schließlich einen Führer, um – das muss der Leser sich hinzudenken – im Wirrsaal der Friedhofswege zwischen Gräbern, die alle fast gleich aussehen, nicht verloren zu gehen (vgl. 446–453). Und diese Szene, diese das Innere veräußernde fremde Todeswelt – sie erinnert nicht zuletzt an den Friedhof am Ende von Germinie Lacerteux (1865) der Brüder Goncourt – wäre nun wirklich sehr gut in einen Film umzusetzen.

Sieht man die beiden Szenen zusammen, dann verstärkt die Korrespondenz der Motive erneut deren Zeichenfunktion, eine Funktion des Verweisens auf Anderes; und je mehr diese Intensität wächst, umso mehr kann sie auch Konträres bezeichnen: Die Fremde spricht von verlorener Nähe und Heimat als etwas Lebensnotwendigem, die beliebige oder auch wirr zugebaute Stadtwelt spricht von der Sehnsucht nach harmonischen Naturlandschaften, einer Sehnsucht, die noch über die Verweis-Kette von Vorgarten bzw. Friedhof, Gärtnerei, Park, Ausflugsort am Fluss und so fort hinausführt. Wenn dort der entscheidende Bruch in der Liebesgeschichte geschehen war, der sich im endgültigen Abschied nach der plötzlichen Begegnung und im Wegziehen aus der Gärtnerei wiederholt, so spricht auch das vom Bedürfnis nach umfassenderer, lebendiger Geborgenheit und ganz einfach Liebe. Der „Ring“ aus Haar, der gerundete Kranz aus „Immortellen“, das Anteil nehmende und gärtnernde Kind – bei Fontane durchaus noch von romantischer Symbolik des sich erneuernden Lebens geprägt –,7 all das erinnert gerade in seinen großstädtisch-modernen Verfremdungen, die ja auch ein Moment zeitlicher Unwiederbringlichkeit markieren, an eine zyklisch sich erneuernde Natur, harmonisch, liebevoll, groß im Sinne Rousseaus, der Romantik, Ludwig Feuerbachs, durchaus auch noch bei Karl Marx, erst recht bei Friedrich Engels zu finden, und vor allem eben – und damit erkennen wir vielleicht einen Teil des Suchbilds – eine zur Zivilisation und Technik alternative Natur, der wir, und das mag viele überraschen, immer wieder im Roman des Europäischen Naturalismus begegnen.8

Cécile, Lene, Stine – und Effi

Dass die Europäischen Naturalisten auch, und meines Erachtens sogar wesentlich, geradezu Rousseauisten und Romantiker waren, und dass Fontane in feinen Verweisen und Verknüpfungen daran Teil hat, soll uns gleich beschäftigen. Vorerst wollen wir die andere Hälfte des naturalistischen Kontexts im Œuvre Fontanes in den Blick nehmen: die Natur im Sinne Darwins, den ‚natürlichen‘ Überlebenskampf in der modernen Zivilisation und Gesellschaft.

Die Komparatistik hat sich bei Fontane ganz überwiegend für Effi Briest interessiert und diesen Roman immer wieder in den Kontext von Madame Bovary, Anna Karenina, Middlemarch oder A Portrait of a Lady gestellt.9 Aber das ist nur zum Teil überzeugend. Effi Briest ist bei allem feinen psychologischen Takt materialistisch härter konzipiert als die anderen genannten Romane. Wird nicht Effi, wenn sie von ihrem Mann umworben und von ihren Eltern verheiratet wird, wird sie nicht letztlich wie ein Ausstattungsstück behandelt, das richtig „stehen“ muss,10 um gut zu wirken? Wird sie nicht, wie gesellschaftlich gesittet und leichthin immer, eigentlich doch geradezu verkauft, und hat sie das nicht von vornherein akzeptiert? Natürlich hat Tolstois Anna den mächtigen Karenin letztlich wegen gesellschaftlicher und materieller Vorteile geheiratet. Aber das ist nicht der Konflikt, an dem sie verzweifelt. Sie stirbt an der Enttäuschung ihrer totalen Liebe. Effi hat ihren Verführer Krampas nie geliebt, sehnt sich weder nach ihm, noch leidet sie an Schuldgefühlen. Aufgerieben wird sie davon, dass sie abhängig bleibt: Abhängig ist sie im Sorgerecht, ja Besuchsrecht für ihr Kind, abhängig ist sie lebenslang von den Vorurteilen anderer, vor allem denen ihres geschiedenen Mannes; und eben auch materiell und in ihrer ganzen Lebensführung ist sie abhängig.

Nur ein Detail sei vergleichend genannt. In Madame Bovary ist viel von Geld die Rede. Aber wenn die Bovary das Geld ihres Mannes verschwendet und Schulden macht, sie würde ja auch stehlen oder sich prostituieren, dann letztlich aus verzweifelter Sehnsucht nach einem von Liebe erfüllten Leben, so geprägt von Clichés, illusionär, ja teilweise dumm sie sich das immer vorstellen mag. In dem Augenblick, in dem sie das Gift nimmt, von ihren Schulden gehetzt, ist sie doch strahlend schön wie nie zuvor, und, wie es ausdrücklich heißt: „Sie litt nur an ihrer Liebe“.11 Wenn Effi Briest dagegen den Brief öffnet, in dem ihre Eltern ihr von Duell und Scheidung berichten, liegt höchst materiell ein Bündel Banknoten bei. Auf dem umhüllenden Papierstreifen steht die Summe, und ausdrücklich vermerkt der Erzähler: „von des Vaters Hand“.12 Das ist viel unauffälliger erzählt als die Geldverwicklungen der Bovary, aber heißt es nicht ganz fein, ganz hart und ganz anders: Innstetten hat Effi ihren Eltern wie eine fehlerhafte Ware zurückgegeben, und sie mögen von jetzt an bitte für ihren Unterhalt aufkommen?

Wie steht es nun mit Effi Briests ‚armen Schwestern‘, zunächst einmal denen bei Fontane selbst? Noch viel drastischer als Effi war Cécile, eine sehr schöne, sensible, innerlich aufrichtige, aber nahezu völlig ungebildete ‚femme fragile‘, seinerzeit ‚gekauft‘ worden. Der alte Fürst hat sie ihrer verwitweten und verarmten Mutter abgenommen, und dann wurde sie an dessen Sohn geradezu ‚vererbt‘: ein schöner, wertvoller Besitz’, bewundert und geliebt wie ein edles Pferd, aber eben genau das. Und als Fürstenmaitresse hatte sie die ökonomische Basis erworben (z.B. „das Gut […], das will sagen, [das] Gut der Frau“, 252), wovon ihr Mann und sie jetzt gut leben können. Allerdings, eine adlige Fürstenmaitresse gehörte damals zur großen Gesellschaft. Aber so ist sie freilich auch mit einer ‚Geschichte‘ belastet, die Gordon, der sie zu lieben meint, nicht erträgt. Wenn er Cécile beleidigt, beleidigt er auch die Liebe, zu der er nicht finden kann. Und wie eine erinnerte Heimat, in die man ebenfalls, wie in die verweigerte Liebe, nicht hinein findet, stehen hier die Waldlandschaften des Harz dagegen und die üppigen Blumengärten in Berlin, die „Blumenwelt“ (259), die die kranke Cécile von ihrer Terrasse aus sieht. Sie stehen da wie eine Natur, die man durch ein Fenster betrachtet. Hinter allem Zwang und Krampf gesellschaftlicher ‚Wirrungen‘ wird eine Natur sichtbar, die schmerzlich, ja tödlich fehlt.13

 

In Irrungen, Wirrungen, wie Cécile eine Geschichte unlebbarer Anpassung an gesellschaftliche Konventionen, schlägt die Beleidigung noch klarer auf den Beleidigten zurück. Und auch hier, im Kern der ‚Wirrungen‘, geht es nur oberflächlich um Standesunterschiede: Botho hat, wie die Leser genau erfahren, „9000 jährlich und gibt 12000 aus“ (361): für Rasse-Pferde, eine Gemälde-Sammlung und dergleichen. Die Hypothek auf seinen Familienbesitz wurde eben gekündigt. Er muss, er muss, er kann nicht anders, als sich an eine reiche Erbin zu ‚verkaufen‘, heiter und komfortabel gewiss, alles wird im Plauderton vereinbart, so wie ja auch Céciles Vorgeschichte als Fürstenmaitresse ganz gesittet verlaufen und nach ‚höfisch‘ geprägten Moralgesetzen auch völlig akzeptabel gewesen war, wie sie nur als ‚Klatsch‘ weiter lebt, und schließlich ja auch bürgerlich wohl situiert zu Ende geht. Aber prinzipiell herrschte hier derselbe materielle Zwang wie bei Stines Schwester Pauline, die sich vom Baron aushalten lassen muss. Und nun erkennt man auch den komplementären Wertekonflikt zu den Beleidigungs-Konstellationen. Stine weiß neben vielem anderen, dass ihr kranker junger Graf, krank durch eine „standesgemäße“, ganz „ritterliche“ Kriegsverletzung, so er wegen solch einer Mésalliance sein Erbe verlöre – wohlgemerkt: Was sein Adel wert ist, wird durch ein „Majorat“ (541), also durch einen Erbschafts-Vertrag bürgerlichen Rechts geregelt –, dass er dann so gut wie mittellos wäre und als gewöhnlicher Invalide auch so gut wie erwerbsunfähig. Und für alles, was dann das Leben an Härte und Misere bringen wird, fragt ihn Stine, „soll das Herz aufkommen“ (552)?

Bei Fontane ist alles taktvoll gemildert, aber das ‚Herz‘ hat keine Chance. So geht es letztlich sehr klar auch jetzt um Menschen, die vom Geld definiert werden, die sich verkaufen müssen, deren Humanität dagegen, wie die Stines, hilflos ist, oder um Menschen die, wie in den Beleidigungen gegenüber Cécile und Lene, zuletzt sich selbst zerstörend gegen die Welt opponieren. Und es geht auch bereits um arbeitende Menschen: Gordon ist zwar ein ehemaliger Offizier und wird satisfaktionsfähig sein, aber jetzt ist er ein akademisch gebildeter ‚höherer Angestellter‘; Lene und Stine sind Arbeiterinnen. Sie machen saubere, feine, anspruchsvolle Textilarbeit, teilweise, und nicht ungemütlich, zu Hause; und die Industriearbeit bei Borsig wird in einer oft zitierten Szene in Stine gerade als Mittagspause dargestellt. Gleichwohl, die Verweisfunktion auch feiner Fäden und Spuren auf eine harte Realität der Zeit ist unverkennbar. Anders gesagt, und das scheint mir jetzt wichtig, Fontane erzählt nur, aber dies durchaus und gezielt.

Metonymien des Naturalismus

Metonymien sind rhetorische Figuren,14 und dazu zählen im Sinne einer Rhetoric of Fiction auch Erzählfiguren,15 die Bedeutungsübertragungen herstellen nach dem Prinzip partes pro partibus (Teile stehen für Teile). Der Name des Firmengründers ‚Horch‘ beispielsweise (das ist der eine pars bzw. ‚Teil‘), steht im übergreifenden Kontext der Produktion und des Gebrauchs von Automobilen (das wäre das implizite totum), auch wenn er inzwischen in lateinisch ‚Audi‘ übersetzt wurde, er kann für einen anderen ‚Teil‘ dieses ganzen Kontexts stehen, nämlich für ein einzelnes Auto. So können wir etwa sagen: „Ich fahre jetzt einen Audi“, und dies wird seit je problemlos verstanden.

Und genauso, nach demselben Mechanismus wechselseitiger Bedeutungs-Vertretung, können dann auch umfangreichere Texte und Kultur-Phänomene bedeutsam aufeinander bezogen werden. Metonymien stellen also ein Wechselspiel her von Verallgemeinerung und Vereinzelung, von Verbindung und Trennung, Konnex und Identität, einen wechselseitigen Bezug von Teilen, Ganzheiten und anderen Teilen auf einender, und so fort. In diesem Sinne war das eingangs skizzierte ‚Textum‘-Modell von ‚Tweed und Kaschmir‘, in dem vielfarbige Fäden auftauchen, verschwinden, irgendwo sonst, vielleicht sogar weit getrennt, wieder hervortreten und so fort, ein solches ‚Gewebe‘ war immer schon eine metonymische Konfiguration.

Dazu nun gleich ein weiteres Beispiel zum Thema „Fontane und der europäische Naturalismus“. Die Szene:

Der ältere Herr […] reichte seiner Dame den Arm und ging im langsamen Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt, bis an das Ende des Zugs […],

diese Szene und überhaupt die ganze gepflegte Langeweile – „niemand sprach“ – in einem Abteil des Schnellzuges von Berlin in den Harz am Anfang von Fontanes Cécile16 hat auf den ersten Blick sicher wenig zu tun mit der Brutalität der Handlung in Zolas Eisenbahn-Roman La bête humaine / Die menschliche Bestie (1890). Aber das Eisenbahnnetz ist ganz wörtlich ein großer „Konnex“, in dem dieses betont „leere […] Compartiment“, in dem man „allein“ zu bleiben hofft, Station für Station und explizit anschaulich (in praesentia würden die Rhetoriker sagen) nicht nur mit Berlin („die Siegessäule halb gespenstisch“) und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit („Sahst du Saldern?“) verbunden bleibt, sondern dieses ganz Europa umspannende Netz verknüpft, implizit gewiss (und jetzt natürlich in absentia), aber genau gesehen dann doch fest, diese kleine und leise Eisenbahn-Szene aus Cécile durchaus mit dem großen, lauten Bahnhof des „quartier de l’Europe“ in Paris17 – „quartier de l’Europe“: ein bezeichnender Name –, wo La bête humaine beginnt. Und dieser reale Nexus der beiden Szenerien (in der Tat ein totum für zwei getrennte partes), anders gesagt: dieser fern reichende, bei Fontane ganz feine, für Zola starke und laute, gleichwohl gemeinsame ‚Erzählfaden‘ scheint mir alles andere als beliebig. Sieht man nur etwas genauer hin, dann entdeckt man hier viele weitere solcher metonymischen Gemeinsamkeiten.

In La bête humaine geht es, vereinfacht, aber nicht falsch gesagt, um die menschliche Fähigkeit zu töten, ja zu morden, die sich in der technisierten Genauigkeit und Brutalität der Eisenbahn spiegelt: Mord aus Gier, aus Eifersucht, vor allem aber, so ist das bei Zola, aus ererbter, triebhafter, unentrinnbarer Aggressivität. Die bricht zuletzt beim Romanhelden Jacques Lantier durch. Und diese ‚menschlich bestialische‘ Brutalität spiegelt sich auch im zentralen Eisenbahn-Unfall wieder, zuletzt im Krieg von 1870, in den dieser Roman mündet. Dieser ‚Erzählfaden‘ der Eisenbahn, bei aller Verschiedenheit der beiden ‚partes‘ bei Fontane und Zola zeigt nun durchaus auch ein ‚Muster‘: Wie hat bei Zola die drastische Serie von Mord und Totschlag begonnen? Der reiche und mächtige Eisenahndirektor hatte vor Jahren sein Mündel Sévérine sexuell ausgebeutet. Ihr Mann ermordet ihn später aus Eifersucht und verletztem Stolz, und das auf brutale und zugleich raffinierte Weise. Damit setzt die eigentliche Handlung ein.18 Der einzige Zeuge, Jacques Lantier, schweigt. Aber die beobachtete Tat ‚weckt‘ den Triebtäter in ihm auf, und am Ende des Romans wird er Sévérine ermorden.

Alles sehr kräftig und laut und weit entfernt von den feinen Erzählfäden Fontanes. Aber wenn in Cécile der alte Fürst die sehr junge Cécile ihrer Mutter sozusagen ‚abgekauft‘ hat, und sein Sohn sie als Maitresse weiter ‚beschäftigt‘, zeigt sich da nicht ganz fein letztlich doch dieselbe ‚Erzählfarbe‘ der ökonomisch-sexuellen Ausbeutung? St. Arnaud, der sich selbst zu den „Leuten vom Fach [des Tötens]“ zählt (212), und der überhaupt von Anfang an von Todes-Motiven umgeben ist, erschießt seine Gegner ganz gesittet im Duell, aber die ’Ich-Kränkung‘, die aus seinem Handeln spricht, reicht offensichtlich, und letztlich doch wie die in La bête humaine, viel weiter und tiefer zurück, als der jeweilige Anlass. Und so wie es erzählt wird, scheint er den ‚Kick‘ des Tötens durchaus zu genießen. Lebt da nicht doch irgendwo ein eleganter ‚Triebtäter‘ in ihm, der töten will, eine verfeinerte und dekadente bête humaine? Cécile, eine schöne, aber schwache Frau wie Sévérine (beide zeittypische femmes fragiles), wird nicht ermordet, aber leidet an der Ächtung durch ihre bürgerliche Umwelt, nicht zuletzt an der fast reflexhaften Beleidigung durch ihren Geliebten, und sie stirbt daran. Und hier wie dort verstärkt das Verschweigen und Verdrängen das Konfliktpotential von verletzter Natur und gesellschaftlichem Druck. Hier wie dort entsteht eine unentrinnbar gefährliche, letztlich naturalistische Dramatik, die sich, bei allen Unterschieden, dann ja auch in Cecile gewaltsam entlädt.19