Große Werke der Literatur XV

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Primärliteratur:

Fontane, Theodor: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 2. Hgg. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 1971.

Sekundärliteratur:

Aust, Hugo: Theodor Fontane. Tübingen und Basel 1998.

Bauer, Matthias: Romantheorie. Stuttgart, Weimar 1997.

Becker, Sabina: „Literatur als ‚Psychographie‘. Entwürfe weiblicher Identität in Theodor Fontanes Romanen“. Realismus? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts. Hgg. Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Sonderband der Zeitschrift für deutsche Philologie 120. Berlin 2001. 90–110.

Blasberg, Cornelia: „Das Ratsel Gordon oder: Warum eine der ‚schönen Leichen‘ in. Fontanes Erzählung „Cécile“ männlich ist“. Realismus? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts. Hgg. Hartmut Oellers und Norbert Steinecke. Sonderband der Zeitschrift für deutsche Philologie 120. Berlin 2001. 111–127.

Chevrel, Yves: Le naturalisme en question. Paris 1980.

–: Le naturalisme dans les littératurs européennes. Nantes 1983.

–: Le naturalisme. Étude d’un mouvement littéraire international. 2. Aufl. Paris 1993.

Dubois, Jacques; Francis Edeline und Jean-Marie Klinkenberg u.a.: Allgemeine Rhetorik (Rhétorique générale, 1970). Hgg. Arnim Schütz. München 1974.

Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Hg Bernard Ajac. Paris 1986.

Fontane, Theodor: Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen. Hg. Jürgen Kolbe, München 1969.

–: Werke, Schriften und Briefe. Hgg. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. 2. Aufl. Darmstadt 1971.

Geppert, Hans Vilmar: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994.

–: Literatur im Mediendialog. Semiotk, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006.

–: „‚Morgens im Spielkasino‘. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert“. Theorien der Literatur. Bd. IV. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen, Basel 2011. 117–139.

–: „Theodor Fontane ‚Der Stechlin‘“. Große Werke der Literatur. Bd. VI. Hg. H.V. Geppert. Tübingen, Basel 1999. 103–115.

–: „Rhetorik und Literaturtheorie“. Theorien der Literatur. Bd. II. Hgg. H.V. Geppert und Hubert Zapf. Tübingen, Basel 2005. 49–83.

–: „Suchbild Europa. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus“. Europa im Blick. Siebtes gemeinsames Symposion der Universitäten Augsburg und Ossiek. Hg. Gregor Weber. München 2006. 15–29.

–: „Von der ‚menschlichen Bestie‘ zum ‚unbekannten Gott‘. Theorie des Europäischen Naturalismus“. Theorien der Literatur. Bd. VI. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2013. 181–204.

Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane, Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt/M. 1998.

Rippon, Maria R.: Judgement and Justification in the Nineteenth century Novel of Adultery. Westport, Connecticut 2002.

Ueding, Gert und Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986.

Verga, Giovanni: I Malavoglia. Hg. Sarah Zappulla Muscara. Milano 1987.

Zola, Émile: La faute de l’abbé Moret. Hg. Colette Becker. Paris 1972.

–: L’Argent. Hg. Émilien Cararsus. Paris 1974.

–: L’Assommoir. Hg. Jacques Dubois. Paris 1969.

–: La bête humaine. Hg. Robert A. Jouanny. Paris 1972.

–: La fortune des Rougon. Hg. Robert Ricatte. Paris 1969.

–: La terre. Hg. Marcel Girard. Paris 1973.

–: Le docteur Pascal. Hg. Jean Borie. Paris 1975.

–: Le roman expérimental. Hg. Aimé Guedji. Paris 1971.

Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate1

Günter Butzer und Cornelia Wörmann

avant-garde / avant-art / event-art / even-art / ab-art / bart-ab / no-art

Vienna Art Orchestra, Concerto Piccolo

I.

Kurt Schwitters‘ künstlerische Tätigkeit hat einen doppelten Ursprung: zum einen in der expressionistischen Wortkunst von Herwarth Waldens seit 1910 erscheinender Zeitschrift Der Sturm, in der er seine ersten Gedichte veröffentlichte, zum andern im internationalen Dadaismus, dem er seit dessen Entstehen im Frühjahr 1916 in kritischer Distanz verbunden blieb. Dass ihn am Expressionismus v.a. die Wortkunst interessierte, ist kein Zufall, denn anders als die meisten Autoren dieser Strömung (von Georg Heym bis Georg Trakl), beschränkt sie die Konzentration des Ausdruckswillens nicht auf den semantischen Bereich (v.a. durch eine innovative Bildlichkeit und Bildkomposition), sondern unterwirft auch die Grammatik einer weitreichenden Transformation, um auf diese Weise ein Höchstmaß an Expressivität zu erzielen.1 Die damit einhergehende Befreiung des Gedichts vom Reimzwang und seine Neubegründung auf dem allein vom Inhalt her motivierten „notwendige[n] Rhythmus“ hatte bereits Arno Holz 1899 in seinem Essay Revolution der Lyrik gefordert und dabei von einer „neue[n] Wende der Wortkunst“ gesprochen.2 Diese Formel machten sich die Autoren des Sturm-Kreises zu eigen, um damit eine poetische Rede zu bezeichnen, die sich jenseits der sprachlichen Normen bewegt, indem sie die Regeln der Grammatik auflöst und die einzelnen Wörter als autonome Elemente behandelt, wodurch deren maximale Energie freigesetzt werden soll.3 Zur Veranschaulichung kann ein Gedicht August Stramms dienen, des entschiedensten Vertreters dieser Richtung des Expressionismus:

Trieb

Schrecken Sträuben

Wehren Ringen

Ächzen Schwächen

Stürzen

Du!

Grellen Gehren

Winden Klammern

Hitzen Schwächen

Ich und Du!

Lösen Gleiten

Stöhnen Wellen

Schwinden Finden

Ich

Dich

Du!4

Das seit dem Naturalismus literaturfähige Thema der Sexualität wird hier nicht einfach besprochen oder geschildert, vielmehr unternimmt Stramm den Versuch, die Dynamik des sexuellen Akts unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, und zwar durch infinite, substantivierte Verben, die nurmehr lose auf die beiden Pronomina der ersten und zweiten Person Singular bezogen sind.5 Nicht intentionale Handlungen werden hier präsentiert, sondern ein weitgehend entpersönlichtes Geschehen, das die grammatische Korrelation von Subjekt, Prädikat und Objekt hinter sich zu lassen sucht.

Der Einfluss Stramms auf Schwitters‘ frühe Lyrik ist unbestreitbar, wie etwa das folgende Gedicht belegt, das im Juni 1919 im Sturm erschienen ist:

Ich werde gegangen

Gedicht 19

Ich taumeltürme

Welkes windes Blatt

Häuser augen Menschen Klippen

Schmiege Taumel Wind

Menschen steinen Häuser Klippen

Taumeltürme blutes Blatt6

Auch hier ist das dekompositorische Prinzip unübersehbar: Die Lockerung der Grammatik führt zu Wortisolierung und analoger Transformation von Substantiven in (in-)finite Verben („Häuser augen“, „Menschen steinen“), wobei jedoch die Subjektstellung des Personalpronomens wie auch die Folge von Substantiven und Verben, zusammen mit der Kombination von Adjektiven und Nomen, durchaus noch an die freie, multifunktionale Syntax traditioneller Lyrik erinnert – eine Ambivalenz, die auch für Schwitters’ späteres Werk von Bedeutung sein wird.7

Neben dem Expressionismus existiert eine zweite zeitgenössische Referenz, mit der Schwitters vornehmlich in Verbindung gebracht wurde und wird: der im Frühjahr 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire aus der Taufe gehobene Dadaismus. Diese in vielem paradigmatische Avantgarde-Bewegung8 geht insofern deutlich über die Wortkunst hinaus, als sie die zentralen Konzepte der Ästhetik des 19. Jahrhunderts mit großer Konsequenz in Frage stellt: Autorschaft, Intentionalität, Werk, Sinn und die damit verbundene kontemplative Rezeptionsweise werden in der dadaistischen Performance und im Happening – freilich mit je unterschiedlicher Intensität – aufgelöst und in ein „optisch-akustische[s] Tohuwabohu“9 transformiert, bei dem die Unterscheidung zwischen Künstlern und Publikum nicht mehr zu greifen vermag. Peter Bürger, der diese ebenso destruktiven wie produktiven Tendenzen des Dadaismus in seiner Theorie der Avantgarde erstmals einer systematischen Analyse unterzogen hat, ordnet sie einem Willen zur „Überführung der Kunst in Lebenspraxis“ zu, der für ihn das Charakteristikum der Avantgarde-Bewegungen schlechthin bildet.10 Dementsprechend schreibt der niederländische Maler, Konstruktivist und zeitweilige Dadaist Theo van Doesburg in einem Text aus dem Jahr 1923: „Dada ist keine Kunstrichtung. Dada ist eine Richtung des Lebens selbst.“11 Umgekehrt gilt aber auch, nun gegen Bürger: Jede Lebensäußerung kann zum Teil eines Dada-Kunstwerks werden. Das belegen die dadaistischen Aktionen, indem sie alles, was auf der Bühne und jenseits davon geschieht, zu Kunst erklären, sodass das erboste Publikum nolens volens selbst zum wesentlichen Teil der Vorführung wird. In diesem Sinn beschreibt der Dadaist und Dada-Chronist Hans Richter einen Dada-Abend im Zürcher Cabaret Voltaire:

 

Klingeln, Trommeln, Kuhglocken, Schläge auf den Tisch oder auf leere Kisten belebten die wilde Forderung der neuen Sprache in der neuen Form und erregten, rein physisch, ein Publikum, das anfänglich völlig benommen hinter seinen Biergläsern saß. Dann wurde es aus diesem Zustand der Erstarrung in einem solchen Grade herausgetrieben, daß es in eine reguläre Frenesie der Beteiligung ausbrach. DAS war Kunst, das war das Leben, und das WOLLTE man.12

Diesem Programm scheint auch Schwitters‘ Konzeption eines Gesamtkunstwerks zu folgen, das er in mehreren Artikeln seit 1919 ausführt und das die Verbindung aller Künste (Musik, bildende Kunst, Literatur, Theater) realisieren soll, deren Trennung er als künstlich empfand.13 In einem dieser Texte schreibt er:

Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe.14

Außer der für Dada typischen Kunstfähigkeit jeglichen Materials und der ebenso genuin dadaistischen Künstlerschaft jedes produktiven Apparates wird in Schwitters‘ Entwurf eines Gesamtkunstwerks auch deutlich, wo eine wesentliche Grenze zwischen ihm und dem Dadaismus verläuft: Im Gegensatz zu diesem hält er streng an der Trennung zwischen Kunst und Leben fest, sodass dieses letztlich – ganz im Sinne des jungen Nietzsche – nur als Kunst gerechtfertigt ist, diese sich jedoch nach wie vor deutlich von allem unterscheidet, was noch nicht oder nicht mehr Kunst ist. Schwitters vollzieht also die eine Bewegungsrichtung des Dadaismus – vom Leben zur Kunst – durchaus mit, verweigert jedoch die inverse Bewegung von der Kunst zurück ins Leben – und ist damit im strengen Sinn kein Dadaist. Dies war niemand bewusster als Schwitters selbst, der sich zeit seines Lebens, wenngleich ironisch, immer wieder vom Dadaismus abgegrenzt hat – gerade, weil er in der Öffentichkeit stets mit diesem identifiziert wurde: „Ich war Dadaist, ohne die Absicht zu haben, einer zu sein.“15

Trotz dieser, obschon ambivalenten, Distanzierung Schwitters’ vom Dadaismus als avantgardistischer Bewegung ist der werkästhetische Ursprung der Ursonate im dadaistischen Lautgedicht zu suchen. Über dieses schreibt Hugo Ball anlässlich des ersten Vortrags seiner Lautgedichte im Cabaret Voltaire in seinem Tagebuch: „Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ‚Verse ohne Worte’ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird“.16 Zwar hat das Lautgedicht als ein zentrales Element moderner Materialästhetik durchaus einen prädadaistischen Ursprung,17 Hugo Ball fügt ihm jedoch eine für den Dadaismus wesentliche Dimension hinzu: die der ästhetischen Performativität. Als Ball seine ersten Lautgedichte vorträgt, erklärt er vorab, er verzichte „mit dieser Art Klanggedichte […] auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache“, ziehe sich „in die innerste Alchemie des Wortes zurück“ und bewahre so „der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk“.18 Er behauptet also, die Dichtung durch die vollendete Sinnlosigkeit ‚bewahren‘ zu können – tatsächlich entsemantisiert er die Worte so stark, dass es fast nur noch auf die Klanglichkeit ankommt. Balls Intention lag darin – die Rede von der „innerste[n] Alchimie des Wortes“ deutet es an –, die kommunikative Leistung der Sprache aufzuheben und zu einer Äußerungsform zurückzukehren, die „von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden“19 ist. An ihre Stelle tritt eine Ausdruckssprache, die im Sinne von Walter Benjamins Sprachtheorie nicht etwas mitteilen, sondern benennen will.20 Durch die Destruktion der kommunikativen Sprachfunktionen will Ball also den „einzelnen Vokabeln und Laute[n] […] ihre Autonomie“ zurückgeben.21 Demgemäß spricht er von „magisch erfüllte[n] Vokabel[n]“, die beschwören und gebären, also im Akt der Benennung dasjenige, was benannt wird, hervorrufen.22

Die religiösen Bezüge des Lautgedichts kommen nicht zuletzt in der Vortragssituation zum Ausdruck. Für Ball ist Dichtung, zumal Lautdichtung, nicht „am Schreibtisch erklügelt“, sondern „für die Ohren lebendiger Menschen gefertigt“.23 Und so wurden Balls Texte von vornherein für den Vortrag vor Publikum geschrieben, aus dem dann oftmals ein großes Spektakel wurde. Als Ball seine ersten Lautgedichte im Cabaret Voltaire aufführte, trug er ein selbstgemachtes Kostüm mit Schamanenhut:


Abb.1: Hugo Ball beim Vortrag seiner Lautgedichte im Cabaret Voltaire

Die Form des Vortrags scheint hier noch durchaus improvisiert, wenn man Balls Beschreibung Glauben schenken darf:

Ich merkte sehr bald, daß meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein. […] Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm […]. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen […].24

Wie ernst man diese Beschreibung nehmen soll, kann offen bleiben. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass Ball hier mit dem religiösen Kultus ein kulturelles Referenzsystem ins Spiel bringt, das für ihn als selbsternannten „magische[n] Bischof“25 offenbar nahelag, das jedoch nicht das einzig mögliche ist. Kurt Schwitters wird dieses religiöse Referenzsystem dezidiert nicht teilen, sondern – wie wir sehen werden – durch den profanen bürgerlichen Musikbetrieb ersetzen.

II.

Die Inspiration zu seiner Ursonate erhielt Schwitters 1921 in Prag, als sein Freund Raoul Hausmann, der unabhängig von Ball über die von ihm kreierte ‚lettristische Poesie‘ zum Lautgedicht gekommen war, bei einer gemeinsamen Dada-Veranstaltung das Plakatgedicht fmsbwtzäu vortrug. Dies veranlasste Schwitters zu einer langen Reihe von Experimenten mit Lautfolgen wie „fmsbwtözäu, pgiff, pgiff, mü“ und „fms und fms und immer wieder fmsbw“, aus denen schließlich die Ursonate hervorgehen sollte.1 Jahrelang arbeitete Schwitters an dem Monumentalwerk. Der erste schriftliche Beweis seiner Arbeit erschien 1923 in der sechsten Ausgabe seiner Zeitschrift Merz in Form einer Lautfolge, die später kaum verändert im Scherzo der Ursonate wieder auftaucht. 1926 war diese so weit zur Zufriedenheit Schwitters’ vollendet, dass sie hätte gedruckt werden können, aber Diskussionen über die Typographie verzögerten ihre Publikation.2 1932 endlich, über zehn Jahre nach ihrer Ursprungsidee, wurde die komplette Ursonate in Merz Nr. 24 veröffentlicht (Abb. 2). Anschließend reichte Schwitters noch zusätzliche Erklärungen nach, u.a. einen „Schlüssel zum Lesen von Lautgedichten“ und v.a. einen kommentierenden Essay mit dem Titel „Meine Sonate in Urlauten“.

„Die Sonate“, schreibt Schwitters im letztgenannten Text, „besteht aus 4 Sätzen, einer Einleitung, einem Schluß, und siebentens einer Kadenz im vierten Satz.“3 Über die damit postulierte musikalische Struktur wird später noch einiges zu sagen sein, zunächst soll jedoch das verwendete Lautmaterial der vier Teile vorgestellt werden, was angesichts des erheblichen Umfangs der Themen und Motive nur in Bezug auf den allgemeinen Charakter des jeweiligen Teils anhand von Beispielen erfolgen kann, um im Anschluss daran die wichtigsten Verfahren der Motiv- und Themenentwicklung zu erläutern. Dabei greifen wir, mit der gebotenen Vorsicht, auf die linguistischen Ansätze zur Lautsymbolik zurück, die im Wesentlichen drei Arten unterscheiden: Die physische Lautsymbolik artikuliert körperliche sowie emotionale Vorgänge und Zustände (z.B. Husten, Niesen, Schmerz- oder Angstlaute); die imitative Lautsymbolik ahmt Klänge oder Geräusche mit sprachlichen Mitteln nach (Onomatopoetik); die synästhetische Lautsymbolik verknüpft akustisch-sprachliche Äußerungen mit nichtakustischen Wahrnehmungen und deren Konnotationen (z.B. Verbindung des Lautes u mit der visuellen Wahrnehmung ‚dunkel‘ und der Konnotation ‚unheimlich‘).4


Abb. 2: Erste Seite von Kurt Schwitters’ Ursonate

Der erste Teil der Ursonate ist sehr vielseitig und verwendet ein umfangreiches Lautrepertoire. Quantitativ dominieren helle Vokale (oft Umlaute), Plosive und Frikative, was diesem Teil einen äußerst dynamischen, energischen und zugleich hellen bis schrill-aggressiven Charakter verleiht. Das zeigt sich bereits im ersten Thema „Fümms bö wö tää zää Uu, / pögiff, / kwii Ee“,5 das zunächst nur lange und kurze Umlaute beinhaltet, zu denen später der dunkle Vokal u sowie in den letzten drei Silben die hellen Vokale i und e hinzukommen; damit wird ein komplexer Eindruck von Ernst und Verspieltheit erweckt.6 Als Konsonanten benutzt Schwitters, wie bereits erwähnt, zum einen Plosive (b, t, ts, p und g) und zum anderen Frikative (f und w) sowie den Nasal m, die im Kontrast zueinander einen harten, plötzlichen Silbenanlaut und einen weicheren, allmählichen Silbenabschluss markieren.7 In der imitativen Lautsymbolik erinnert das „kwii Ee“ zudem an ein quiekendes bzw. quietschendes Geräusch. Das zweite Thema besteht aus den beiden Hälften „Dedesnn nn rrrrr, / li Ee“ (US 214)8 und „mpiff tillff too, / tillll“ mit dem fragenden Zusatz „Jüü Kaa?“ (ebd.). Es fügt dem Material des ersten den Nasal n hinzu, der durch Wiederholung intensiviert wird und in den aggressiven Trill-Laut (rr) übergeht. Dieser wird in der zweiten Hälfte durch den dominanten weichen Lateral l und den Frikativ f ausgeglichen. Im abschließenden, kürzesten Thema des ersten Teils „Rrummpff tillff toooo?“ (ebd.) taucht die physische Lautsymbolik des Grunzens („Rrummpff“) auf, die durch den dunklen Vokal u, den wiederholten Vibranten r und den Plosiv p in Verbindung mit dem Frikativ f synästhetisch eine bedrohlich-aggressive Vorstellung evoziert, welche durch das nachfolgende „tillff“ etwas besänftigt erscheint.

Der zweite Teil ist gegenüber dem ersten sehr homogen und getragen, was gut zur Bezeichnung „largo“ (it. ‚langsam, breit‘, US 227) passt, mit der er überschrieben ist. Schwitters erzeugt diesen Charakter v.a. durch die langgezogenen Vokale o und a, die er in jeder zweiten Zeile wiederholt. In der ersten Strophe sieht das wie folgt aus:


Abb. 3: Erste Strophe des zweiten Teils der Ursonate

Die zwischen die langen Vokale eingeschobenen Silben und Silbenkombinationen („bee“, „zee“, „Rinnzekete“ und „änn ze“ bzw. „enn ze“) sind fast vollständig aus dem ersten Teil übernommen und beinhalten als Kontrast zu dem langen o bzw. a die hellen Vokale e, i und ä; lautsymbolisch sind damit synästhetisch Gegensätze wie ‚schwer vs. leicht‘, ‚tief vs. hoch‘ und ‚dunkel vs. hell‘ verbunden.9 Als Konsonanten benutzt Schwitters hauptsächlich Plosive (b, t in Verbindung mit s, k) sowie den Vibranten r und markiert damit den vergleichsweise harten Beginn der Silben. Um den ruhigen, klagenden Grundcharakter des zweiten Teils aufrechtzuerhalten, fügt er längere Pausen zwischen den einzelnen Lautfolgen ein.

Im „Scherzo“ überschriebenen dritten Teil finden sich drei Abschnitte: zu Beginn eine fröhliche Passage, die am Schluss wiederholt wird, und dazwischen das von dunklen Vokalen und Diphtongen dominierte Trio. Das erste Scherzo-Thema „Lanke trr gll / pe pe pe pe pe / Ooka ooka ooka ooka / Lanke trr gll / pii pii pii pii pii / Züüka züüka züüka züüka“ (US 228) ist zunächst parallel aufgebaut und besitzt als imitative Lautsymbolik starke Anklänge an das Gezwitscher eines Vogels; dieser Eindruck wird durch die Vortragsanweisung „munter“ (ebd.) noch verstärkt.10 In der anfänglichen Lautfolge verwendet Schwitters kaum Vokale, dafür aber den Nasal n und den Lateral l, die dem Motiv einen weichen, runden Charakter geben; der Plosiv t und der Vibrant r erinnern an einen Triller. Die nächste Lautreihe imitiert das Piepsen eines Vogels durch kurze Silben mit dem Plosiv p und den Vokalen i oder e, die spitz und hell wirken und etwas Fröhliches, Schnelles implizieren.11 In der Schlusszeile der beiden Sequenzen benutzt Schwitters jeweils einen langen und einen kurzen Vokal im Wechsel; synästhetisch symbolisieren sie eine Spannung zwischen ‚zart‘ und ‚kräftig‘.12 Außerdem findet man die Lautverbindungen „Rrmmp“ und Rrnnf“ (ebd.), die durch fehlende Vokale mit dem ‚Vogelgezwitscher‘ kontrastieren. Der anfängliche Trill-Laut wirkt recht aggressiv, was durch die nachfolgenden weicheren Nasale m bzw. n wieder relativiert wird. Das abschließende p bzw. f erweckt den Eindruck, der Sprecher sei abgewürgt worden. Mit der Frage „Ziiuu lenn trll?“ (ebd.) wird die Vogelstimme wieder aufgegriffen, dazu passen die Dominanz der hellen Vokale, das z mit seinem Anklang ans Zwitschern und die Lautkombination trll, die auf ein Trillern anspielt. Die Antwort „Lümpff tümpff trll“ (ebd.) scheint von einem anderen Wesen zu kommen, hier herrschen die Plosive t und p sowie der Doppel-Frikativ ff vor. Das Thema des Trios dagegen besteht fast nur aus Vokalen: „Ziiuuu iiuu / ziiuu aauu / ziiuu iiuu / ziiuu Aaa“ bzw. „[…] Ooo“ (US 229). Durch deren Länge und den ständigen Wechsel zwischen ‚hell‘ und ‚dunkel‘ (i und u) klingt diese Sequenz wie eine Klage, verstärkt durch die Lautfolge „aauu“, die in der physischen Lautsymbolik ein Ausdruck von Schmerzen ist. Das abschließende „Aaa“ bzw. „Ooo“ wirkt dann eher schlicht.

 

Der vierte Teil knüpft mit seinen vier Themen, die zehn neue Motive einführen, an die Vielfalt des ersten an. Zu Beginn des ersten Motivs „Grimm glimm gnimm bimbimm“ (US 230) wird ein aggressiver Ton angeschlagen, der jedoch zunehmend abgeschwächt und in das Bimmeln einer kleinen Glocke überführt wird (imitative Lautsymbolik). Der durchgängig verwendete Vokal i gibt der Abfolge synästhetisch etwas Helles und Spitzes, der häufig auftretende Nasal m hingegen wirkt eher weich. Auch das zweite und dritte Motiv („Bumm bimbim bamm bimbim“ [ebd.] und „Bemm bemm“ [US 231]) ahmen durch die Konnotationen ‚groß‘ und ‚tief‘ der dunklen Vokale a und u sowie ‚klein‘ und ‚hoch‘ des hellen Vokals i Glocken unterschiedlicher Größe nach.13 Der Nasal m steht für ein anhaltendes Klingen der Glocke, während b als stimmhafter Plosiv den Anschlag verdeutlicht. In den Motiven „Tilla loola luula loola“ (ebd.) und „Tilla lalla tilla lalla“ (US 232) wird imitative Lautsymbolik verwendet, die an das Lallen von Kleinkindern erinnert; die häufige Benutzung des l-Lauts steht synästhetisch für ‚weich‘ und ‚rund‘.14 Ebenso imitativ rufen die Lautverbindungen in „Tatta tatta tuiEe tuiEe“ (US 231) mit ihren harten (wiederholter Plosiv t) und weicheren (Doppelvokal ui) Bestandteilen den Eindruck von Vogel- oder Tierlauten hervor, zu denen im Weiteren auch das Motiv „Graaaaa“ (US 234) gehört, das wie der Schrei eines Raubvogels klingt. Die wiederholte Lautfolge „EkeEke“ (US 236) fügt sich optimal in den Kontrast von weichen, lieblichen und harten, aggressiven Glocken-, Kinder- und Tierlauten, die den gesamten vierten Teil charakterisieren. Zu dieser Gestaltung in Gegensätzen15 passt auch das einzige neue Motiv der abschließenden Kadenz „Priimiititti tuutaatoo“ (US 239) mit seinem Übergang von ‚hohen‘ zu ‚tiefen‘ Vokalen, der mit einem Wechsel von kurzen zu langen Lauten verknüpft ist. Zum Abschluss seines Werkes wiederholt Schwitters das Alphabet rückwärts zweimal fragend bis zum „beee“ (US 242), nur das dritte Mal gelangt er bis zum „Aaaaa“ (ebd.), das Ende jedoch bleibt mit einem „schmerzlich“ vorzutragenden „beeee?“ (ebd.) offen.

Bei der Verarbeitung von Motiven verwendet Schwitters unterschiedliche Verfahren, die er auch kombiniert. Am deutlichsten sticht die Wiederholung heraus, die im gesamten Werk durchgehend auftaucht, wie bei „Fümms bö wö tää zää Uu“ (US 214) im ersten oder „Lanke trr gll“ (US 228) im dritten Teil. Zudem gibt es Reihungen, die bis zu acht Mal dasselbe Motiv beinhalten (z.B. im ersten Teil „rakete rinnzekete“ [US 215] und im vierten Teil „Grimm glimm gnimm bimbimm“ [US 230]). Häufig werden die Wiederholungen auch in Variationen überführt, bspw. „Ziiuu iiuu“ in „ziiuu aauu“ (US 229, dritter Teil) oder „Tilla loola luula loola“ in „Tilla luula loola luula“ (U 231, vierter Teil).16 In einigen Passagen ist die systematische Steigerung (Augmentation) eines Kernmotivs durch zusätzliche Lautverbindungen zu finden, die eine enorme Komplexität erreichen kann; so entsteht im ersten Teil aus der Silbe „bö“ über mehrere Stufen hinweg am Ende die Lautkette „fümmsböwötääzääUu pögiff“ (Abb. 4).


Abb. 4: Augmentation eines Kernmotivs im ersten Teil der Ursonate

Auch das gegenteilige Phänomen einer schrittweisen Motivreduktion (Diminution) kommt vor: „dll rrrrrr beeeee bö“ wird zu „bö“ (US 214), „Dedesnn nn rrrrrr“ zu „nn rrrrrr“ (US 219). Auf der Ebene der Themen erkennt man v.a. parallele und gegensätzliche Konstruktionen, die z.T. in satzartigen Verbindungen immer wieder in eine Art Gespräch treten. So antwortet auf das bereits erwähnte Glockenthema „Bumm bim bim bamm bimbim“ (US 230) ein knappes „Bemm bemm“ (US 231), das auch rhythmisch die Reihe abschließt. Im Scherzo des dritten Teils folgt auf die Frage „Ziiuu lenn trll?“ die Antwort „Lümpff tümpff trll“ (US 229).

Was ergibt sich nun aus all dem für die ästhetische Verfahrensweise der Ursonate? Die Antwort muss lauten: Sie kann, wie die Lautpoesie schlechthin, als metalinguistisches Gegenprojekt zur zeitgleich entstehenden modernen Linguistik und Semiotik angesehen werden,17 die die allgemeine Sprachauffassung bis heute prägt, und das in mindestens dreierlei Hinsicht: 1.) widerspricht sie dem von Saussure formulierten und bis heute für die Linguistik fundamentalen Postulat der Arbitrarität sprachlicher Zeichen, da es sich bei der Lautsymbolik durchweg um, wenn auch nicht natürliche, so doch motivierte Zeichen handelt.18 Die Lautpoesie im Allgemeinen und die Ursonate im Besonderen zeigen mehr als deutlich, dass die Beziehung zwischen sprachlichen Signifikanten und Signifikaten keineswegs willkürlich ist, sondern dass jeder Laut – auch wenn er nicht onomatopoetisch verwendet wird – einen unmittelbaren Interpretanten19 evoziert und dass dieser semiotische Vorgang unvermeidlich ist. Das widerspricht 2.) dem Grundsatz insbesondere der strukturalen Phonologie seit Trubetzkoy und Jakobson, dass Laute bzw. Phoneme zwar bedeutungsdifferenzierend, aber nicht bedeutungstragend sein können.20 Nimmt man diesen Grundsatz ernst, dann dürften sie eigentlich auch nicht als Signifikanten bezeichnet werden, da streng genommen nicht Signifikant sein kann, was nicht auch mindestens ein Signifikat besitzt. Dass sich die Linguistik diesbezüglich recht unklar äußert und etwa von Lauten als ‚unechten sprachlichen Zeichen‘ redet, bei denen es sich nicht um „Vollzeichen“ handelt,21 weist darauf hin, dass hier ein ungelöstes Problem liegt, das aus Sicht der Lautpoesie nur in Richtung auf eine totale Ausweitung des Signifikantenfeldes auf sämtliche sprachlichen Erscheinungen (und darüber hinaus auf das gesamte Feld kultureller Produktion) zu lösen ist. Daraus ergibt sich schließlich 3.) ein Pansemantismus, der insbesondere der neostrukturalistischen Privilegierung des Signifikanten im Sinne Lacans und Derridas widerspricht, die davon ausgehen, dass – wie es Derrida im „programme“ seiner Grammatologie formuliert – letztlich jedes Signifikat nichts anderes als ein Signifikant für ein neues Signifikat ist, das wiederum zum Signifikanten wird und so einen Prozess unendlicher Semiose in Gang hält22 bzw. dass, mit Lacan, die Sprache eine durchaus stabile Signifikantenkette bildet, unter der der Sinn (also die Signifikate) beständig gleitet.23 Die Lautpoesie und mit ihr Schwitters’ Ursonate weisen stattdessen darauf hin, dass diese Nachträglichkeit eines stets aufgeschobenen Sinns so nicht existiert, sondern dass vielmehr jede sprachliche Produktivität in einem Feld von Sinnhaftigkeit operiert, das sie beeinflusst und verändert, das jedoch – im Sinne der Phänomenologie – im Zeichenprozess nicht erzeugt wird, sondern bereits gegeben ist.24 Man kann also innerhalb der Semiosphäre (um einen Begriff Jurij Lotmans zu verwenden)25 gar nicht nicht bedeuten!

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